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Der Ukrainekrieg verändert die Lage in Europa grundlegend. Die Militärausgaben steigen nun seit langem wieder an und die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern wird offensichtlich. Die erwartete Zahl der Geflüchteten wird die der Jugoslawien- und Syrienkriege vermutlich bei weitem übersteigen. Damit steht die EU vor großen Herausforderungen. Sie muss gleichzeitig die geopolitische Bedrohung durch Russland, die daraus folgende Migrationswelle sowie den Umbau hin zu einer klimaneutralen Industrie bewältigen.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 endet eine lange Friedensperiode in Europa. Die Zeit seit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 war von einem drastischen Absinken der Militärausgaben geprägt. West-Deutschland hat in den 30 Jahren vor dem Mauerfall jährlich etwa 3,3 % seiner Wirtschaftsleistung für die Verteidigung ausgegeben, in den 30 Jahren nach der Wiedervereinigung hat sich dieser Wert auf etwa 1,4 % pro Jahr mehr als halbiert. Auch die USA haben ihre Verteidigungsausgaben von durchschnittlich 7,2 % während des Kalten Krieges auf aktuell 3,3 % deutlich reduziert. Die Entwicklung der deutschen und US-amerikanischen Militärausgaben von 1955 bis 2020 sind in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1
Militärausgaben in Deutschland und USA
in % des BIP
Hausner Abbildung 1

Quelle: eigene Darstellung. Datenquelle: SIPRI.

Durch das Ende des Kalten Krieges hat Deutschland seit 1990 durch diese „Friedensdividende“ kaufkraftbereinigt mehr als zwei Billionen Euro an Verteidigungsausgaben eingespart, was knapp 60 % der aktuellen Wirtschaftsleistung entspricht. Dadurch entstanden hohe Wohlstandsgewinne für die Gesellschaft, da diese Mittel für produktive Investitionen wie beispielsweise Bildung oder Infrastruktur eingesetzt werden konnten. Laut einer quantitativen Untersuchung von Alamir et al. (2022) wäre das weltweite BIP 2014 um 12 % höher gewesen, wenn es seit 1970 keine Kriege zwischen Staaten oder gewaltsame innerstaatliche Konflikte gegeben hätte. Der Sieg von offenen Gesellschaften und liberalen Demokratien schien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zumindest im Westen gesichert. Aber schon 1945 hat Karl Popper in seinem Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, angestoßen durch den im März 1938 erzwungenen Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich, die Notwendigkeit der Verteidigung von liberalen Ideen betont.

Fiskalische Zeitenwende

Durch die aktuelle Bedrohungslage in der Ukraine wurde nun auch fiskalisch eine Zeitenwende eingeleitet. Im Jahr 2021 hat Deutschland rund 47 Mrd. Euro (knapp 1,5 % des BIP) für Verteidigung ausgegeben. Dabei entfällt der größte Teil auf Personalausgaben und Versorgungsansprüche (ca. 41 %). Nur 18,5 % werden für die Beschaffungen von neuen Waffen und Fahrzeugen ausgegeben und 3,5 % für Forschung und Entwicklung (IW, 2022). Das geplante Sondervermögen von 100 Mrd. Euro wird die deutschen Verteidigungsausgaben in den nächsten Jahren von aktuell 1,5 % auf mindestens 2 % des BIP anheben, ein Wert, den Deutschland zuletzt 1991 erreicht hat. Die Finanzierung über ein Sondervermögen ist jedoch intransparent und verstößt gegen die Prinzipien der Haushaltswahrheit und -klarheit. Zudem stellt sich jetzt die Frage, welche Ausgaben aus dem ursprünglichen Haushaltsplan und welche aus dem Sondervermögen bestritten werden sollen. Mit dem Sondervermögen wird die Schuldenregel unterlaufen, denn die geplanten 100 Mrd. Euro werden 2022 finanzwirksam und nicht in den Folgejahren, in denen die Schuldenregel wieder gelten soll. Transparenter wäre es gewesen, wenn der Bund die Verteidigungsausgaben im Kernhaushalt gegenüber dem Haushaltsansatz um die bestehende Differenz zum NATO-Ziel in Höhe von 2 % des BIP erhöht hätte. Dies wäre langfristig kalkulierbarer, denn spätestens 2026 wird – konstante Verteidigungsausgaben von 2 % des BIP vorausgesetzt – das Sondervermögen aufgebraucht sein. Nach Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf das NATO-Ziel wird Deutschland nach den USA und China das Land mit den dritthöchsten absoluten Verteidigungsausgaben weltweit sein, wenn die Ausgaben der anderen Länder konstant bleiben. Im Jahr 2020 lagen Indien, Russland und Großbritannien noch vor Deutschland (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Militärausgaben einzelner Länder im Jahr 2020
  Militärausgaben (2020)
Land in Mrd. US-$ in % des BIP in US-$/Einwohner
1. USA 778,2 3,7 2.351,10
2. China 252,3 1,7 175,3
EU-27 232,8 1,6 520,8
(3.) Deutschland 73,4* 2,0* 876,2*
3. Indien 72,9 2,9 52,8
4. Russland 61,7 4,3 422,9
5. Großbritannien 59,2 2,2 872,6
6. Deutschland 52,8 1,4 629,8
7. Frankreich 52,7 2,1 808,1
8. Japan 49,1 1,0 388,6

