Die Inflation ist zurück und so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr. Im Mai 2022 betrug die Preissteigerungsrate 7,9 % gegenüber dem Vorjahresmonat. Aufs Jahr rechnen die Institute derzeit mit rund 6 %, allerdings mit erheblichen Aufwärtsrisiken. Der mit Abstand stärkste Inflationstreiber sind dabei mit 38 % die Energiepreise. Aber auch Lebensmittel sind mit 11 % bereits empfindlich teurer geworden. Bei den Dienstleistungen war der Preisanstieg mit 2,9 % noch relativ gering, doch auch hier geben die Unternehmen ihre gestiegenen Kosten mittlerweile weiter. Insgesamt ist Europa mit einer Reihe von negativen Angebotsschocks konfrontiert. Neben dem Ukrainekrieg sind das insbesondere die gewaltigen Disruptionen im globalen Güterverkehr infolge der strikten chinesischen Null-Covid-Politik. Und das Ende der Fahnenstange ist möglicherweise noch nicht erreicht. Es drohen weitere heftige Preissprünge in den kommenden Monaten – etwa im Fall eines russischen Lieferstopps beim Gas oder bei den Lebensmitteln durch kriegsbedingte Ernteausfälle und gezielte Angebotsverknappungen von Russland.
Wie kann die Wirtschaftspolitik auf diese Form der Inflation reagieren? Hierfür lohnt zunächst ein Vergleich mit den USA, wo die globale Teuerung ihren Ausgang nahm. Auch die USA sind mit Angebotsschocks konfrontiert, aber dort findet zusätzlich eine stark von der Nachfrageseite getriebene Entwicklung statt. Angefacht wurde das durch die expansive Coronapolitik der Präsidenten Trump und Biden, die extrem voluminöse Hilfs- und Konjunkturprogramme in einem Umfang von mehr als 5 Billionen US-$ auf den Weg gebracht haben. Dieser überdimensionierte Stimulus, der weit oberhalb der geschätzten Output-Lücke lag, führte zu einer konjunkturellen Überhitzung, einem leer gefegten Arbeitsmarkt und einer veritablen Lohn-Preis-Spirale.
Die europäische Inflation ist dagegen anders gelagert. Auf der Nachfrageseite erleben wir zwar auch eine Normalisierung nach der Pandemie und spüren die Auswirkungen des US-amerikanischen Konsumbooms. Aber eine vergleichbare Überhitzung der inländischen privaten Nachfrage findet hierzulande nicht statt. Verfügbare Haushaltseinkommen wurden im Pandemieverlauf zwar durch die europäischen Staaten abgesichert, aber nicht wie in den USA überkompensiert. Die Summe aller (nationalen und europäischen) fiskalischen Stimuli war weniger als halb so groß wie in den USA und entsprach näherungsweise der Output-Lücke. Für eine Lohn-Preis-Spirale fehlt in Europa deshalb weiterhin die Evidenz. Aktuell droht eher das Gegenteil: massive Reallohnverluste, weil die realisierten Nominallohnsteigerungen (die 2022 im Durchschnitt der Eurozone bei ca. 3 % liegen dürften) weit hinter der Inflationsrate zurückbleiben. Kurzum: Europa hat, aufgrund der höheren Abhängigkeit von russischer Energie, vor allem mit einer viel unmittelbareren Angebotsinflation zu tun, die in viele Wirtschaftsbereiche ausstrahlt.
Diese Diagnose hat zuallererst Konsequenzen für die Geldpolitik, die gemäß ihrem Mandat gefordert ist. Doch was soll die Europäische Zentralbank gegen die aktuelle Teuerung ausrichten? Sie kann weder chinesische Lieferketten reparieren noch für sinkende Energiepreise sorgen. Natürlich muss die EZB achtsam sein, damit es nicht zu einer Entankerung der Inflationserwartungen kommt. Eine geldpolitische Normalisierung ist deshalb angezeigt. Aber sicherlich keine Vollbremsung, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auf das gesunkene Niveau des Angebots zurechtzustutzen. Auch in der Fiskalpolitik wäre ein solcher Kurs fatal. An den aktuell hohen Preisen würde sich kurzfristig kaum etwas ändern, aber zur Inflation würde sich eine hausgemachte Rezession gesellen. Die zielführende Antwort in der gegenwärtigen Situation besteht darin, die Folgen der Inflation sozial abzufedern und durch geeignete Angebotspolitik sukzessive abzubauen. Für das erste Element – die Abfederung – hat die Bundesregierung bereits Entlastungspakete im Umfang von über 30 Mrd. Euro auf den Weg gebracht (BMF, 2022). Im Idealfall sollten diese Pakete so konstruiert sein, dass Preissignale ungestört zur Wirkung kommen, um entsprechende Sparanreize nicht zu verwässern. Dafür sollten Menschen mit geringen Einkommen gezielte Transfers erhalten, da sie am stärksten unter den gestiegenen Preisen leiden (Bach und Knautz, 2022).
