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Die Bundesregierung will das System der Grundsicherung für Arbeitsfähige radikal reformieren. Neben der Abschaffung des Vermittlungsvorrangs und der Stärkung der Qualifizierung will sie vor allem die Zuverdienstmöglichkeiten für Hilfeempfänger:innen verbessern. Fachleute zerbrechen sich schon lange den Kopf, wie die prohibitiv hohen Transferentzugsraten, also die Anrechnung von Markteinkommen auf den Transfer, auf ein erträgliches Maß gesenkt werden können, ohne dass das System zu teuer wird. Eine Lösung könnte in einer Variante des „Workfare“-Modells liegen, die aus einer Absenkung des Sockeltransfers und einer Arbeitsplatzgarantie des Staates besteht, sodass jeder Arbeitsfähige zur Deckung seines Grundbedarfs durch Arbeit beiträgt.

Mehr als 15 Jahre nach den Hartz-Reformen ist eine heftige politische Debatte über das System der Grundsicherung in Deutschland entbrannt. Das Hartz IV-System des Förderns und Forderns hat nur noch wenige Anhänger:innen. Nach dem vielzitierten Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019 sind auch die Sanktionen gegenüber Leistungsempfänger:innen, die ihren Pflichten bei der Arbeitsplatzsuche nicht nachkommen, stärker denn je in die Kritik geraten. Nicht zuletzt deswegen will die Bundesregierung sie demnächst für zwölf Monate bis auf einen geringen Rest aussetzen.

Ziele der Reform laut Koalitionsvertrag

Die Pläne der Ampelkoalition zur Reform der Grundsicherung sind auf den Seiten 59 bis 61 des Koalitionsvertrags (2021) aufgelistet. Neben den eher deklamatorischen Elementen wie der neuen Namensgebung „Bürgergeld“ und der Ankündigung, „die Würde des Einzelnen zu achten“ und eine „Beratung auf Augenhöhe“ zu gewährleisten, erscheinen vor allem die folgenden Ziele zentral und zugleich konsensfähig:

  1. Die Integration in den Arbeitsmarkt muss nachhaltig sein. Zu diesem Zweck soll der Vermittlungsvorrang im SGB II abgeschafft und stattdessen die Förderung der Weiterbildung und Qualifizierung gestärkt werden.
  2. Die Zuverdienstmöglichkeiten sollen verbessert werden, um die Anreize zur Integration in sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit zu erhöhen.

    Die Abschaffung der Sanktionen steht zwar nicht explizit im Koalitionsvertrag, aber aus der Formulierung „Für Konfliktfälle schaffen wir einen unabhängigen Schlichtungsmechanismus“ kann man ablesen, dass das dritte Ziel lautet:

  3. Leistungskürzungen als Instrumente diskretionärer Sanktionsmaßnahmen sollen nach Möglichkeit vermieden werden.

    Weitere Postulate für ein System der Grundsicherung

    Zusätzlich sollte die Grundsicherung Folgendes erfüllen:

  4. a) Der Staat schuldet seinen Bürger:innen die Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne eines sozio-kulturellen Existenzminimums, b) kann dafür aber als Gegenleistung verlangen, dass die Empfänger:innen von Transfers im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen Beitrag dazu leisten, die dafür erforderlichen Mittel zu erwirtschaften.
  5. Der Staat garantiert den Betroffenen, die Gegenleistung aus Postulat 4b erbringen zu können, indem er ihnen für den Notfall einen Arbeitsplatz mit einer begrenzten Stundenzahl zur Verfügung stellt.
  6. Schließlich sind die fiskalischen Kosten der Grundsicherung unter Beachtung der übrigen Postulate möglichst gering zu halten.

Man beachte, dass Postulat 4b die Ablehnung eines bedingungslosen Grundeinkommens impliziert. Im Gegenteil drückt es aus, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist: Die Gesellschaft verhält sich solidarisch gegenüber ihren ärmsten Mitgliedern, die auf dem freien Arbeitsmarkt keine Stelle finden können, indem sie sie versorgt, aber sie verlangt auch die Solidarität der Hilfeempfänger:innen in Form der genannten Gegenleistung. Dies ist eine abgemilderte Form des „Workfare“-Konzepts von Besley und Coate (1992), nach dem alle Empfänger:innen von Grundsicherung dem Staat eine Gegenleistung in Form von Arbeitsstunden zur Verfügung stellen müssen und das vor allem als Selbstselektionsinstrument dient: Personen mit höherer Arbeitsproduktivität sollen auf den Transfer verzichten. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Zielgruppe des SGB II ausschließlich arbeitsfähige Personen umfasst, konkret Personen, die mindestens drei Stunden am Tag arbeiten können.