* geplante Ausgaben für das Jahr 2022 (2 % des BIP von 2020, umgerechnet zu einem Wechselkurs von 1 Euro: 1,09 US-$).

Quelle: eigene Darstellung. Datenquelle: SIPRI.

Auch die EU vollzieht einen fiskalischen Paradigmenwechsel, denn mit dem EU-Haushalt werden nun erstmals Ausgaben für Waffen finanziert. Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, ob eine stärkere Verlagerung der Verteidigungsaufgaben auf die EU-Ebene ökonomisch sinnvoll ist. Die im Vergleich zu China ähnlich hohen absoluten Ausgaben der EU (vgl. Tabelle 1) suggerieren, dass dies durchaus effizient sein könnte. Berücksichtigt man die Bevölkerungszahlen in China im Vergleich zur EU, wird deutlich, dass sich die Ausgaben pro Kopf wesentlich unterscheiden: China wendet etwa 175 US-$ pro Einwohner:in auf, während in der EU knapp 521 US-$ pro Kopf ausgegeben werden. Obwohl Russland 4,3 % des BIP für sein Militär ausgibt, sind dies aufgrund der relativ geringen Wirtschaftsleistung nur 422 US-$ pro Einwohner:in. Spitzenreiter bei den Pro-Kopf-Ausgaben sind die USA mit einem Betrag von 2.351 US-$ pro Einwohner:in. Deutschlands Pro-Kopf-Ausgaben würden bei einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf 2 % des BIP von 630 US-$ (2020) auf 876 U-$ (2022) steigen.

Anstelle von 27 einzelnen Armeen mit jeweiligen Abwehr- und Waffensystemen könnte man in der EU Größenvorteile nutzen (z. B. reduzierte administrative Kosten, optimierte Beschaffung, etc.). Des Weiteren wäre dies ein nächster Schritt in Richtung Integration. Seit dem Scheitern der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im August 1954 durch den Einspruch der französischen Nationalversammlung hat sich auf diesem Gebiet nichts Wesentliches mehr getan. Man hat sich in Europa auf die NATO und den US-amerikanischen Schutzschirm verlassen.

Gesamteuropäische öffentliche Güter

Die äußere Sicherheit ist ein gesamteuropäisches öffentliches Gut, das am effizientesten gemeinsam zu bewirtschaften ist. Als Standardbeispiele für öffentliche Güter gelten die innere und äußere Sicherheit. Dabei umfasst die innere Sicherheit die Rechtsordnung und die Durchsetzbarkeit von Eigentumsrechten, was als Grundlage für das Funktionieren von Märkten gilt. Unter der äußeren Sicherheit versteht man den Schutz eines Staates oder einer Staatengruppe vor militärischen Bedrohungen. Eine gravierende Störung der äußeren Sicherheit, wie aktuell durch den russischen Angriff auf die Ukraine, kann zu einem Zusammenbruch von Märkten und damit der Versorgung der Bevölkerung mit beispielsweise Nahrungsmitteln und Medikamenten führen. Im Extremfall führt der Verlust der äußeren Sicherheit zu einem Verlust der eigenen Staatlichkeit.

Öffentliche Güter sind durch zwei Merkmale charakterisiert. Erstens kann niemand von deren Konsum ausgeschlossen werden (sogenannte Nicht-Ausschließbarkeit). Somit sind keine potenziellen Nutzenden bereit, einen Marktpreis zu bezahlen, da sie das Gut auch kostenlos konsumieren können. Das Vorliegen von Nicht-Ausschließbarkeit verhindert somit, dass auf dem Markt für dieses Gut ein Preis erzielbar ist, was wegen mangelnder Anreizwirkung keine private Produktion dieses Gutes zur Folge hat. Bei rein öffentlichen Gütern sind die Kosten für die Bereitstellung durch den Markt prohibitiv hoch; dieses „Marktversagen“ führt zum Angebot öffentlicher Güter des Staats.

