Es scheint klar, dass die EZB die Zinsen im Juli 2022 anheben und ihr Anleihenkaufprogramm beenden wird. Dies dürfte ein starkes und wichtiges Signal an Märkte und wirtschaftliche Akteure senden, dass die EZB ihr Mandat für Preisstabilität weiterhin ernst nimmt. Dass diese geldpolitischen Beschlüsse nun den Anfang einer sukzessiven restriktiveren Gangart in Richtung geldpolitischer Normalisierung einläuten, ist jedoch nicht mit Sicherheit zu sagen. Grund ist, dass die wirtschaftliche Unsicherheit derzeit enorm hoch ist. Die EZB befindet sich daher in einem schwierigen Dilemma: Sie muss entschieden gegen die hohe Inflation angehen, aber sollte sich viel Flexibilität bewahren, um auf eine erneute Krise reagieren zu können.
Energiepreisschocks und ihre Wirkungskanäle
Die Inflation ist mit 8,1 % in der Eurozone im Mai 2022 bei weitem zu hoch. Daher mehren sich die besorgten Stimmen, dass die EZB mit ihrer Zinsanhebung zu spät reagiere und sie der US-Notenbank Fed hätte folgen sollen, die bereits im März begonnen hat, ihre Leitzinsen anzuziehen. Es gibt aber Gründe, wieso die EZB bisher zögerlicher reagiert als die Fed. Zum einen befinden sich beide Volkswirtschaften in recht unterschiedlichen wirtschaftlichen Situationen. Während die Wirtschaft im Euroraum tendenziell immer noch unterausgelastet ist, zeigt die US-Wirtschaft auch aufgrund einer deutlich expansiveren Fiskalpolitik der US-Regierung deutliche Überhitzungserscheinungen, sowohl bei der Kapazitätsauslastung als auch am Arbeitsmarkt. Zum anderen unterscheiden sich die Ursachen für den starken Preisanstieg in beiden Wirtschaftsräumen recht stark. Die Inflation in der Eurozone wird zum größten Teil durch Energie- und Lebensmittelpreise getrieben. Gut zwei Drittel des Anstiegs der Preise sind durch diese beiden Faktoren erklärt. Dies ist anders in den USA, wo der größte Teil der Inflation durch eine kräftige Konsumnachfrage getrieben ist, die sich in höheren Preisen für Güter und Dienstleistungen widerspiegelt, die nicht direkt im Zusammenhang mit Energie- und Lebensmittelpreisen stehen. Einige verweisen auf die Erfahrung mit einer Lohn-Preis-Spirale der 1970er Jahre und warnen vor einer sogenannten Stagflation, also viele Jahre mit hoher Inflation, geringem Wachstum und steigender Arbeitslosigkeit. Eine vorsichtige Abwägung der Argumente zeigt jedoch, dass diese Sorge übertrieben ist (Fratzscher, 2022).
Der gegenwärtige Preisdruck in der Eurozone erklärt sich zum größten Teil durch einen Angebotsschock von höheren Energie- und Lebensmittelpreisen. In welchem Umfang eine Zentralbank in diesem Fall geldpolitisch reagieren sollte, hängt entscheidend davon ab, in welchem Umfang und über welche Kanäle sich diese auf das allgemeine Preisniveau übertragen. Da angebotsseitige Schocks sowohl preistreibend als auch wachstumsbelastend wirken, ist außerdem entscheidend, wie stark der preistreibende gegenüber dem wirtschaftsdämpfenden Effekt ist. Neben den direkten Effekten auf das allgemeine Preisniveau können sich gestiegene Energiepreise zusätzlich inflationär auswirken, wenn sich diese in Form von gestiegenen Produktionskosten oder durch höhere Lohnforderungen auch auf andere Komponenten des Preisindex durchschlagen. Gleichzeitig kommt es bei steigenden Preisen zu sinkenden realen Einkommen. Angesichts einer relativ geringen Elastizität der Öl- und Energienachfrage drückt dieser Einkommenseffekt die Nachfrage nach anderen im Inland produzierten Gütern. Diese geringere gesamtwirtschaftliche Nachfrage wirkt sich wiederum dämpfend auf die Inflation aus. Je stärker die konjunkturelle Belastung durch den Energieangebotsschock ist, umso mehr wird der aus diesem Schock ausgelöste direkte und indirekte Inflationsdruck also abgefedert.
