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Die Weltläufe sind unruhig und gefährlich unabsehbar. Da spielt die deutsche Rentenpolitik in der Öffentlichkeit – zu Recht – keine große Rolle. Nachdem die letzte Bundesregierung für langjährige Versicherte eine Grundrente eingeführt hat, die jetzt wirksam wird, und die jetzige Bundesregierung sich vorgenommen hat, das Rentenniveau nicht zu senken, gibt es für die Rentner:innen auch keinen akuten Grund sich mehr Sorgen als zuvor zu machen. Aber die Auswirkungen der demografischen Alterung, die etwa ab 2025 stark spürbar werden, wenn immer mehr Babyboomer in Rente gehen, werden nicht von selbst verschwinden. Auch unerwartet viele gut integrierte Zuwanderer werden nichts grundsätzlich daran ändern. Insofern ist es hochinteressant, dass der Sozialbeirat der Bundesregierung in seinem aktuellen Jahresgutachten eine vorsichtige Andeutung für einen von vielen als tabu erklärten Lösungsweg gemacht hat: eine Abkehr vom Äquivalenzprinzip der Rentenversicherung. Die absehbaren Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Rentenversicherung (und der Beamtenversorgung) werden zu einer Diskussion führen, die Altersgrenze nach 2031 (solange steigt die Altersgrenze bis auf 67 Jahre) noch weiter anzuheben. Damit wird das speziell von den Gewerkschaften immer wieder zu Recht genannte Problem virulent werden, dass es schon heute viele Versicherte nicht schaffen bis zur Altersgrenze erwerbstätig zu bleiben – meist aus gesundheitlichen Gründen. Jede weitere Erhöhung der Altersgrenze führt faktisch zu einer relativen Rentenkürzung für vorzeitig in Erwerbsminderungsrente gehende Versicherte. Dass ein (ungewollter) frühzeitiger Rentenbeginn zu Absicherungsproblemen führt, ist nicht zwangsläufig, sondern speziell der Tatsache geschuldet, dass in Deutschland ein eng ausgelegtes Äquivalenzprinzip so hoch gehalten wird wie fast nirgendwo sonst auf der Welt. Danach hängt die monatliche Rentenhöhe primär davon ab, wie lange und wie viel man eingezahlt hat.

Anlässlich einer im Jahresgutachten 2022 geführten Diskussion der Möglichkeiten (und Grenzen) der Kapitaldeckung in der Altersversorgung stellt der Sozialbeirat – eher beiläufig, aber deutlich und einstimmig – fest: „Sollte es zu einer Stärkung der kapitalgedeckten Vorsorge zu Lasten der umlagefinanzierten [gesetzlichen] Rentenversicherung kommen, müsste geprüft werden, wie durch zielgenaue Maßnahmen eine bessere Absicherung geringer Einkommen erreicht werden kann.“ Denn „der soziale Ausgleich (z. B. bei Ausbildung, Kindererziehung, Pflege, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Niedrigeinkommen) [fehlt] in der zweiten und dritten Säule meist … oder [ist] zumindest begrenzt ... Abgedeckt wird häufig nur das biometrische Risiko der Langlebigkeit. Besonders problematisch kann sich dies im Falle einer Erwerbsminderung auswirken. Eine entsprechende Verschiebung hat zudem geschlechterdifferente Auswirkungen, insofern vor allem Frauen auf die besonderen Ausgleichsmechanismen in der umlagefinanzierten ersten Säule der GRV angewiesen sind.“ Mit dieser Feststellung wirft der Sozialbeirat das Äquivalenzprinzip nicht über Bord, aber implizit wird klar, dass eine staatlich organisierte Altersvorsorge mehr sein muss als eine Kapital sammelnde Sparkasse. Und es ist sicherlich kontrovers, wie sozialer Ausgleich jenseits des Äquivalenzprinzips konkret aussehen soll (Klammer und Wagner, 2020). Aber die Auseinandersetzung des Beirats mit der Kapitaldeckung und deren Abgrenzung von der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung hat nun klar herausgearbeitet, was die gesetzliche Rentenversicherung im Kern ausmacht: nicht rechnerische Äquivalenz von Beiträgen und monatlichen Renten, sondern Umverteilung!

Man darf gespannt sein, wie sich die Diskussion entwickelt, wenn die Babyboomer demnächst in großer Zahl in Rente gehen und die Finanzierung der gesetzlichen Renten schwieriger wird. Das nicht nur aus meiner persönlichen Sicht wirksamste Instrument, die weitere Anhebung der Altersgrenze nach 2030, wird aber aus nachvollziehbaren verteilungspolitischen Gründen von den Gewerkschaften und der jetzigen Bundesregierung ausgeschlossen, da gesundheitlich angeschlagene Beschäftigte oft auch niedrige Rentenanwartschaften haben. Würde man niedrige bis mittlere Rentenanwartschaften relativ höher bewerten als hohe, würde auch ein vorzeitiger Rentenzugang bei Erwerbsminderung und eine Nutzung der flexiblen Altersgrenze zu auskömmlichen Renten führen können. Wenn man das Äquivalenzprinzip retten will, könnte man sogar argumentieren, dass das aufgrund der niedrigeren Lebenserwartung und Rentenlaufzeit vieler Betroffener versicherungsmathematisch fair sei. Auch eine von der letzten Rentenkommission diskutierte denkbare Umstellung der Rentenanpassung von Lohnbezogenheit zu einem Inflationsausgleich würde kürzer Lebende weniger treffen als länger Lebende, die oft auch noch eine betriebliche Rente erhalten.

Literatur

Klammer, U. und G. G. Wagner (2020), Grundrentenplan der großen Koalition, Wirtschaftsdienst, 100(1), 29-34, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/1/beitrag/grundrentenplan-der-grossen-koalition.html (1. Dezember 2022).

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© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3331-0