Dabei hat Nicht-Ausschließbarkeit zwei Aspekte: Zum einen sind dies eigentumsrechtliche Regelungen, zum anderen ist es die vorhandene Ausschlusstechnologie. Letztendlich ist jedoch nicht die theoretische Möglichkeit des Ausschlusses entscheidend, sondern dessen Kosten bei der Umsetzung. Die Wirksamkeit der äußeren Sicherheit kann nicht auf bestimmte Personengruppen beschränkt werden: Der Staat hat keine Möglichkeit, Bürger:innen, die nicht bereit oder fähig sind, für die äußere Sicherheit zu bezahlen, aus dem Land und damit dem Schutzbereich des Gutes auszuweisen.

Die zweite Eigenschaft, die eine effiziente Allokation durch den Markt verhindert, ist die sogenannte Nicht-Rivalität im Konsum. D. h., durch die Nutzung einer Person wird der Konsum anderer Nachfragender nicht eingeschränkt, solange freie Kapazitäten zur Verfügung stehen. Ein rein privates Gut hingegen ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Mehrkonsum dieses Guts von Individuum A mit einer Einschränkung der Nutzungsmöglichkeit des Individuums B verbunden ist. So schließt beispielsweise der Verzehr eines Apfels von Person A den Verzehr des gleichen Apfels von Person B aus. Hier liegt Rivalität im Konsum vor. Für reine öffentliche Güter besteht hingegen keine Rivalität im Konsum. Damit fallen auch keine Grenzkosten bei zusätzlichem Konsum an. Nicht-Rivalität ist ein technisches Kriterium, das die Möglichkeit beschreibt, inwiefern ein ökonomisches Gut von beliebig vielen Wirtschaftssubjekten genutzt werden kann. Bei den Kosten der äußeren Sicherheit spielt es keine entscheidende Rolle, ob innerhalb eines Staatsgebiets 10 Mio. oder 20 Mio. Menschen leben. Die Grenzkosten eines zusätzlichen Einwohners und damit Nutzers der Verteidigungsfähigkeit eines Landes gehen gegen null, sie rivalisieren nicht im Konsum. Die Grenzkosten sind hingegen positiv, wenn, wie aktuell beschlossen, steigende Verteidigungsausgaben zu einem höheren Bereitstellungsniveau des Gutes führen, das allen Einwohner:innen zugutekommt.

Die Ineffizienz der EU-Armeen aufgrund unterschiedlicher Waffensysteme sowie das schwerfällige Beschaffungswesen der Bundeswehr stellen gewichtige Argumente für eine Verlagerung auf die EU-Ebene dar. Schon Ex-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat beklagt, dass in der EU insgesamt 178 verschiedene Waffensysteme und 17 unterschiedliche Kampfpanzer unterhalten werden. In den USA hingegen gibt es bei einem mehr als dreifach höheren Militärbudget nur 30 Waffensysteme und einen Kampfpanzer (Hausner und Schehl, 2022). Geringere administrative Kosten und eine kostengünstigere Beschaffung sprechen ökonomisch ebenfalls für eine zumindest partielle Verlagerung auf die europäische Ebene.

Abhängigkeit von fossilen Energieträgern

Neben der geplanten Steigerung der Verteidigungsausgaben kommen auf die öffentlichen Finanzen zwei weitere Herausforderungen zu. Deutschland bezog im vergangenen Jahr etwa 55 % des importierten Gases, fast die Hälfte der Steinkohle und 35 % des Rohöls aus Russland (Grimm et al., 2022). Hier wäre es dringend geboten, zu einer stärkeren Diversifikation der Bezugsländer zu kommen, um einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden und das Risiko von Lieferunterbrechungen besser zu streuen. Durch den forcierten Ausbau der erneuerbaren Energien lassen sich zwei Ziele gleichzeitig erreichen: politische Unabhängigkeit und Klimaneutralität. Im Rahmen einer europäischen Energiepolitik sollte ein europaweites Verteilnetz für Strom und Wasserstoff errichtet werden, um die unvermeidlichen Lastschwankungen der erneuerbaren Energien ausgleichen zu können.

