Fast unbemerkt änderte die Europäische Kommission am 5. April 2022 die Mehrwertsteuersystemrichtlinie. Seitdem ist ein Nullsteuersatz auf alle lebensnotwendigen Güter, wozu auch Lebensmittel gehören, möglich (Amtsblatt der Europäischen Union, 2022). Daraufhin wurden in Politik, Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft Stimmen für und gegen einen Nullsteuersatz bei Grundnahrungsmitteln laut (Tagesschau, 2022). Angesichts einer hohen Inflationsrate von 7,9 % im Mai 2022 für den gesamten Warenkorb und 11,1 % für Lebensmittel (Statistisches Bundesamt, 2022b) sowie laut Ifo-Umfrage weiteren absehbaren Preissteigerungen bei 9 von 10 Lebensmittel-Einzelhändlern (Spiegel, 2022) könnte ein Nullsteuersatz als dauerhafte Entlastungsmaßnahme für Verbraucher:innen herangezogen werden. Laut Umfragen unterstützen 77 % der Bevölkerung den Nullsatz auf Grundnahrungsmittel (Süddeutsche Zeitung, 2022) und 71 % auf Obst und Gemüse (Civey, 2022).
Bei der Mehrwertsteuer wird der Endverbrauch besteuert und durch das Unternehmen abgeführt (Bach und Isaak, 2017), indem Unternehmen die im Einkauf gezahlte mit der im Verkauf eingenommen Mehrwertsteuer verrechnen und die Differenz an den Staat abführen. Die Mehrwertsteuersystemrichtline schreibt einen Normalsatz von mindestens 15 % vor und bietet die Möglichkeit zur Einführung von maximal zwei ermäßigten Mehrwertsteuersätzen für lebensnotwendige Güter (unter anderem Lebensmittel), die mindestens 5 % betragen müssen (Amtsblatt der Europäischen Union, 2006). In Deutschland beträgt der ermäßigte Steuersatz 7 % und der Regelsatz 19 % (§ 12 UStG, (1) und (2)). Der Großteil der Nahrungsmittel unterliegt dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz. Luxusnahrungsmittel, wie z. B. Kaviar, Langusten, Hummer, Austern und Schnecken, werden nach dem Regelsatz versteuert (Bach und Isaak, 2017). Im Jahr 2017 entfielen 208,5 Mrd. Euro (92 %) des Aufkommens der Mehrwertsteuer auf den Regelsatz und lediglich 17,8 Mrd. Euro und davon 12,3 Mrd. Euro auf Lebensmittel auf den ermäßigten Satz (Bach und Isaak, 2017). Lebensmittel machten also 2017 nur 5 % des Gesamtaufkommens der Mehrwertsteuer aus. Der Nullsatz auf Lebensmittel könnte unter anderem Obst, Gemüse, Trinkwasser, Milch, Milchprodukte, Fleisch, Fisch, Eier, Honig sowie Getreideerzeugnisse und Backwaren umfassen. Rechtlich wäre auch eine Ausweitung beispielsweise auf Arzneimittel und medizinische Geräte möglich.
Traditionell wird der ermäßigte Mehrwertsteuersätze kritisiert, weil der Wettbewerb zwischen einzelnen Branchen verzerrt wird (Peffekoven, 2010). Bei einer Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel dürfte diese Verzerrung im Vergleich zu eher willkürlichen Privilegierungen (Hotelübernachtungen, Zuchtpferde, Maulesel, Hundefutter, Trüffel) zu vernachlässigen sein, da lebensnotwendige Güter nicht im Wettbewerb mit den restlichen Gütern stehen. Der Wettbewerb abseits der lebensnotwendigen Güter könnte sich durch die steigende Nachfrage eher intensiveren und Wohlstandsgewinne hervorbringen. Abseits der mutmaßlich aufgebauten Wettbewerbsverzerrungen zu den restlichen Gütern werden diese im Markt der lebensnotwendigen Güter abgebaut. Durch das Wegfallen der Besteuerung fällt ebenso die Zusatzlast der Besteuerung (excess burden) weg. Dadurch könnte gemäß simplifizierenden Marktmodellen eine höhere Menge zu einem geringeren Preis bereitstgestellt werden. In der Steuertheorie kommt die Ramsey-Regel aufgrund von Unterschieden bei der (kompensierten) Nachfrage zu einer differenzierten Besteuerung, wobei es unterschiedliche Implikationen für die höhere Besteuerung durch die inverse Elastizitätsregel (hohe Besteuerung bei niedriger Elastizität) und durch die Corlett-Hague-Regel (hohe Besteuerung bei hoher Freizeitkomplementarität) gibt (Eggert et. al., 2010).
