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In der politischen Debatte um die richtige Reaktion des Westens auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine steht neben den bereits beschlossenen Sanktionen ein sofortiges Gasembargo als Mittel im Raum, um den wirtschaftspolitischen Druck auf Russland zu erhöhen. Hier ist insbesondere ökonomische Expertise nötig, um die Politik in dieser Entscheidung zu beraten und die möglichen Kosten und Risiken für Deutschland transparent zu machen. Dabei sind die unvermeidlich zu setzenden subjektiven Werturteile offenzulegen. Auch muss differenziert über die Grenzen makroökonomischer Modelle gesprochen werden.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat hinsichtlich Schnelligkeit, Intensität und Umfang historisch einmalige Sanktionen durch die westliche Staatengemeinschaft zur Folge gehabt. Vor allem geht es darum, diesen Verstoß gegen das Völkerrecht und die damit verbundenen Kriegsverbrechen nicht tatenlos hinzunehmen. Eine starke wirtschaftliche Schwächung soll die militärischen Fähigkeiten des Aggressors mindern und damit zu einem Ende der Kampfhandlungen beitragen.

Der andauernde Krieg und das menschliche Leid in der Ukraine drängen die politischen Akteure in Europa jedoch, mehr zu tun. Nach einer Verschärfung der auf den Finanzmarkt gerichteten Sanktionen wird vor allem über ein Embargo bei den Energieimporten gestritten. Daran haben sich Ökonom:innen mit verschiedenen Studien beteiligt, auch die Leopoldina (2022) hat eine Stellungnahme beigesteuert (Frondel und Schmidt, 2022). Erstaunlich war der darüber ausgebrochene Disput, in dem die Grenzen der sachlichen Auseinandersetzung bisweilen weit überschritten wurden. Deshalb erscheint es sinnvoll, auch als Lehrstück öffentlicher Ökonomik, dazu einige Sortierungen der Argumente vorzunehmen.

Grundsätzlich haben Ökonom:innen eine Bringschuld gegenüber der Politik und ebenso gegenüber der Gesellschaft, indem sie ihre Erkenntnisse verständlich, nachvollziehbar und transparent vermitteln. Dabei – so Herbert Giersch – ist allerdings darauf zu achten, die unvermeidlich zu setzenden Annahmen und Werturteile kenntlich zu machen, denn: „Auf dem Weg von der Analyse zur politischen Schlussfolgerung gibt es ein methodologisches Hindernis. Es ist das Problem des subjektiven Werturteils“ (Giersch, 2006, 31). Unter diesem Gesichtspunkt sollen wichtige Sachzusammenhänge beleuchtet werden.

Energieversorgung bei einem Gasembargo

Im Jahr 2020 stammten 45 % der deutschen Steinkohleimporte, 34 % der deutschen Rohölimporte und 55 % der deutschen Erdgasimporte aus Russland, für das der Mineralölexport mit 35 % der wichtigste Posten der Ausfuhr ist, mit deutlichem Abstand folgt Erdgas (knapp 15 % Exportanteil). Die Angebotsflexibilität ist bei Steinkohle am höchsten, bei Rohöl ähnlich, sieht man von den leitungsgebundenen Lieferungen (Druschba-Pipeline) sowie der davon abhängigen Erdölverarbeitung in Schwedt und in Leuna ab. Tatsächlich sind die Anstrengungen der Politik und der Energieversorger vorangekommen, sodass der russische Anteil bei Kohle „in den nächsten Wochen auf rund 25 Prozent“ sinken kann, bei Rohöl ebenfalls „absehbar auf 25 Prozent“ (BMWK, 2022, 3). Damit erscheint auf Jahressicht eine weitgehende Unabhängigkeit von russischer Steinkohle und russischem Rohöl plausibel.