Ein Energiepreisschock stellt eine Zentralbank also vor ein Dilemma. Die Geldpolitik kann nicht gezielt Einfluss auf sektorale Preissteigerungen nehmen. Sie kann aber mit Leitzinsanhebungen das allgemeine Preisniveau beeinflussen, was aber wiederum sinnvoll ist, wenn sich Zweitrundeneffekte in Form von gestiegener langfristiger Inflationserwartungen und Lohnsteigerungen bemerkbar machen. Außerdem kann eine unerwartete Leitzinsanhebung die Währung stärken und somit manche Importe und allen voran die in Dollar notierten fossilen Energieträger verbilligen. Gleichzeitig geht eine geldpolitische Straffung aber mit konjunkturbelastenden Effekten einher.
Zentralbanken im Dilemma
Wie sollte sich die EZB in der gegenwärtigen Situation mit sehr hoher Inflation, aber auch sehr großer Unsicherheit verhalten? Ihr Mandat verpflichtet dazu, so schnell und nachhaltig wie möglich wieder Preisstabilität zu erreichen. Dabei muss sie gegenwärtig jedoch eine schwierige Abwägung machen: Kommt es zu einer weiteren Eskalation im Krieg in der Ukraine könnte sich eine zügige und kräftige geldpolitische Straffung unter Umständen im Nachhinein als zu restriktiv herausstellen. Der Krieg in der Ukraine wird schon jetzt die Wirtschaftsleistung in Deutschland und in der Eurozone 2022 um voraussichtlich knapp 2 % schwächen. Falls der Krieg weiter eskaliert und es zu einem Lieferstopp von Energie aus Russland kommt und es weitere Störungen bei den Lieferketten gibt, beispielsweise durch die Pandemie in China, dann prognostizieren die Wirtschaftsforschungsinstitute und die Bundesbank eine tiefe Rezession – und zwar nicht nur kurz anhaltend, sondern für 2023 und 2024. Bei einem solchen Szenario würde kurzfristig die Inflation nochmals massiv ansteigen, da fehlende Energielieferungen und Vorleistungen zu Knappheiten führen. Dies dürfte dann jedoch von einer Phase einer stark fallenden Inflation gefolgt werden, wenn die Nachfrage deutlich einbricht, so wie in der ersten Phase der Pandemie im Frühjahr und Sommer 2020. Bei einem solchen Szenario müsste die EZB dann wohl eine schnelle Kehrtwende vollziehen und die Finanzierungsbedingungen verbessern, um eine noch tiefere Rezession und Verwerfungen in den Finanzmärkten zu verhindern.
Wenn die EZB zu zögerlich auf die hohe Inflation reagiert, dann besteht die Gefahr, dass die Inflationserwartungen von Unternehmen, Gewerkschaften und Verbraucher:innen nachhaltig ansteigen. Dann könnte eine hohe Inflation selbsterfüllend werden, weil diese Akteure Preise und Löhne entsprechend hochsetzen werden (Bernoth und Ider, 2021). Beschäftigte und Gewerkschaften könnten angesichts der hohen Inflation auf kräftige Lohnsteigerungen drängen, die wiederum die Inflation befeuern und letztlich einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichten würde. Noch ist derzeit kein signifikanter Lohndruck in Europa und auch nicht in Deutschland erkennbar. Die Reallöhne und damit die Kaufkraft der Einkommen, sind 2020 und 2021 deutlich geschrumpft. Nicht anders dürfte es in diesem Jahr aussehen: Nominal dürften die Löhne in Deutschland laut einer Umfrage des ifo Instituts in diesem Jahr um durchschnittlich 4,7 % steigen, die Preise aber wohl um über 6 % oder mehr.