Die Mehrwertsteuer ist gemessen am Einkommen eine regressive Steuer. Die relative Belastung ist bei kleinen und mittleren Einkommen deutlich höher als bei hohen Einkommen. Dies ist insbesondere bei der Betrachtung von Periodeneinkommen unstrittig. Im Gegensatz zur Einkommensteuer richtet sich die Mehrwertsteuer nicht nach der individuellen Leistungsfähigkeit wie andere Steuern. Dieser Unterschied wird auch mit Blick auf die Aufkommensdaten deutlich: 2018 zahlte die einkommensschwächere Hälfte der Bevölkerung 4 % des Einkommensteueraufkommens, 36 % des indirekten Steueraufkommens (DIW, 2017) und sogar 41 % des Aufkommens der ermäßigten Mehrwertsteuer (Bach und Isaak, 2017). Sie ist also deutlich besser geeignet, um kleine und mittlere Einkommen zu entlasten – insbesondere bei Menschen kurz über der Armutsschwelle, die mit Sozialleistungen nicht adressierbar sind. Daher würde die Verteilungswirkung eines Nullsteuersatzes auf Lebensmittel ergeben, dass das unterste Einkommensdezil 2017 um rund 74 Euro im Jahr bzw. 0,94 % ihres Nettoeinkommens entlastet und das oberste Einkommensdezil hingegen um 163 Euro im Jahr bzw. 0,36 % ihres Nettoeinkommens entlastet werden.
Verbraucher:innen mit niedrigen Einkommen werden durch einen Nullsteuersatz gemessen an ihrem Einkommen fast dreimal so stark profitieren wie die Spitzeinkommen. Mit steigendem Einkommen nimmt die relative Entlastung immer weiter ab und die absolute Entlastung zu (vgl. Abbildung 1). Kritiker:innen nutzen dies als Gegenargument gegen den Nullsteuersatz, weil eine steigende absolute Entlastung dem Verteilungsziel widerspräche. Umgekehrt ist die Mehrwertsteuer eine der ungeeignetsten Steuern, um verteilungspolitische Ziele bei Spitzeneinkommen zu verfolgen, da sie dort einen verschwindend geringen Anteil der Gesamtsteuerlast ausmacht (DIW, 2017). Zur Erreichung der Verteilungsziele wären andere Steuern wesentlich besser geeignet, deren Effektivität durch einen Nullsatz auch nicht verringert wird.
Abbildung 1
Entlastung durch auf Null gesenkte Mehrwertsteuer für Lebensmittel
1 Zur Vereinfachung wurde angenommen, dass das Aufkommen des ermäßigten Mehrwertsteursatzes für alle Dezile zu 68 % auf Ausgaben für Lebensmittel basiert.
Quelle: Bach und Isaak (2017).