Bei Gas ist die Lage wegen der leitungsgebundenen Infrastruktur kompliziert. Zwar fiel der russische Anteil an den Gasimporten durch größere Liefermengen aus den Niederlanden und Norwegen sowie durch LNG-Bezug zuletzt auf 40 % (BMWK, 2022, 4). Damit dürfte aber die kurzfristig mögliche Substitution weitgehend ausgeschöpft sein, da die nicht russischen Lieferanten durch die Produktionskapazitäten respektive die notwendige Infrastruktur (LNG-Terminals und Transportkapazitäten) kurz- bis mittelfristig limitiert sind (McWilliams et al., 2022).

Die Produktions- und Transportkapazitäten für LNG-Gas hochzufahren, wie nun in der Energiepartnerschaft zwischen den USA und der EU vereinbart, benötigt einen Vorlauf von Jahren, setzt die Bereitschaft zu langfristigen Verträgen voraus und verlangt damit das definitive Ende deutscher Gasimporte aus Russland. Dabei ist zu beachten, dass nicht nur Deutschland seine Gasimporte aus Russland substituieren will – dieses Vorhaben trifft auch für andere Volkswirtschaften in Europa zu.

Eine besondere Restriktion bei der Gasversorgung ergibt sich durch die Verwendungsstruktur und die bei Lieferausfällen zu beachtenden gesetzlichen sowie vertraglichen Regelungen. Im Fall eines Engpasses greifen zunächst Marktmechanismen, bevor die Bundesnetzagentur als Bundeslastverteilerin die Mengenrationierung übernimmt und über Abschaltungen entscheidet. In der Stromerzeugung wird Gas überwiegend in der Kraft-Wärme-Kopplung eingesetzt; bei der so gekoppelten Stromerzeugung betragen die Substitutionspotenziale 30 %, bei der ungekoppelten Stromerzeugung hingegen liegen sie bei 100 % (BDEW, 2022, 6 ff.). Bei umfangreichem Mengen­ausfall sind vor allem in der Industrie, die rund 37 % des insgesamt verfügbaren Gasvolumens benötigt, Abschaltungen vorzunehmen. Die privaten Haushalte haben einen Anteil von 45 % und sind zusammen mit den sozialen Diensten am besten geschützt.

Zu beachten ist auch, dass ein Teil des Erdgases, das Deutschland aus Russland bezieht, an andere Länder weitergeleitet wird (über 47 % der deutschen Gasimporte). Im Falle eines Gasembargos müsste Deutschland zugleich die Gaslieferungen an andere Länder senken, allerdings ist unklar um wie viel, denn in diesen Ländern muss ebenfalls die Gasversorgung der geschützten Verbraucher:innen gewährleistet bleiben. Aus all dem folgt plausibel, dass „die schrittweise Reduktion von russischem Gas auf nur noch 10 % des Gasverbrauchs bis Sommer 2024 möglich“ ist (BMWK, 2022, 4). Anders gewendet: Mindestens zwei Jahre werden für die Umstellung auf andere Gasimporte (vor allem LNG) benötigt.

Substitutionsmöglichkeiten in der Industrie

Für die Frage nach der Durchwirkung eines Gasembargos ist die Bedeutung von Gas für die industrielle Stromproduktion und für die Erzeugung von Prozesswärme mit hohen Temperaturen (so vor allem in der Grundchemie) zu beachten. Das Einsparpotenzial und damit das Flexibilitätspotenzial liegt kurzfristig in der gesamten Industrie bei knapp 8 % (BDEW, 2022). Angesichts der seit Mitte 2021 angestiegenen Energiepreise dürften die schnell verfügbaren Optionen für eine Substitution und Reduktion von Gas bereits zu einem guten Teil ausgeschöpft sein.