Zur Verringerung der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern aus Russland ist es zwingend erforderlich, die Energiewende zugunsten erneuerbarer Energien erheblich zu beschleunigen. Dieser Weg wird mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zwar schon beschritten, aber noch nicht schnell genug, wie der aktuell erschiene IPCC-Bericht (2022) anmerkt. Die kurzfristige Bereitstellung von 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr hat gezeigt, dass es vom politischen Willen und der Prioritätensetzung abhängt, in welche Projekte öffentliche Mittel fließen. Dabei hat auch die Energieversorgung einen sicherheitspolitischen Aspekt, denn nicht nur Waffen können Sicherheit garantieren, sondern auch die europaweite Infrastruktur für eine zuverlässige Energieversorgung.

Die im Koalitionsvertrag anvisierte Erhöhung des Anteils der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung soll von derzeit 42 % auf 80 % bis 2030 auf 100 % bis 2035 massiv erhöht werden. Hierfür müssen die langwierigen Planungs- und Genehmigungsverfahren deutlich beschleunigt werden. Erneuerbare Energien verursachen hohe Investitionskosten bei variablen Kosten gegen null. Bei stark fallenden Technologiekosten besteht das Risiko des Aufschiebens von Investitionen und dadurch eine deutlich verlangsamte Verdrängung der fossilen Energieträger. Diesem Marktversagen wurde in Deutschland durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) begegnet.

Deutlich effizienter wäre es, einen hinreichend hohen CO2-Preis einzuführen, der die fossilen Energieträger gemäß ihrer CO2-Intensität und damit ihrer wahren Kosten für das Klima belastet. In Großbritannien, dem Mutterland der Industrialisierung, ist durch die Einführung eines CO2-Mindestpreises der Anteil der Kohleverstromung von knapp 40 % im Jahr 2012 auf weniger als 7 % im Jahr 2018 gesunken. 2013 wurde ein carbon price floor im Rahmen des europäischen Emissionshandelssystems (ETS) in Höhe von 16 GBP (ca. 18,50 Euro) eingeführt. Diese Preisuntergrenze wurde 2015 auf 18 GBP (ca. 21 Euro) erhöht und war damit bis Mitte 2018 deutlich höher als der CO2-Preis im europäischen Emissionshandelssystem. Der Emissionshandel ist sowohl ein ökonomisch effizientes als auch ein ökologisch wirksames Instrument, wenn er wie in Großbritannien mit einem Mindestpreis kombiniert wird. Denn die Emissionen werden dort reduziert, wo dies am günstigsten ist. Dabei sollten allerdings wichtige Sektoren wie Gebäude, Landwirtschaft und Verkehr einbezogen werden. Der Vorteil einer Bepreisung von CO2 ist, dass nicht der Staat entscheiden muss, wann welche Kraftwerke vom Netz gehen, sondern die Marktkräfte für einen kosteneffizienten Ausstieg aus fossiler Energie sorgen. Ein administrativ verordneter Kohleausstieg wie in Deutschland wird deutlich teurer und langwieriger, als dies mit klaren Preissignalen für CO2 möglich wäre. Zudem sollte man den potenziellen Widerstand von Unternehmen und Verbänden nicht unterschätzen, die auf fossilen Energieträgern beruhen. Denn mit dem Übergang zu einer nicht-fossilen Wirtschaft werden Billionen an Investitionen in Pipelines, Förderanlagen, Raffinerien etc. wertlos. Dieser Verlust wird vermutlich nicht kampflos hingenommen werden.

Ein verlässlicher EU-weiter Mindestpreis für CO2 ist für institutionelle Investierende wie Versicherer und Pensionsfonds ein wichtiges Signal, um das erforderliche Anlagekapital für den Umbau des Energiesystems zur Verfügung zu stellen. Ein europaweit einheitlicher CO2-Mindestpreis über alle Sektoren hinweg würde dabei die höchste Lenkungswirkung entfalten. Dabei lassen sich Kosteneffektivität und Versorgungssicherheit am besten im europäischen Verbund erreichen (Grimm et al., 2022). Der Vorwurf, die Energiewende belaste überproportional sozial schwache Haushalte, lässt sich entkräften, wenn man die Einnahmen in Form einer Kopfpauschale1 an die Konsumierenden zurückzahlt. Eine solche pauschale Rückgabe pro Einwohner:in würde relativ gesehen ärmere Haushalte stärker entlasten, da die CO2-Emissionen mit dem Haushaltseinkommen korrelieren.