Das „Recht auf Arbeit“, das in Postulat 5 ausgesprochen wird, wäre ein Novum im deutschen Sozialrecht. Es ist aber zum einen die notwendige Ergänzung zu Postulat 4b; zum anderen kann man die Rahmenbedingungen des Systems der Grundsicherung so gestalten, dass die Zahl der Personen, die die staatliche Beschäftigungsgarantie in Anspruch nehmen, so klein wie möglich gehalten wird. International betrachtet, wäre es keineswegs ein Sonderfall. Der große Sozialökonom Anthony Atkinson (2015, 140-142) argumentiert, der Staat solle als „employer of last resort“ wirken, und führt an, dass innerhalb Europas, bezogen auf 2010, Belgien, Irland und Frankreich erheblich größere Summen für Programme zur Beschaffung von Arbeitsplätzen ausgeben als beispielsweise Deutschland.

Zielkonflikte beim Design einer Transferfunktion

Eine wichtige Rolle bei der Charakterisierung eines Systems der Grundsicherung spielt die „Transferfunktion“, die den Zusammenhang zwischen dem Markteinkommen und dem verfügbaren Einkommen eines Transferempfängers beschreibt. Sie lässt sich schematisch anhand dreier Größen kennzeichnen:

  • Den Sockeltransfer erhält eine Person, die keine anderen Einkommensquellen hat, zusätzlich zur Übernahme der Wohnungskosten als Geldleistung vom Staat.
  • Die Transferentzugsrate ist der Prozentsatz am selbst verdienten Einkommen, der dem Hilfeempfänger auf die Grundsicherung angerechnet (und somit von ihr abgezogen) wird. Dieser Prozentsatz kann selbst einkommensabhängig gestaltet werden.
  • Die Transfergrenze ist jenes Niveau des Markteinkommens, bei dem der letzte Euro an Unterstützung wegfällt.

Diese Größen können nicht unabhängig voneinander gewählt werden, denn je höher der Sockeltransfer und je geringer die Transferentzugsrate, desto höher liegt die Transfergrenze. Beim Design der Transferfunktion müssen Zielkonflikte zwischen den Zielen berücksichtigt werden: Eine Erhöhung des Sockeltransfers gibt den Leistungsbeziehenden mehr finanziellen Spielraum, erhöht jedoch die Kosten für den Staat. Eine Senkung der Transferentzugsrate steigert zwar die Arbeitsanreize, führt jedoch zu einem Anstieg der Transfergrenze. Während der erste Effekt die fiskalischen Kosten senkt, hat der zweite die entgegengesetzte Wirkung.

In der Grundsicherung wird die gegenwärtige Transferentzugsrate von vielen Kritisierenden als zu hoch empfunden. Dabei ist ein Grundprinzip des SGB II eine mit dem Einkommen steigende Transferentzugsrate. Bei Alleinstehenden beträgt sie – jenseits eines Freibetrags von 100 Euro – zunächst 80 %, ab 800 Euro 90 % und ab 1.200 Euro sogar 100 %. Entsprechend niedrig ist der effektive Stundenlohn einer zum gesetzlichen Mindestlohn beschäftigten Person. Selbst nach der Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro wird er nur bei 2,40 Euro bzw. 1,20 Euro liegen.1 Die Höhe der Transfergrenze hängt von den Wohnungskosten ab und beläuft sich, wenn letztere z. B. 500 Euro betragen, auf 1.229 Euro.

Mit dem Einkommen fallende Transferentzugsraten?

Ein neuerer Vorschlag des ifo Instituts zur Reform des Grundsicherungssystems beruht auf der Idee, die Rangfolge niedriger und hoher Transferentzugsraten umzudrehen (Blömer et al., 2019). Konkret wird vorgeschlagen, bei Alleinstehenden für einen Hinzuverdienst bis 630 Euro die Rate auf 100 % anzuheben und bei Personen mit Kindern auf 80 %. Da dieser Betrag über dem Regelsatz von derzeit 449 Euro liegt, würde einer kinderlosen Person mit 630 Euro Markteinkommen nur noch ein Teil der Wohnungskosten erstattet, und ihr verfügbares Einkommen wäre genauso hoch, wie wenn sie gar kein Markteinkommen erzielte. Für alle Einkommen, die über 630 Euro hinausgehen, beträgt die Entzugsrate 60 %, d. h. von jedem zusätzlich verdienten Euro dürfen dann 40 Cent behalten werden. Ein ähnlicher Vorschlag von Schöb (2020, 143) begrenzt die Vollanrechnung auf die Höhe des Regelbedarfs; dafür beträgt die Transferentzugsrate bei zusätzlichen Einkommen 70 %. Schöb hebt hervor, dass sich dann eine geringfügige Beschäftigung für die Transferempfänger:innen nicht mehr lohnt, sodass sie entweder gar nicht oder (viel) mehr arbeiten werden. Dies wird als erwünscht bezeichnet, da es das Ziel der Gesellschaft sein solle, Langzeitarbeitslose aus der Niedrigeinkommensfalle zu befreien und wieder in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu integrieren.