Je länger die Inflation auf dem hohen Niveau verbleibt, umso größer wird in Europa und Deutschland der Druck von Seiten der Beschäftigten werden, die Löhne nach oben anzupassen, um die Kaufkraft zu behalten. Angesichts der Tatsache, dass die Inflation aufgrund des Kriegs in der Ukraine wohl noch einige Zeit auf hohem Niveau verharren wird, kann sich eine solche Lohnanpassung tatsächlich gesamtwirtschaftlich stabilisierend auswirken. Denn ein Schrumpfen der Reallöhne bedeutet, dass die Kaufkraft der Konsument:innen und somit auch die Nachfrage schrumpft. Unternehmen machen dann weniger Umsatz, können nur noch geringere Löhne zahlen oder müssen eventuell sogar Beschäftigte freistellen. Daher ist eine Lohnentwicklung, die sich an der jeweiligen Produktivität und den Kosten orientiert, gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Der Schlüssel liegt also darin, überzogene Inflationserwartungen zu vermeiden, die die EZB dann ultimativ zwingen würden, ihre Zinsen für lange Zeit sehr stark zu erhöhen, um die davon galoppierende Inflation wieder einzufangen, was zu einer Rezession führen könnte. In der Tat sind die Erwartungen der Inflation in der Eurozone von 1,0 % auf etwas über 2,0 % in den vergangenen zwölf Monaten deutlich angestiegen.
Für zunehmenden geldpolitischen Handlungsbedarf spricht außerdem, dass mittlerweile nicht nur die Energiepreise, sondern auch die Erzeugerpreise und die Preise vieler Dienstleistungen beginnen zu steigen. So ist beispielsweise die Inflation der Produzentenpreise im Frühjahr 2022 auf über 25 % gestiegen, somit könnten früher oder später auch die Konsumentenpreise nochmals anziehen, wenn Unternehmen ihre höheren Kosten weitergeben. Die EZB-Direktorin Isabel Schnabel (2022) argumentierte vor kurzem sehr überzeugend, wieso wir zunehmend eine Globalisierung der Inflation erleben, bei der die globale (und nicht nur die einheimische) Nachfrage eine zunehmend große Wirkung auch auf die Inflation in der Eurozone ausübt (Forbes, 2019). Nicht nur die Inflation, sondern auch Zinsänderungen und Geldpolitik werden zunehmend global übertragen. Vor allem die US-Geldpolitik hat für die Eurozone durch eine direkte und indirekte Transferübertragung zunehmend an Bedeutung gewonnen (Fratzscher et al., 2018). Gleichzeitig haben viele Unternehmen das Ungleichgewicht zwischen starker weltweiter Nachfrage und knappem Angebot aufgrund der nach wie vor unterbrochenen Lieferketten genutzt, um ihre Marktmacht auszubauen und so nicht nur die höheren Inputkosten an die Kundschaft weiterzugeben, sondern auch ihre Gewinnspannen zu erhöhen. Wenn Unternehmen weiterhin diese Marktmacht nutzen, dann könnten die Preise auch in den kommenden Jahren deutlich zulegen. Wenn als Reaktion darauf auch die Löhne kräftig steigen, dann könnte sich eine erhöhte Inflation auch in der Eurozone festsetzen.
Die Unsicherheit ist derzeit enorm groß, wie sich die wirtschaftliche Situation und die Inflation im Euroraum in den kommenden Monaten entwickelt. Dies erfordert einen schwierigen Spagat für die EZB, der aber möglich ist. So könnte die EZB mit den ersten Zinserhöhungen im Juli beginnen, gleichzeitig aber ihr Anleihenkaufprogramm APP auf Sparflamme fortführen. Das Programm könnte dann schnell wieder hochgefahren werden, wenn das Szenario einer Eskalation des Kriegs und einer Rezession sich abzeichnet. Eine solche Lösung hätte auch zahlreiche andere Vorteile, wie dass es manche Verzerrungen der negativen Einlagezinsen eliminieren würde.
Eine dauerhaft höhere Inflation?
Vieles spricht dafür, dass die EZB sich nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig auf eine dauerhafte erhöhte Inflation wird einstellen müssen. Es gibt potenzielle Trends, weshalb wir über die kommenden zehn Jahre nicht unbedingt wieder auf eine Inflation von um die 2 % zurückkehren könnten. Einer dieser Trends ist der Wandel der Globalisierung. Pandemie und Krieg zeigen die Unzulänglichkeit von „Just-in-Time“-Prozessen und Lieferketten, die auf möglichst geringe Kosten und hohe Effizienz in guten Zeiten ausgerichtet sind, in Krisenzeiten jedoch kläglich scheitern. Politik und Wirtschaft müssen jetzt entscheiden, ob an dessen Stelle eine De-Globalisierung oder eine „Just-in-Case“-Globalisierung, also eine resilientere, diversere Struktur globaler Lieferketten, stehen soll. Beide haben gemein, dass sie auf viele Jahre hinaus zu höheren Kosten und somit zu einer höheren Inflation – vor allem in offenen Volkswirtschaften wie der Deutschlands – führen dürften.