Bei einem abrupten Gasembargo – also dem sofortigen und vollständigen Verzicht auf russisches Gas – käme es bei den industriellen Sektoren jenseits der Einsparmöglichkeiten zu einem Produktionsstillstand. Das durchschnittliche Substitutionspotenzial für die Industrie auf kurze bis mittlere Frist verdeckt zwar die erheblichen Unterschiede, doch in der Grundstoffindustrie wäre durchweg mit einem Stillstand zu rechnen, also einem umfassenden Shutdown (vgl. Tabelle 1). Da die Anpassungsflexibilität vor allem an der Herstellung von Prozesswärme hängt, ist diese allein wegen der Größe und Qualität der Investitionen in z. B. strombasierte Technologien und deren Vernetzung mit der Produktion keine kurzfristig zu bewältigende Aufgabe. In der Grundstoffindustrie wird Erdgas zudem stofflich genutzt, z. B. zur Herstellung von Alkenen als Vorprodukte organischer Chemikalien, aus denen sich die Kette bis zu Kunststoffen, Farben, Lacken, Wasch- und Reinigungsmittel zieht. Düngemittel werden in der Agrochemie mit Hilfe von Gas hergestellt; die hohen Gaspreise haben die Preise für Düngemittel enorm steigen lassen, was die globale Nahrungsmittelknappheit weiter verschärfen dürfte. Der nicht energetische Einsatz von Gas in der Industrie erreicht etwa 11 % des gesamten industriellen Erdgasverbrauchs. Welche Substitutionsmöglichkeiten in den einzelnen Branchen bestehen, hängt somit stark von den spezifischen Produktionsketten, den relevanten Investitionssummen sowie Investitionszyklen und den globalen Standortoptionen ab.

Tabelle 1
Industrieller Gasverbrauch nach Branchen
Ausgewählte Branchen Endenergie­verbrauch Erdgas (Terajoule)
(ohne nicht energetischen Verbrauch)
Substitutions­potenzial durch elektrischen Strom/ÖI /EE (bis Herbst/Winter 2022) Beschäftigung (2021)
Insgesamt davon Prozess­wärme Terajoule % in 1.000
Grundstoff­chemie 201.593 192.017 8.139 4 176,6
Ernährung/Tabak 118.115 102.999 15.563 13,2 533,2
Papier­gewerbe 73.543 70.359 1.877 2,6 119,1
Metall­erzeugung 63.839 57.708 7.955 12,5 224,5
Glas und Keramik 59.651 56.770 4.548 7,6 80,9
Verarbeitung Steine und Erden 43.857 40.580 3.799 8,7 10,7
Metall­bearbeitung 41.543 21.642 4.465 10,7 511
Fahrzeugbau 35.164 16.586 3.147 8,9 922,4
Maschinen­bau 22.368 2.848 2.764 12,4 935,9
Branchen gesamt   3.337,70
Industrie gesamt1 793.420 665.061 62.818 7,9 5.480,00

1 Verarbeitendes Gewerbe, Bergbau, Gewinnung Steine und Erden.

Quellen: BDEW (2022, 16); Statistisches Bundesamt; eigene Berechnungen.

Die Studie von Steinbuks (2012) arbeitet mit Daten über den jährlichen Primärenergieverbrauch der zwölf energieintensivsten Industrien in Großbritannien aus den Jahren 1990 bis 2005. Steinbuks analysiert Preiselastizitäten und Kreuzpreiselastizitäten der Nachfrage und stellt erwartbar fest, dass steigende Preise von stärker CO2-verursachenden fossilen Energien die Substitution durch weniger CO2-auslösende Energieträger wie Gas begünstigen. Die darauf beruhende Setzung von Bachmann et al. (2022) für die Substitutionselastizität auf 0,1 („below the range estimated in the literature (e. g. Steinbuks, 2010, estimates an elasticity of 0,16 to 0,5)“ ist arbiträr. Zwar behaupten die Autoren, sie seien damit auf der sicheren Seite. Doch könnte ebenso erwartet werden, dass beim Ausfall (nicht nur deutscher) Produktion, eine kurzfristige Umstellung der Kundschaft, wenn überhaupt, so nur sehr eingeschränkt möglich ist, jedenfalls weniger als bei marginalen Änderungen in der Vergangenheit.