Gemessen an diesem Kriterium bringen die diversen Einzelmaßnahmen der Pakete insgesamt Licht und Schatten. Richtig konstruiert sind der Zuschlag bei der Grundsicherung, der Heizkostenzuschuss beim Wohngeld und der Kinderbonus. Das pauschale Energiegeld für alle Erwerbstätigen unterliegt richtigerweise der Einkommensteuer und entlastet somit hohe Einkommen weniger. Trotzdem stellt der Weg über die Arbeitgeber:innen eine Behelfslösung dar, weil eine direkte Auszahlung staatlicher Transfers weiterhin administrativ nicht umsetzbar ist. Ebenfalls gemischt fällt das Fazit zum 9-Euro-Ticket aus. Es schafft eine temporär sprunghaft gestiegene Nachfrage nach Beförderungsdienstleistungen, die aber auf ein weitgehend unverändertes Angebot trifft und folglich Anfang Juni zu überfüllten Zügen im Regionalverkehr geführt hat. Eindeutig kontraproduktiv ist die temporäre Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe. Dieser „Tankrabatt“ entlastet vor allem die oberen Einkommenssegmente und liefert gerade keinen Anreiz zum Energiesparen. Zudem besteht die Gefahr, dass ein Teil der steuerlichen Förderung am Ende von den Raffineriebetreibern als zusätzliche Profitmarge (Übergewinn) vereinnahmt wird. Sollten im Laufe des Jahres zusätzliche Risiken eintreten, sind weitere Entlastungspakete unvermeidlich. So dürfen bei Eintreten der Stufe 3 des Gasnotfallplans die Versorger auch langfristige Verträge anpassen. Es drohen dann immense Heizkostenanstiege sowie disruptive Produktionsstopps in der gasintensiven Industrie – möglicherweise neben einer sich parallel entfachenden Lebensmittelknappheit. Schon heute muss deshalb über das Design und die Finanzierungsoptionen weiterer Entlastungspakete diskutiert werden. Die Wiederauflage von Preisdeckeln jeder Art sollte dabei unterbleiben. Stattdessen sollte der Fokus auf der Sicherstellung eines gewissen Konsumpotenzials in den unteren Bereichen der Einkommensverteilung liegen. Zur Finanzierung ist ein nochmaliges Aussetzen der Schuldenbremse zwar die bequemste, aber nicht die angemessene Lösung. Denn im Kern geht es um Umverteilung, was sich folglich in entsprechender Besteuerung hoher Einkommen (oder Vermögen) widerspiegeln sollte.
Zum langfristigen Abbau der Inflation tragen die Entlastungspakete aber nichts bei. Hier ist die zweite Säule wichtig – eine Angebotspolitik zur Ausweitung des Produktionspotenzials. Der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien sollte eine der obersten Prioritäten sein, nicht nur für den Klimaschutz, sondern auch aus geopolitischem Interesse. Die Investitionsagenda der Ampelkoalition sieht diese Projekte unverändert vor, gerät aber in Gefahr, wenn die Fiskalpolitik jetzt wegen falsch interpretierter Inflationsursachen auf einen restriktiven Kurs umschwenkt. Sie war keine Inflationstreiberin und wird es auch zukünftig nicht werden. Denn die Investitionen wirken sich schon mittelfristig auf der Angebotsseite aus und führen zu einer Entspannung der Angebotsengpässe und damit der Inflation.
Literatur
Bach, S. und J. Knautz (2022), Hohe Energiepreise: Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker belastet als reichere Haushalte, DIW-Wochenbericht 17, 243-251.
BMF – Bundesministerium der Finanzen (2022), Schnelle und spürbare Entlastungen, https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Schlaglichter/Entlastungen/schnelle-spuerbare-entlastungen.html (8. Juni 2022).