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Dieser Beitrag ist Teil von Schuldenbremse: Schätzmethode des Produktionspotenzials auf dem Prüfstand

Das Produktionspotenzial ist ein Maß für die längerfristigen Produktionsmöglichkeiten einer Volkswirtschaft. Da diese Größe nicht direkt beobachtet werden kann, muss sie auf der Basis von Annahmen aus vorhandenen Daten bestimmt werden. In dem EU-Verfahren zur Berechnung des Produktionspotenzials wurde die Verwendung einer Produktionsfunktion festgelegt. Diese hat gegenüber rein statistischen Verfahren den Vorteil, dass sich die Ergebnisse anhand von ökonomischen Plausibilitätsüberlegungen nachvollziehen lassen. Zudem wird in der Beschreibung dieser Methode betont, dass ein ökonomisch fundiertes Verfahren die Möglichkeit bietet, Prognosen zu erstellen und Szenarien durchzurechnen (Havik et al., 2014).

Zur Bestimmung des Produktionspotenzials ist es wichtig, alle Treiber des Wirtschaftswachstums zu erfassen. In dem aktuellen EU-Verfahren wird die totale Faktorproduktivität (TFP), die als Maß des technischen Fortschritts interpretiert wird, als exogen angenommen. Damit werden zentrale Einflussfaktoren des Wirtschaftswachstums, insbesondere die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten (FuE-Aktivitäten) nicht explizit berücksichtigt. Die Bedeutung von FuE-Aktivitäten wurde allerdings von vielen Studien (z. B. Bloom et al., 2020) als Treiber des Wirtschaftswachstums betont.

Ansatz der EU-Kommission berücksichtigt Forschung und Entwicklung nicht explizit

Das aktuelle Verfahren zur Berechnung des Produktionspotenzials basiert auf einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion, in die Arbeit und Kapital sowie die TFP als Faktoren einfließen (Havik et al., 2014). Die ersten beiden Faktoren sind in diesem Verfahren endogen, d. h. sie werden entsprechend der ökonomischen Theorie mithilfe weiterer Variablen erklärt. Dabei ist die Modellierung des Kapitalstocks recht einfach. Entsprechend der sogenannten Perpetual-Inventory-Methode wird der Kapitalstock heute durch den Kapitalstock der Vorperiode, die Abschreibungen auf Kapital sowie die Investitionen erklärt. Die Investitionen wiederum werden mithilfe des Verhältnisses der Investitionen zum Produktionspotenzial fortgeschrieben. Die Modellierung des Arbeitsvolumens ist detaillierter. Neben der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter werden die Partizipationsraten der Erwerbstätigen sowie die strukturelle Arbeitslosigkeit berücksichtigt, die wiederum im Rahmen des Verfahrens geschätzt wird.

In die Prognose dieser Variablen fließen für die ersten zwei Jahre die Ergebnisse aus separat erstellten Konjunkturprognosen ein. Für die folgenden Jahre der mittleren Frist kommen Zeitreihenverfahren für die Fortschreibung der Variablen zum Einsatz. Eine Ausnahme ist die Projektion der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, die von den Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamts übernommen wird.

Im Unterschied dazu ist die TFP entsprechend der klassischen Wachstumstheorie exogen. Die Fortschreibung dieser Größe erfolgt mithilfe eines Zeitreihenverfahrens, in dem eine Variable für die Kapazitätsauslastung eingefügt wird, um die Konjunkturschwankungen herauszurechnen (Havik et al., 2014).

Ansätze zur Berücksichtigung der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in der Potenzialschätzung

Im Rahmen des Produktionsfunktionsansatzes zur Schätzung des Produktionspotenzials bieten sich grundsätzlich zwei Möglichkeiten an, um FuE-Aktivitäten zu berücksichtigen. Der erste Ansatz besteht darin, die Produktionsfunktion um eine Einflussgröße zu ergänzen, die die FuE-Aktivitäten widerspiegelt (Hall et al., 2010). Dazu muss ein FuE-Kapitalstock ermittelt werden. Der Vorgehensweise der Berechnung des physischen Kapitalstocks folgend wird der Stand des technischen Wissens einer Periode aus dem Stand der Vorperiode, der Abschreibungsrate für den Wissenstand und die FuE-Aktivitäten für die Menge des neu geschaffenen Wissens berechnet.

Als Maß für die FuE-Aktivitäten werden in der Regel die Ausgaben für Forschung und Entwicklung verwendet. Das Statistische Bundesamt weist zudem jährliche Daten für die Investitionen in Forschung und Entwicklung aus, die ebenfalls für diese Berechnungen verwendet werden können. Die Abschreibungsrate für Wissen muss empirisch geschätzt werden. In einer Studie von Hall (2005) ergeben sich Werte, die je nach Branche von 15 % im Bereich Pharmazie und 36 % im Bereich elektronische Produkte liegen. Insgesamt ergibt sich in dieser Studie im Durchschnitt eine Abschreibungsrate von 27 % pro Jahr. Um einen Anfangsbestand für den Bestand an Wissen zu erhalten, werden in einer Periode die Ausgaben für Forschung und Entwicklung durch die Abschreibungsrate geteilt.