Ein Gasembargo, welches abrupt das Angebot so reduziert, dass infolge der Regulierung Industrien komplett darauf verzichten müssen, hat für die nicht mehr versorgten Unternehmen gerade keine Preiswirkung. Denn im Moment des Embargos ist für diese die verfügbare Menge null und – jedenfalls kurzfristig (mindestens zwei Jahre) wegen der Leitungsgebundenheit und der infrastrukturell sowie kapazitätsseitig bedingten Rigiditäten des sonstigen Angebots – durch keinen noch so hohen Preis zu korrigieren. Da keine Anpassungszeit bleibt, in der höhere Preise hingenommen werden, ist der Produktionsstillstand unvermeidbar. Bei der Übertragung von Daten aus anderen Volkswirtschaften – wie mit der Studie von Steinbuks – muss ein Blick auf die strukturellen Unterschiede und Besonderheiten gelenkt werden. Das Verarbeitende Gewerbe steht aktuell in Deutschland für gut ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts, in Großbritannien für rund die Hälfte davon. Während in Deutschland durch die enge Vernetzung der Industrie mit Dienstleistungen dort durch die Nettonachfrage der Industrie fast ein weiteres Zehntel des BIP erwirtschaftet wird, ist dieser Verbundeffekt (joint production) in Großbritannien gleich null1. Daraus folgt, dass andere intersektorale Abhängigkeiten bestehen, ein Einbruch industrieller Wertschöpfung hierzulande per se größere Ausstrahleffekte und volkswirtschaftliche Folgen hat als in Großbritannien.

Betroffenheit der privaten Haushalte

In der Makrostudie (Bachmann et al., 2022) wird entsprechend den regulatorischen Bedingungen in Deutschland angenommen, dass die Haushalte nicht von Versorgungseinschränkung für die Hauswärme betroffen sein werden. Die Effekte einer konjunkturellen Verstärkung sind mit dem realen Modell nicht modellierbar, es wird unterstellt, dass Geld- und Fiskalpolitik alle weiteren rezessiven Belastungen ausgleichen. So wird auch in anderen modellbasierten Studien abgeleitet, die Fiskalpolitik könne den Abschwung dämpfen (Bayer et al., 2022). Grundsätzlich lassen sich die Wirkungen erhöhter Kraftstoff- und Energiepreise auf die verfügbaren Einkommen transferpolitisch und steuerpolitisch adressieren, so wie die Bundesregierung das mit ihrem Maßnahmenpaket vom 23. März 2022 getan hat.

Die eigentliche Belastung der privaten Haushalte ergibt sich aus den Beschäftigungswirkungen eines Produktionsstillstands und den daraus folgenden Effekten in den abhängigen Branchen. Zunächst wären die Arbeitsplätze in den energieintensiven Sektoren bedroht, die nur begrenzte Möglichkeiten haben, bei einem Gasembargo auszuweichen. Der Stillstand der Produktion würde in einer ersten Welle zu einem Anstieg der Kurzarbeit führen. Bei längerem Stillstand stellt sich die Frage, ob sich Produktion und Beschäftigung am Standort Deutschland überhaupt noch rechnen. Daraus ergeben sich Beschäftigungswirkungen für die in der Wertschöpfungskette nachfolgenden Branchen.