Kritisch ist anzumerken, dass gerade Personen, die nur in Teilzeit arbeiten können oder wollen, einen starken Anreiz zur Schwarzarbeit haben, um die prohibitiv hohen Transferentzugsraten zu vermeiden. Dies betrifft nicht nur die Grenzbelastung, sondern auch die Durchschnittsbelastung auf das verdiente Markteinkommen: Im ifo-Modell beträgt die Durchschnittsbelastung bis 630 Euro Verdienst 100 %, bei 840 Euro (nach Abzug der Sozialabgaben),2 d. h. ca. 82 Stunden zum zukünftigen Mindestlohn von 12 Euro, immer noch 90 %. Ebenso wird implizit angenommen, dass die zu geringen Anreize für den betrachteten Personenkreis das einzige Hindernis darstellen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder in Vollzeit zu arbeiten. Neben der Unfähigkeit, in Vollzeit zu arbeiten, könnten auch Hindernisse auf der Nachfrageseite bestehen, sodass eine für die Person leistbare Arbeit in ihrer Region gar nicht zur Verfügung steht.

Ein möglicher Ausweg: Absenkung der Transferentzugsrate und des Sockeltransfers

Üblicherweise wird in der Diskussion über die Gestaltung der Grundsicherung immer von der Annahme ausgegangen, dass der Sockeltransfer dem Regelbedarf entsprechen muss, d. h. dem Betrag, der – abhängig von der Haushaltsgröße – zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums erforderlich ist. Dabei wird stillschweigend unterstellt, dass die betroffene Person nicht arbeitet. Eine alternative Sichtweise würde dagegen von den Postulaten 4b und 5 ausgehen, also von der Grundannahme, dass jeder arbeitsfähige Mensch einen Beitrag zur Sicherung seines Lebensunterhalts leisten sollte – wenn erforderlich mit Unterstützung des Staates bei der Bereitstellung eines Arbeitsplatzes.3

Die Kombination aus abgesenktem Sockeltransfer und verringerten Transferentzugsraten könnte dabei so ausgestaltet werden, dass erwerbsfähige Personen, die mindestens drei Stunden täglich arbeiten, nicht nur mehr von ihrem Verdienst behalten können, sondern zusammen mit dem Transfereinkommen ein höheres Gesamteinkommen erzielen als im bisherigen System bei Arbeitslosigkeit. Eine Kombination aus niedrigerem Sockeltransfer und niedrigerer Entzugsrate bei Zuverdienst würde damit die Anreize, eine Arbeit aufzunehmen bzw. mehr Stunden zu arbeiten, deutlich erhöhen. Dies wäre erstrebenswert, da heute nur ein geringer Prozentsatz der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (die prinzipiell drei Stunden pro Tag arbeiten können) tatsächlich in Voll- oder Teilzeit arbeitet.

Eine solche Reform muss dabei bestimmte Rahmenbedingungen beachten. Um mit dem Grundgesetz vereinbar zu sein, muss das physische Existenzminimum durch staatliche Hilfe garantiert sein. Hierzu zählen die Kosten einer angemessenen Wohnung sowie ein bestimmter Anteil des Regelbedarfs. Man könnte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.11.2019 in Verbindung mit der Forderung von § 2 SGB II, dass die Person „alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung der Hilfebedürftigkeit ausschöpfen“ muss, so interpretieren, dass der Staat seine Pflichten gegenüber dem Hilfeempfänger erfüllt, wenn er ihm 70 % des Regelbedarfs (also derzeit 314 Euro) bedingungslos zur Verfügung stellt und ihm zudem „Möglichkeiten zur Verringerung der Hilfebedürftigkeit“ durch Arbeit offeriert.