Die zweite Methode besteht darin, die Entwicklung der TFP durch zusätzliche Variablen zu erklären. Modelle der endogenen Wachstumstheorie bieten Ansatzpunkte für eine solche Endogenisierung der TFP. Als erklärende Variablen werden dabei ebenfalls die FuE-Aktivtäten oder die Bildung von Humankapital verwendet. Comin und Gertler (2006) haben in einem Konjunkturmodell die TFP endogenisiert, indem sie einen FuE-Sektor eingeführt haben. Darin wird ein Teil der Produktion eingesetzt, um Innovationen zu entwickeln und daraus marktfähige Produkte zu generieren. Durch diesen Mechanismus erzeugen konjunkturelle Schocks kurz- und mittelfristige Schwankungen in der Produktion. Dieser Zusammenhang ist für die Schätzung des Produktionspotenzials in der mittleren Frist von besonderem Interesse.

Dieser Ansatz kann bei der Potenzialschätzung im Rahmen des EU-Verfahrens berücksichtigt werden, indem der derzeit verwendete Fortschreibungsansatz um eine Variable der FuE-Aktivität erweitert wird. Empirische Studien weisen darauf hin, dass es einige Jahre dauert, bis Ausgaben für Forschungsprojekte zu Effekten auf die TFP führen (Hall et al., 2010). Die Spannen für die Verzögerungen, die in den empirischen Studien gefunden werden, sind aber sehr groß. Die genaue Zeitverzögerung müsste aus den verwendeten Daten geschätzt werden.

Berücksichtigung der klimapolitischen Transformation der Wirtschaft

Die aktuelle Gaskrise zeigt deutlich, dass Energie ein wichtiger Produktionsfaktor ist. In den vergangenen Jahren wurde er in vielen Produktionsfunktionen allerdings nicht mehr explizit berücksichtigt, weil die Versorgungssicherheit gewährleistet war. Da sich Energie im Zuge der Transformation der Energieerzeugung als begrenzender Faktor erweisen könnte, ist es sinnvoll, Energie wieder als Faktor in die Produktionsfunktion aufzunehmen (Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose, 2022a). Simulationen in der Gemeinschaftsdiagnose zeigen, dass in den kommenden Jahren ein Anstieg des energiesparenden technischen Fortschritts notwendig sein dürfte, um die Klimaziele der Bundesregierung zu erreichen. Die Anstiege entsprechen in etwa denen, die nach den Ölpreiskrisen in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre zu beobachten waren. Eine Vernachlässigung solcher Veränderungen des energiesparenden technischen Fortschritts würde zu einer Unterschätzung des Produktionspotenzials führen.

Die notwendigen Informationen für eine Berücksichtigung der Energie als Produktionsfaktor liegen vor.1 Als Energieeinsatz können Daten der Internationalen Energieagentur verwendet werden. Die Substitutionselastizität ist in verschiedenen Studien geschätzt worden. In die Ermittlung des energiesparenden technischen Fortschritts fließen zudem die Einfuhrpreise des Statistischen Bundesamts ein. Zur Bestimmung der mittelfristigen Entwicklung müssten die Veränderungen des Energieeinsatzes und des energiesparenden technischen Fortschritts allerdings prognostiziert werden. Dies ist mit Prognosefehlern verbunden, die deutlich größer sein dürften als bei der Prognose der demografischen Entwicklung, die durch die bestehenden Kohorten einfach fortgeschrieben werden kann.

Diskretionäre Spielräume begrenzen

Die Verwendung des Produktionsfunktionsansatzes zur Schätzung des Produktionspotenzials erlaubt eine gewisse Flexibilität, um relevante gesamtwirtschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen. Der Ansatz dient gleichzeitig dazu, diskretionäre Spielräume bei der Operationalisierung der Verschuldungsregeln zu begrenzen. Aus diesem Grund sollte die Berechnung des Produktionspotenzials die folgenden Regeln erfüllen:

  • Einfachheit: Die Regel sollte für die Entscheidungstragenden und die Öffentlichkeit leicht verständlich sein.
  • Operative Anleitung: Es sollte möglich sein, die Regel in klare Leitlinien für die Berechnung des Produktionspotenzials umzusetzen.
  • Widerstandsfähigkeit: Eine Regel sollte über einen längeren Zeitraum gelten, um Glaubwürdigkeit zu schaffen, und sie sollte nach einem Schock nicht einfach aufgegeben werden können.
  • Leichte Überwachung und Durchsetzung: Die Einhaltung der Regel sollte leicht überprüfbar sein, und bei Abweichungen von den Zielvorgaben sollten Kosten anfallen.