Diese Berechnungen erfolgten unter der Annahme der vollständigen Weitergabe in Form gesenkter Preise, die unter Bedingungen eines perfekten Marktes langfristig eintreten würden. Die realen Märkte sind aber nicht perfekt. Wie stark und wie schnell die Senkung in Form niedrigerer Preise von den Firmen weitergegeben wird, hängt von den Bedingungen des Markts, insbesondere der Preiselastizität der Nachfrage, der Wettbewerbssituation und der Konjunkturlage (Peffekoven, 2010), ab. Die temporäre Mehrwertsteuersenkung 2020 kann hierbei für das Ergebnis der Weitergabe basierend auf den Marktbedingungen als Indikator herangezogen werden. Die Senkung wurde 2020 gesamtwirtschaftlich zu rund 60 % (Bundesbank, 2020) weitergegeben. In Supermärkten wurde über 70 % der Senkung und bei Lebensmitteln sowie nichtalkoholischen Getränken 80 % der Senkung weitergegeben (Fuest et. al., 2022). Im Gegensatz zum hier skizzierten Vorschlag war die damalige Senkung temporär und mit zwei Prozentpunkten deutlich kleiner, was einen Einfluss auf den Anteil der Weitergabe haben könnte. Es gibt sowohl Argumente für als auch gegen die jeweilige These. Zum einen könnte die Erwartung auf eine bevorstehende Erhöhung der Mehrwertsteuer auf den Regelsatz zu einem hohen Grad der Weitergabe geführt haben. Zum anderen besteht jedoch die Möglichkeit, dass ein Nullsteuersatz auf Lebensmittel unter hoher medialer, behördlicher, wettbewerblicher und politischer Aufmerksamkeit stände, was den Druck zur Weitergabe erhöhen könnte. Bei hochpreisigen Grundnahrungsmitteln dürfte die Weitergabe geringer ausfallen, da in dem Segment die Relevanz des Preiswettbewerbs abnimmt.
Kritiker:innen des Nullsatzes begründen ihre Ablehnung unter anderem auch mit Skepsis über die Finanzierung der Maßnahme. Bei einer Einführung für die zweite Jahreshälfte 2022 wären dies ein hoher einstelliger Milliardenbetrag, der in der Höhe mit der Abschaffung der EEG-Umlage oder der Energiepreispauschale vergleichbar ist. Die jährlichen Steuerausfälle wären unter Beibehaltung dreier politischer Variablen nicht realisierbar: Die erneute Einhaltung der Schuldenbremse ohne Reformen, das Ausbleiben von Steuererhöhungen und die Ablehnung einer Umschichtung des Bundeshaushalts. Sobald eine dieser Variablen als flexibel betrachtet wird, ist die Maßnahme finanzpolitisch umsetzbar.
Ein weiteres Argument der Kritiker:innen ist die geringe Zielgenauigkeit auf die bedürftigen Personen, die darauf stützt, dass auch die oberen Einkommensdezile Entlastungen erhalten. Wenn man dies vor dem Hintergrund der Entlastungspakete betrachtet, wäre die Mehrwertsteuersenkung eine der universalistischen Maßnahmen, vergleichbar mit der Energiepreispauschale, der Abschaffung der EEG-Umlage sowie der Senkung der Energiesteuern. Die Umfinanzierung der EEG-Umlage hat eine ähnliche Zielgenauigkeit und Verteilungswirkung wie die Einführung des Nullsatzes (Bach und Knautz, 2022), wenngleich das Volumen der Entlastung nur halb so groß wäre. Für die Umfinanzierung der EEG-Umlage gab es nennenswerte Einigkeit in Teilen der Wissenschaft wie z. B. im Sachverständigenrat (Handelsblatt, 2022), wie in der Politik, wo ein breites Bündnis aus SPD, Grünen und FDP sowie CDU/CSU und Linke dafür stimmten (Deutscher Bundestag, 2022). Im Gegensatz zu Maßnahmen wie z. B. der Energiepreispauschale, die in ähnlicher Ausgestaltung auch als Lebensmittelpreispauschale denkbar wäre, hat die Mehrwertsteuersenkung eine hohe Verbrauchsgerechtigkeit, da sie über den Preis nur diejenigen entlastet, die auch höhere Kosten haben. Die Lebensmittelpreispauschale hingegen könnte keine individuellen Verbrauchsmerkmale wie den Bedarf berücksichtigen, sondern müsste über unterschiedliche Instrumente einzelne Gruppen einbeziehen.