Europäisches Management der Migration

Durch den russischen Überfall ist mit einer weit größeren Flüchtlingsbewegung als 2015 zu rechnen. Die Europäische Kommission erwartet etwa fünfmal so viele Geflüchtete wie zu Zeiten der Jugoslawienkriege und dreimal so viele wie beim Syrienkrieg (Fischer, 2022). Der Flüchtlingsschutz ist aus ökonomischer Perspektive ebenfalls ein europäisches öffentliches Gut. Nur durch die EU ist ein wirksamer Schutz der Außengrenzen und eine faire Lastenverteilung der Migrationsbewegung möglich. Auch hier hat sich seit der russischen Invasion ein fundamentales Umdenken im Vergleich zur letzten Flüchtlingskrise vollzogen. Wichtig wird nun sein, dass nicht nur die an die Ukraine angrenzenden osteuropäischen Mitgliedstaaten und Deutschland die Geflüchteten aufnehmen, sondern alle EU-Staaten. Dabei müssen die wirtschaftliche Kraft und die Größe eines Landes berücksichtigt werden. In Deutschland erfolgt die Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen Bundesländer anhand des sogenannten Königsteiner Schlüssels, der sich am Steueraufkommen und der Einwohnerzahl orientiert. In der EU könnte dies beispielsweise anhand des Kapitalschlüssels der Europäischen Zentralbank (EZB) erfolgen, der den Anteil des jeweiligen Landes an der Gesamtbevölkerung sowie am BIP der EU widerspiegelt (vgl. Tabelle 2). Legt man bei der Verteilung von Geflüchteten den Kapitalschlüssel der EZB für alle EU-Staaten zugrunde, würde Deutschland als größtes Land etwa 21 % aller Geflüchteten aufnehmen, Frankreich knapp 17 % und Polen 6 %. Damit würde dem Postulat einer gerechten Lastenverteilung Rechnung getragen.

Tabelle 2
Kapitalschlüssel der EU-Staaten am EZB-Kapital
Nationale Zentralbank Kapitalschlüssel, in %
Euroraum  
Banque Nationale de Belgique (Belgien) 2,96
Deutsche Bundesbank (Deutschland) 21,44
Eesti Pank (Estland) 0,23
Central Bank of Ireland (Irland) 1,38
Bank of Greece (Griechenland) 2,01
Banco de España (Spanien) 9,70
Banque de France (Frankreich) 16,61
Banca d’Italia (Italien) 13,82
Central Bank of Cyprus (Zypern) 0,18
Latvijas Banka (Lettland) 0,32
Lietuvos bankas (Litauen) 0,47
Banque centrale du Luxembourg (Luxemburg) 0,27
Central Bank of Malta (Malta) 0,09
De Nederlandsche Bank (Niederlande) 4,77
Österreichische Nationalbank (Österreich) 2,38
Banco de Portugal (Portugal) 1,90
Banka Slovenije (Slowenien) 0,39
Národná banka Slovenska (Slowakei) 0,93
Suomen Pankki – Finlands Bank (Finnland) 1,49
Summe Euroraum 81,33
Außerhalb des Euroraums  
Bulgarische Nationalbank (Bulgarien) 0,98
Česká národní banka (Tschechische Republik) 1,88
Danmarks Nationalbank (Dänemark) 1,76
Hrvatska narodna banka (Kroatien) 0,66
Magyar Nemzeti Bank (Ungarn) 1,55
Narodowy Bank Polski (Polen) 6,03
Banca Naţională a României (Rumänien) 2,83
Sveriges riksbank (Schweden) 2,98
Summe außerhalb des Euroraums 18,67

Differenzen durch Rundungen möglich.

Quelle: EZB, 2022.

Turnusgemäß werden die Anteile alle fünf Jahre angepasst, um Veränderungen der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft zu berücksichtigen. Darüber hinaus erfolgt eine Anpassung immer dann, wenn ein neues Land der Eurozone bzw. der EU beitritt oder diese verlässt. Die letzte Anpassung wurde am 1. Februar 2020 vorgenommen, als Großbritannien aus der EU austrat.2

Europäische Integration als Wechselspiel zwischen Prozess und Institutionalisierung

Die Europäische Integration nahm 1951, d. h. bereits sechs Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) als erste supranationale Einrichtung ihren Anfang. Damit wurden die beiden für das Führen von Kriegen und den Wiederaufbau essenziellen Güter Kohle und Stahl unter eine gemeinsame Verwaltung gestellt. Heute besteht die EU aus 27 Mitgliedstaaten und verfügt über ein hoch entwickeltes institutionelles System. Sie steht aber auch vor großen Herausforderungen, angefangen von der geopolitischen Bedrohung durch Russland, der dadurch ausgelösten Migrationsbewegung bis hin zum notwendigen Umbau der Industriegesellschaft in Richtung Klimaneutralität. Biehl (1995) hat die Europäische Integration sehr treffend als das Wechselspiel zwischen dem Prozess der Integration und der dadurch sich herausbildenden Institutionen beschrieben.