Die Beurteilung der Potenzialschätzung anhand dieser Kriterien würde sich durch die vorgeschlagene Modifikation kaum ändern. Die Methode ist zwar nach wie vor nicht als einfach einzuschätzen. Durch die Veröffentlichung der Programme, mit denen die Berechnung des Produktionspotenzials durchgeführt werden kann, ist die Methode aber zumindest transparent. Die vorgeschlagene Erweiterung des Ansatzes um erklärende Variablen der TFP lässt sich aus Modellen des endogenen Wachstums ableiten, daher besteht weiterhin eine operative Anleitung des Vorgehens. Auch die Kriterien Widerstandsfähigkeit und leichte Überwachung und Durchsetzung werden von der Modifikation nicht beeinflusst.

Problematisch wäre lediglich, wenn man bei der Fortschreibung der genannten erklärenden Variablen von den üblichen reinen Zeitreihenverfahren abweichen würde. Würden die FuE-Ausgaben mithilfe weiterer Variablen prognostiziert, käme es zu einer deutlichen Abweichung vom bisherigen Vorgehen, da sich die diskretionären Spielräume zwangsläufig erhöhen würden. Sie könnten aber begrenzt werden, indem man die neuen Variablen durch formalisierte Verfahren fortschreibt. Eine weitere Möglichkeit, die Unverzerrtheit der mittelfristigen Fortschreibung des Produktionspotenzials zu gewährleisten, ist die Einbindung dieses Prozesses in das Begutachtungsverfahren durch die Gemeinschaftsdiagnose. Dazu müssten zusätzliche Variablen in das Prognoseprogramm aufgenommen werden.

Schlussfolgerungen

FuE-Aktivitäten sind ein wichtiger Treiber des Wirtschaftswachstums und dürften auch bei der Transformation der Wirtschaft zur Erreichung der Klimaziele eine große Bedeutung haben. Sie sollten daher explizit bei der Berechnung des Produktionspotenzials berücksichtigt werden. Dazu sollten bei der Fortschreibung der TFP die FuE-Aktivitäten berücksichtigt werden. Eine solche Erweiterung des Produktionsfunktionsansatzes kann aus der Theorie des endogenen Wachstums abgeleitet werden. Die Daten, die dafür notwendig sind, werden im Rahmen der jährlichen VGR bereitgestellt. Damit ließe sich die theoretische Fundierung der Potenzialschätzung verbessern und die zukünftige Entwicklung eines Teils der TFP plausibler ableiten.

  • 1 Eine detaillierte Beschreibung der Daten und Vorgehensweise findet sich in Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2022b).

Literatur

Bloom, N., C. I. Jones, J. Van Reenen und M. Webb (2020), Are Ideas Getting Harder to Find?, American Economic Review, 110(4), 1104-144.

Comin, D. und M. Gertler (2006), Medium-Term Business Cycles, American Economic Review, 96(3), 523-551.

Havik, K., K. Mc Morrow, F. Orlandi, C. Planas, R. Raciborski, W. Roeger, A. Rossi, A. Thum-Thysen und V. Vandermeulen (2014), The Production Function Methodology for Calculating Potential Growth Rates & Output Gaps, European Economy, Economic Papers, 535.

Hall, B. H. (2005), Measuring the Returns to R&D: the Depreciation Problem, Annales d‘Economie et de Statistique, ENSAE, 79-80, 341-381.

Hall B. H., J. Mairesse und P. Mohnen (2010), Chapter 24 – Measuring the Returns to R&D, in B. H. Hall und N. Rosenberg (Hrsg.), Handbook of the Economics of Innovation, North-Holland, 2, 1033-1082.

Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2022a), Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2022: Von der Pandemie zur Energiekrise – Wirtschaft und Politik im Dauerstress.

Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2022b), Klimaschutz ohne Produktionseinbußen: Die Rolle energiesparenden technischen Fortschritts – Hintergrundpapier zur Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2022.

Title:Consider Research and Development Activities in the Potential Assessment

Abstract:Potential output is a measure of the longer-term production possibilities of an economy. Since this quantity cannot be observed directly, it must be determined on the basis of assumptions from existing data. The use of a production function was established in the European Commission’s procedure for calculating potential output. However, it is important to capture all drivers of economic growth. In the current EU procedure, total factor productivity (TFP), which is interpreted as a measure of technological progress, is assumed to be exogenous. This means that key drivers of economic growth, in particular research and development (R&D) activities, are not explicitly taken into account. An extension of the production function approach can be derived from the theory of endogenous growth. This would improve the theoretical basis of the potential output estimates.

© Der/die Autor:in 2022

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.1007/s10273-022-3327-9