Die von Bachmann et al. (2022) gewählte Methode lässt Arbeitsmarkteffekte nicht analysieren, langfristige Folgen eines Gasembargos nicht betrachten; das Modell ist statisch bzw. „hat nicht wirklich einen Zeitrahmen und keine Dynamik“ (Bayer, 2022). Versucht man die Gefährdungspotenziale für den Arbeitsmarkt einzugrenzen, so geben dafür die Beschäftigtenzahlen der besonders betroffenen Branchen einen Hinweis (vgl. Tabelle 1, vgl. auch Bayer, 2022), aber ebenso die Wirkungen des pandemiebedingten Lockdowns für die Industrie im Frühjahr 2020 in Form der genutzten Kurzarbeit, auch wenn es seinerzeit vor allem die Autoindustrie mit Ausstrahleffekten war und es nun die Grundstoffchemie mit Kaskadeneffekten unbekannter Stärke wäre. Die Größenordnung liegt zwischen 2 Mio. und 4 Mio. Arbeitslosen. Daraus ergeben sich ganz andere wirtschaftspolitische Herausforderungen als die Abfederung vorübergehender Kurzarbeit.

Fiskalpolitik und die Annahme friktionsfreier Märkte

Ob nun ein Gasembargo möglich ist, hängt wesentlich davon ab, ob man die Folgen für hinnehmbar und „handhabbar“ (Leopoldina, 2022) hält oder nicht. Kein Modell trägt in sich eine solche Aussage, hier trifft „das Problem des Werturteils“ unausweichlich zu, nachdem bereits im Wertbasisbereich (Methodenauswahl, Adjustierung der Modellannahmen) präskriptive Aussagen unvermeidlich sind. Das auf dieser Basis ermittelte Modellergebnis einer Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts um 3 % wird zwar als „ein sehr substanzieller Konjunktureinbruch“ bewertet (Bayer, 2022), der aber leichterhand mit fiskalischen Mitteln zu kompensieren sei.

Zudem wird unterstellt, dass es Kaskadeneffekte nicht gäbe, weil die fehlenden Vorprodukte importiert werden können. Dies beruht auf der unbefragten Annahme, dass es weitgehend friktionsfrei möglich sei, die oft sehr hohen Spezialisierungsgrade entlang differenzierter Wertschöpfungsketten der deutschen Grundstoffproduktion international zu ersetzen, ganz abgesehen von der Organisation der Lieferketten und der Lieferkapazitäten. Zu bedenken ist auch, dass beim Verlust der Grundstoffproduktion in Deutschland neue Abhängigkeiten gegenüber Ländern entstehen – in der Grundstoffchemie z. B. von China –, die selbst wieder als kritisch zu bewerten sind.

Die dilatorische Behandlung der Grundstoffchemie verkennt die Qualität der Verbundproduktion, die gerade in der Chemie prägend ist und sich in den international einzigartigen Chemieparks manifestiert (Hans Böckler Stiftung, 2013). Die Tatsache, dass es in der Chemischen Industrie seit 1971 keine Streiks mehr gegeben hat, dürfte nicht zuletzt mit dem intensiven Verbund zusammenhängen, dessen Gefährdung zu immensen Schäden in der gesamten Branche führen würde. Dagegen wird angeführt, dass man während der Pandemie ebenfalls ganze Branchen geschlossen habe. Das stimmt, aber in der Industrie waren es einmalig wenige Wochen im Frühjahr 2020, deren Folgen indes bis heute zu spüren sind. Dabei waren die üblichen Überlegungen zu Preiselastizitäten und Substitutionselastizitäten durchaus zielführend, obgleich es auch Mengenrestriktionen (Halbleiter) gibt, die bis jetzt mit Produktionsausfällen beantwortet werden.

Grundsätzlich ist die arbeitsteilige Vernetzung und die Kapitalbindung in der Industrie, aber auch im gesamten Industrie-Dienstleistungsverbund höher als im Hotel- und Gaststättengewerbe oder im Veranstaltungssektor. Allein wegen der unterschiedlichen Produktionsweise können Restaurants oder Hotels geschlossen und geöffnet werden, zur Industrie vergleichbare Kaskadeneffekte sind nicht zu erwarten. Das wurde 2020 und 2021 sichtbar, als industrielle Produktionsprozesse nicht einfach auf Knopfdruck hochgefahren werden konnten. Die Störungen der internationalen Wertschöpfungsketten (auch ohne Krieg) sind ein Beleg dafür, dass ein einmaliges Ausschalten funktioniert, aber eben nicht ein reibungsloses Wiederanschalten.