Die ökologische Transformation könnte als zweiter Trend zu einer anhaltend hohen Inflation in Europa beitragen. Denn sie zwingt Unternehmen, in die Umstellung von Produktionsprozessen zu investieren. Unternehmen müssen neue Standorte weltweit aufbauen, um Risiken zu diversifizieren. Andere müssen neue Produktionsprozesse einführen, um im globalen Wettbewerb mithalten zu können. Diese strukturell höhere Inflation dürfte durch einen dritten Trend, einen Rohstoff-Superzyklus, weiter befeuert werden. Beispielsweise führt der Umstieg auf Elektromobilität schon jetzt zu einem starken Preisanstieg von Rohstoffen, bei denen die Produzierenden die Nachfrage nicht schnell bedienen können. Hinzu kommt, dass China und Russland direkt oder indirekt Kontrolle über einen großen Teil der für die Transformation notwendigen Rohstoffe, wie seltene Erden, haben und diese Kontrolle als Machtinstrument oder im schlimmsten Fall als Waffe – wie jetzt im Krieg gegen die Ukraine – einsetzen könnten. Nicht wenige sehen zwei weitere Trends – die demografische Alterung im Westen und in China und die zunehmende Staatsverschuldung weltweit – als weitere mögliche Treiber einer hohen Inflation. So sehen beispielsweise die Goodhart und Pradhan (2020) in der Demografie die größte Bedrohung für die Preise, die einerseits das Produktionskapital relativ zur Nachfrage senkt, und andererseits die Löhne in Angesicht eines zunehmenden Arbeitskräftemangels stark ansteigen lassen könnte.
Die gute Nachricht ist: Eine Inflation von 3 % bis 4 % wäre gesamtwirtschaftlich nicht unbedingt schädlich, sondern könnte sogar die wirtschaftliche und ökologische Transformation unterstützen. Denn sie erfordert eine Anpassung relativer Preise. Und da fallende Preise volkswirtschaftlich eher schädlich sind, fördert eine etwas erhöhte Inflation diesen Anpassungsprozess und begrenzt den Schaden. Allerdings würde ein dauerhaft höherer Inflationsdruck die EZB dazu zwingen, ihrer Strategie anzupassen, um dieser neuen Realität Rechnung zu tragen. Die EZB steht vor einer schwierigen Abwägung, denn ein kompletter Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik könnten sich bei einer Eskalation von Krieg und Pandemie als kontraproduktiv erweisen. Moderate Zinserhöhungen bei einer Fortsetzung des Anleihenkaufprogramms mit stark reduzierten oder ausgesetzten weiteren Nettoankäufen könnten sich als klug erweisen, um einerseits die Inflationserwartungen zu verankern und die Glaubwürdigkeit der EZB zu schützen, und andererseits um effektiv auf eine erneute Wirtschaftskrise reagieren zu können.
Literatur
Bernoth, K. und G. Ider (2021), Inflation im Euroraum: Faktoren wirken meist nur temporär, aber Risiko für länger erhöhte Inflation vorhanden, DIW Wochenbericht, 42/2021.
Forbes, K. J. (2019), Has globalization changed the inflation process?, BIS Working Papers, Nr. 791, Bank for International Settlements.
Fratzscher, M., M. Lo Duca und R. Straub (2018), On the spillovers of US Quantitative Easing, Economic Journal, 128(608), 330-337.
Fratzscher, M. (2022), Die unbegründete Angst vor der Lohn-Preis-Spirale, Zeit Online, Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen, 22. April 2022, https://www.zeit.de/serie/fratzschers-verteilungsfragen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (3. Juni 2022).
Goodhart, C. und M. Pradhan (2020), The Great Demographic Reversal: Ageing Societies, Waning Inequality, and an Inflation Revival, Norton.
Schnabel, I. (2022), The globalisation of inflation. Rede, 11. Mai 2022, https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2022/html/ecb.sp220511_1~e9ba02e127.en.html. (3. Juni 2022).