So ist die EU immer dann einen qualitativen Integrationsschritt vorangekommen, wenn besondere Herausforderungen auftraten. Auf die Coronapandemie folgte beispielsweise das Aufbauinstrument Next Generation EU mit einem Volumen von 750 Mrd. Euro und einer gemeinschaftlichen Verschuldung am Kapitalmarkt. Jetzt ist eine Neubegründung Europas auf Basis von Sonne und Wind erforderlich. Das Ende des fossilen Zeitalters ist nicht mehr nur ein klima-, sondern auch ein geopolitisches Erfordernis. Die aktuelle Ukrainekrise macht durch die notwendige Zusammenlegung von wirtschaftlichen, technischen und militärischen Ressourcen noch weitreichendere Integrationsschritte erforderlich (Hausner und Schehl, 2022). Dazu könnte zunächst das faktische Vetorecht jedes Mitgliedstaats abgeschafft und die Einstimmigkeitsregel auf wenige Grundsatzfragen wie etwa die Aufnahme von neuen Mitgliedern beschränkt werden, denn sonst bestimmt die langsamste der 27 Lokomotiven die Geschwindigkeit des europäischen Zuges.

  • 1 Die Bezeichnungen für eine solche Kopfpauschale sind unterschiedlich. Die Grünen nennen es Energiegeld, die FDP Klimadividende, im Koalitionsvertrag wird die Einführung eines Klimageldes angekündigt.
  • 2 Der Anteil Großbritanniens am gezeichneten Kapital der EZB betrug 14,3 %. Davon waren 3,75 % und damit 58 Mio. Euro eingezahlt. Gemäß den Bedingungen des Austrittsabkommens wurde dieser Betrag von der EZB zurückgezahlt. Der Austritt erforderte eine Anpassung der Anteile der nationalen Zentralbanken am gezeichneten Kapital der EZB (2020).

Literatur

Alamir, A. et al. (2022), The global economic burden of violent conflict, Journal of Peace Research, 1-18.

Biehl, D. (1995), Wechselspiel zwischen Prozeß und Institutionalisierung im Zuge der europäischen Integration, in B. Schefold (Hrsg.), Wandlungsprozesse in den Wirtschaftssystemen Westeuropas, 109-152.

EZB (2020), Pressemitteilung der EZB, 30. Januar.

EZB (2022), Kapitalzeichnung, https://www.ecb.europa.eu/ecb/orga/capital/html/index.de.html (22. April 2022).

Fischer, E. (2022), Verteilung von Geflüchteten: EU-Staaten uneins über verbindliche Quoten, Handelsblatt, 28.3.

Grimm, V., J. Haucap und J. Kühling (2022), Damit der Strom sicher fließt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 77, 1. April, 16.

Hausner, K. und J. Schehl (2022), Das Ende der deutschen Friedensdividende, WirtschaftsWoche, 14, 43.

IPCC – Intergovernmental Panel on Climate Change (2022), Climate Change 2022. Impacts, Adaptation and Vulnerability, 6th Assessment Report.

IW – Institut der deutschen Wirtschaft (2022), Deutsche Rüstungsindustrie: Eine Branche im Umbruch, iwd, 7, 6-7.

Popper, Karl R. (1945), Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [The Open Society and Its Enemies]. Teil 1: The Spell of Plato, Routledge.

SIPRI – Stockholm International Peace Research Institute (2022), SIPRI Military Expenditure Database, abgerufen am 15. April 2022, https://www.sipri.org/databases/milex.

Title:External Security and Refugee Protection as Pan-European Public Goods

Abstract:The Ukraine war is fundamentally changing the situation in Europe. Military spending has been rising again for a long time now and dependence on fossil fuels is becoming obvious. The expected number of refugees will probably far exceed that of the Yugoslavian and Syrian wars. This means that the EU is facing major challenges. At the same time, it has to cope with the geopolitical threat from Russia, the resulting wave of migration and the transformation towards climate-neutral industry.

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© Der/die Autor:in 2022

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.1007/s10273-022-3189-1

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