Damit wird ein entscheidender Punkt sichtbar: Schrumpfungsraten für das Bruttoinlandsprodukt sind in ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung davon abhängig, ob es sich um einen Nachfrage- oder einen Angebotsschock handelt, und im letzteren Fall, welche Branchen betroffen sind. Pandemie und Gasembargo sind jeweils angebotsseitige Schocks, doch mit sehr unterschiedlicher Branchenbetroffenheit. Das führt dazu, dass die wirtschaftspolitischen Maßnahmen nicht einfach von der einen Krise auf die andere übertragen werden können. Es wird aus technischen wie ökonomischen Gründen nicht möglich sein, den industriellen Kern der deutschen Volkswirtschaft zwei Jahre lang durch Kurzarbeit und Subventionsprogramme zu konservieren, um ihn bei ausreichender Gasversorgung wieder hochzufahren. Zu befürchten ist vielmehr das Ende wichtiger Teile der Grundstoffproduktion in Deutschland.

Möglichkeiten und Grenzen makroökonomischer Modelle

Die Nutzung eines konsistenten Makromodells ist hilfreich, vor allem in Bezug auf die konsistente Würdigung relevanter Determinanten für die Anpassungsprozesse, die kumuliert den gesamtwirtschaftlichen Effekt bestimmen. Das grundsätzliche Problem von Modellanalysen in Zeiten eines umfassenden Strukturbruchs resultiert daraus, dass die empirisch kalibrierten Strukturparameter, die unvermeidlich die Zusammenhänge und Anpassungsmuster der Vergangenheit reflektieren, ihren Wert verlieren können (Lucas, 1976). An der Studie von Bachmann et al. (2022) ist darüber hinaus zu kritisieren, dass relevante Wirkungszusammenhänge (Arbeitsmarkt, Finanzmarkt, Vernachlässigung der Nachfrageseite und Inflation) nicht abgebildet werden (Krebs, 2022; Behringer et al., 2022).

Bachmann et al. (2022) unterstellen, dass ein Gasembargo vor allem Preiseffekte hat, und nutzen mit dem gewählten Modell empirisch verfügbare (marginale) Preiselastizitäten. In der zugrunde liegenden Meta-Regressionsstudie (Labandeira et al., 2017) werden – für unterschiedliche Fristigkeiten und Sektoren – Preiselastizitäten identifiziert, unter anderem aus der Evidenz für die Ölpreisschocks der 1970er Jahre. Ob diese historischen und marginalen Preiselastizitäten geeignet sind, um die Auswirkungen eines abrupten Gasembargos angemessen abzubilden, ist mehr als fraglich (Behringer et al., 2022). Grundsätzlich zeigt sich, dass auch in komplexeren Modellen (NiGEM-Modell) die zu unterstellende Preisreaktion, „wie sie notwendig wäre, um die Lücke zwischen Gasnachfrage und reduzierten Gaslieferungen vollständig zu schließen, … Stabilitätsprobleme für die Lösung des Modells“ begründet (Behringer et al., 2022).