Abseits dieser Punkte hat der Nullsatz auf die Mehrwertsteuer weitere Vorteile. Im Zuge der anhaltenden Preissteigerungen hat diese Maßnahme im Gegensatz zu Einmalzahlungen den Vorteil, dass sie sich als permanente Dämpfung der Preisentwicklung auswirken kann, denn jede z. B. produktionsbedingte Preiserhöhung zieht einen Aufschlag durch die Mehrwertsteuer nach sich. Dies würde permanent die Preisentwicklung bei Lebensmitteln abflachen. Kurzfristige würde sich die gesamte Inflationsrate um rund 0,68 Prozentpunkte1 verringern. Da Lebensmittel mit fast 10 % (Statistisches Bundesamt, 2022a) einen nicht zu vernachlässigenden Anteil am Warenkorb der Inflationsmessung ausmachen, dürfte die Mehrwertsteuersenkung auch die Inflationserwartung in geringem Umfang mindern. Außerdem ergäbe sich eine Entlastungsverstärkung für alle weiteren Maßnahmen, da die Steuerbelastung beim Konsum von Lebensmitteln durch andere Maßnahmen vermieden wird. Zudem dürfte die Verbrauchsgerechtigkeit und der universalistische Ansatz eine Verzerrung der wirtschaftspolitischen Debatte verringern, um dem Argument vorzubeugen, dass eine Personengruppe aufgrund bereits erhaltener Leistungen keinen Anspruch mehr auf Reformen hat. Auch für Kleinunternehmer:innen, die Lebensmittel einkaufen, wäre der Nullsatz von Vorteil. Bei Kleinhändler:innen z. B. dürfte sich der Bruttoverkaufspreis am Markt orientieren und die Marge durch den wegfallenden Mehrwertsteuersatz beim Einkauf erhöhen.
Als Hürde könnte auch der Erfüllungsaufwand genannt werden. Dieser lag bei der Mehrwertsteuersenkung 2020 nach Schätzungen bei 239 Mio. Euro (Handelsblatt, 2020). Allerdings bezieht sich dieser Aufwand auf eine deutlich höhere Produktzahl und dürfte auch den Erfüllungsaufwand der Erhöhung beinhalten. Der Erfüllungsaufwand für die Verwaltung hingegen ist mit 2 Mio. Euro sehr gering (Deutscher Bundestag, 2020). Angesichts einer dauerhaften Entlastung dürfte der Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft und die Verwaltung im Verhältnis zur Entlastung eher gering ausfallen. Alles in allem ist der nun rechtlich mögliche Nullsteuersatz auf Lebensmittel ein geeignetes Mittel, um kleine und mittlere Einkommen steuerlich verbrauchsgerecht zu entlasten.
- 1 Eigene Berechnung auf Basis des Warenkorbanteils und des Mehrwertsteueranteils unter Annahme der vollständigen Weitergabe.
Literatur
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Amtsblatt der Europäischen Union (2022), Richtlinie (EU) 2022/542 des Rates vom 5. April zur Änderung der Richtlinien 2006/112/EG und (EU) 2020/285 in Bezug auf die Mehrwertsteuersätze, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32022L0542 (6. Mai 2022).
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Bach, S. und J. Knautz (2022), Hohe Energiepreise: Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker belastet als reichere Haushalte, DIW Wochenbericht, 17, 247.
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Deutscher Bundestag (2020), Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise, https://dserver.bundestag.de/btd/19/200/1920058.pdf (6. Mai 2022).
Deutscher Bundestag (2022), Bundestag stimmt für die Abschaffung der EEG-Umlage, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw17-de-eeg-umlage-889580 (2. Mai 2022).
DIW (2017), Senkt die Mehrwertsteuer!, https://www.diw.de/de/diw_01.c.559408.de/publikationen/zeitungs_und_blogbeitraege/2017/senkt_die_mehrwertsteuer.html (2. Mai 2022).
Eggert, W., T. Krieger und S. Stöwhase (2010), Sollte der ermäßigte Mehrwertsteuersatz abgeschafft werden?, Wirtschaftsdienst, 90(11), 742-748, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2010/heft/11/beitrag/sollte-der-ermaessigte-mehrwertsteuersatz-abgeschafft-werden.html (16. Mai 2022).
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