Was ein solches Gasembargo gesamtwirtschaftlich bedeutet, lässt sich nur unter Hinzuziehung mikroökonomischer Evidenz für einzelne Branchen ermitteln, um die in Teilen komplexen intra- und intersektoralen Wertschöpfungsketten angemessen zu berücksichtigen (Krebs, 2022). Die Produktion von Zink z. B. würde nicht nur kurzfristig unmöglich, wenn die Prozesswärme fehlt, weil dann die Produktionsanlagen unbrauchbar werden. Die Einstellung der Glasproduktion erforderte für das Wiederhochfahren mehr als zwölf Monate, wenn nicht die Anlagen durch einen Stopp der Gasversorgung gänzlich zerstört werden. Daraus folgt die methodische Frage nach den mittelfristigen Substitutionselastizitäten nicht als Anpassung an einen Preisschock, sondern als Reaktion auf einen Produktionsstillstand, der bereits kurzfristig fundamentale Folgen haben kann. Im Falle von Produktionsunterbrechungen, (dauerhaften) Produktionstillegungen und Produktionsausfällen sind Kaskadeneffekte entlang der Wertschöpfungsketten zu erwarten. Wenn Gas für die Industrie nicht verfügbar ist und der Preis für die Ressource keine Rolle spielt, beginnen produktionstechnische Reaktionen. Dafür müssen Ökonom:innen nicht auch noch Ingenieur:innen sein, aber sie sollten die aus den produktionstechnischen Bedingungen folgenden ökonomischen Restriktionen würdigen. Sie müssen anerkennen, dass substitutionale Produktionsfunktionen in der kurzfristigen Analyse ihre Grenzen haben und ihre Relevanz für die akute Unternehmens- und Wirtschaftspolitik eingeschränkt ist. Dass dies nur qualitativ geht, spricht nicht dagegen, auch die modellbasierte Analyse von Bachmann et al. (2022) arbeitet verschiedentlich mit Setzungen.

Schließlich ist zu bedenken, dass die Auswirkungen eines Embargos nicht auf eine „Gleichgewichtssituation“ aufsetzen, wie es in einem Modell als Ausgangspunkt eingestellt ist, sondern auf eine bereits stark angeschlagene Volkswirtschaft (Grömling und Bardt, 2022). Diese war schon vor dem Krieg mit Erzeugerpreisen konfrontiert, die um 25 % über dem Vorpandemieniveau lagen – aufgrund von vielfältigen Produktions- und Logistikproblemen. Die Volkswirtschaften gehen von der einen Ungleichgewichtssituation in die nächste, die zudem eine Kombination von beiden ist; unterschiedliche Anpassungslasten kommen zusammen. Das wird ein Modell partialanalytisch nicht abbilden können.

Das gilt ebenso für die Wirkung eines Energieembargos auf die anderen Rohstoff- oder Grundstoffimporte aus Russland, die mit nicht unerheblichen Wertschöpfungseffekten in Deutschland verbunden sind und wegen der Weltmarktbedeutung der russischen Exporte eine zusätzliche Abhängigkeit der Produktionsketten hierzulande begründet (Bähr et al., 2022). Es ist unplausibel anzunehmen, dass diese Importe – Palladium, Nickel, Chrom, Kadmium, Aluminium etc. – dann noch stattfinden, nachdem bei Gas ein Embargo durch Deutschland verhängt wurde. Hier mag es Alternativen etwa in Kanada, bei ähnlicher Geologie, geben, die aber erst technisch und vertraglich mobilisiert werden müssen.

Grundsätzliche Aspekte ökonomischer Politikberatung

„So wie die Themenwahl auf Werturteilen beruht, so ist auch die Wahl eines Modells zur Darstellung der Wirklichkeit wirtschaftspolitisch bedeutsam, ganz zu schweigen von stilisierten Fakten, Statistiken oder Diagrammen. Wie immer man eine Situation auch beschreibt, die Worte und Zahlen sind nicht die Wirklichkeit; sie geben nur die Meinung des Autors über sie wieder. Denjenigen, die mit einem bestimmten Ansatz nicht einverstanden sind, steht es jederzeit frei, Widerspruch zu erheben und einen alternativen Entwurf vorzulegen. Außer der Unterwerfung unter das Diktat der Logik brauchen wir uns nicht einmal bestimmten Standesregeln verpflichtet fühlen, ausgenommen dem Grundsatz der Ehrlichkeit in der Kommunikation“ (Giersch, 2006, 32).

Die Frage, ob ein Gasembargo der Bundesregierung zu empfehlen ist, verlangt wegen der damit verbundenen volkswirtschaftlichen Bedeutung eine weit über den partialanalytischen Fokus eines Modells hinausgehende Perspektive, zumal dann, wenn das Modell schon einen „sehr substanziellen Konjunktureinbruch“ ermittelt. Der politischen Verantwortung, die sich mit einer solchen Entscheidung verbindet, muss durch umfangreiche Informationen und Einschätzungen zu den im Modell nicht abbildbaren Wirkungszusammenhängen Rechnung getragen werden.

Das verlangt viel mikroökonomische Kenntnisnahme, was ohne Zweifel mühsam ist, allein wegen der unzureichenden amtlichen Daten über die volkswirtschaftliche Angebotsseite. Am Ende liegen aber dort, auf der unternehmerischen Ebene, die Herausforderungen für die Umsetzung einer politisch so weitreichenden Entscheidung. In diesem Zusammenhang sollte man sich ebenfalls dazu erklären, wenn man eine gedankliche Struktur bemüht, die in Zeiten fortschreitender globaler Desintegration friktionsfreie internationale Austauschbeziehungen als Antwort offeriert. Zudem müssen institutionelle Bedingungen angemessen gewürdigt werden, andernfalls haben theoretische Reflexionen nur überschaubaren Wert für die Politikberatung.

Die Realität kann manchmal unhandlich sein. Öffentlichkeit und Politik haben aber einen Anspruch darauf, dass wir Ökonom:innen unserer Bringschuld umfassend nachkommen. Es geht nicht darum, ob Modelle hilfreich sind oder nicht; das steht außer Frage. Vielmehr geht es um die Angemessenheit des Modells sowie um den normativ transparenten Umgang mit den Ergebnissen und den Grenzen der Analyse. Solchermaßen verantwortungsvolle Politikberatung muss deutlich machen, wo auf dem Weg von der Analyse zur politischen Schlussfolgerung das „subjektive Werturteil“ greift.

  • 1 Auf Basis der EU-FIGARO-Datenbank ergeben sich für 2019 folgende exakte Daten: Deutschland Industrieanteil am BIP 21,2 %, zusätzlich Joint Production am BIP 8,5 %; Vereinigtes Königreich Industrieanteil 9,7 %, zusätzlich Joint Production 0,7 %.

Literatur

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Bähr, C., M. Fremerey, M. Fritsch und T. Obst (2022), Rohstoffabhängigkeiten der deutschen Industrie von Russland, IW-Kurzbericht, 31.

Bayer, C. (2022), Frieden und Freiheit gibt es nicht umsonst, Interview Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. März.

Bayer, C., A. Kriwoluzky und F. Seyrich (2022), Stopp russischer Energieeinfuhren würde deutsche Wirtschaft spürbar treffen, Fiskalpolitik wäre in der Verantwortung, DIW aktuell, 80, 29. März.

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Behringer, J., S. Dullien, A. Herzog-Stein, P. Hohlfeld, K. Rietzler, S. Stephan, T. Theobald, S. Tober und S. Watzka (2022), Ukraine-Krieg erschwert Erholung nach Pandemie, IMK Report, 174.

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Title:The Problem of Subjective Value Judgment. On the Calculations of the Cost of a Russian Gas Embargo

Abstract:In the political debate about the right Western reaction to Russia’s war of aggression in Ukraine, an immediate gas embargo is being discussed and demanded in addition to the sanctions that have already been decided. The aim is to increase the economic pressure on Russia in order to end the war more quickly. Economic expertise is also needed here in order to advise politicians by making the possible economic costs and risks for Germany transparent. Doing so will disclose the unavoidable subjective value judgements. The limits of macroeconomic models must be discussed in a differentiated manner, and microeconomic findings as well as institutional conditions must be adequately acknowledged.

© Der/die Autor:in 2022

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.1007/s10273-022-3156-x

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