Im Gegenzug bleibt der Hinzuverdienst bis zum Regelbedarf anrechnungsfrei, d. h. der „Freibetrag“ wird beim derzeitigen Wert des Regelbedarfs von 449 Euro von 100 auf (gerundet) 135 Euro angehoben und die Transferentzugsrate für alle weiteren Einkünfte auf 70 % abgesenkt. Damit werden im Vergleich zum Status quo alle Personen bessergestellt, die mehr als 1.000 Euro Markteinkommen (nach Sozialabgaben) erzielen können. Das sind beim künftigen Mindestlohn von 12 Euro Personen, die mindestens 101 Stunden pro Monat oder ca. 24 Stunden in der Woche arbeiten. Dagegen stellen sich beim ifo-Vorschlag mit Vollanrechnung der ersten 630 Euro Markteinkommen alle Hilfeempfänger schlechter als heute, weil der rechnerische Wert, bei dem beide Systeme das gleiche verfügbare Einkommen bedeuten würden, bei 1.373 Euro liegt und damit über der derzeitigen Transfergrenze von 1.229 Euro.

In Abbildung 1 sind die drei Transfersysteme, der Status quo, der ifo-Vorschlag und der hier vertretene Vorschlag (FB) grafisch am Beispiel eines Alleinstehenden mit Wohnungskosten in Höhe von 500 Euro pro Monat dargestellt: Die Abszisse misst das Markteinkommen nach Abzug der Sozialabgaben nach dem ab 1.10.2022 gültigen Midijob-Tarif, die Ordinate misst das verfügbare Einkommen und die 45°-Linie kann als Transfergrenze interpretiert werden. Es fällt auf, dass die Kurve für den neuen Vorschlag FB im gesamten Bereich und die des ifo-Vorschlags von 630 Euro Markteinkommen an deutlich steiler verlaufen als die für den Status quo, dass aber die des ifo-Vorschlags im relevanten Bereich weit unterhalb der beiden anderen liegt.

Abbildung 1
Vergleich der Transfersysteme
Vergleich der Transfersysteme

Quelle: eigene Berechnungen.

Ein Phasenmodell der Instrumente

Unter Berücksichtigung des Ziels Nr. 1 aus dem Koalitionsvertrag könnten die Regeln, nach denen ein Hilfeempfänger vom Staat unterstützt wird, danach gestaltet werden, wie lange er oder sie bereits dem System der Grundsicherung unterworfen ist. Die unterschiedlichen Instrumente würden als Phasenmodell in das SGB-II integriert werden.

In der ersten Phase nach Eintritt in den Leistungsbezug, idealerweise bereits vor Ablauf der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld, sollte die Weiterbildung geplant werden, sofern abzusehen ist, dass einem Wiedereintritt in eine reguläre Beschäftigung Hindernisse entgegenstehen und eine Weiterbildung als vielversprechend im Hinblick auf die Wiedereingliederung in den regulären Arbeitsmarkt angesehen werden. Zur Weiterbildung gehören sowohl eine bei Bedarf mehrjährige berufliche Qualifizierung als auch bei Nicht-Deutschen intensive Sprachkurse zum Abbau sprachlicher Zugangsbarrieren für den Arbeitsmarkt. Während dieser Phase hat die Person Anspruch auf den vollen Regelbedarf, zuzüglich eines Weiterbildungsbonus, wenn das politisch gewünscht wird. Personen, für die eine Weiterbildung nicht nötig oder vielversprechend erscheint, treten sofort in Phase 2 ein. Alle anderen treten in diese Phase nach Abschluss ihrer Qualifizierung ein, auch dann, wenn diese nicht erfolgreich war, jedoch eine weitere Ausbildungsmaßnahme nicht als aussichtsreich beurteilt wird.

In der zweiten Phase der Arbeitssuche und -vermittlung steht das Ziel im Vordergrund, die Person auf ein reguläres nicht subventioniertes Beschäftigungsverhältnis zu vermitteln. In dieser Phase, die nicht länger als zwölf Monate dauern sollte, wird weiter der volle Regelbedarf gezahlt.

Am Ende dieser zwölf Monate beginnt die dritte Phase, die Aktivierungsphase, in der die Absenkungen des Sockeltransfers und der Transferentzugsrate um jeweils 30 % wirksam werden. Hier kann man drei Personengruppen unterscheiden: Die erste Gruppe umfasst Personen, die bei der Arbeitssuche erfolgreich waren, jedoch aufgrund niedrigen Arbeitsentgelts oder der Haushaltsgröße weiterhin von Transfers abhängig sind. Für diese Personen hat der geänderte Tarif die Funktion eines „Aufstocker-Tarifs“. Der Sockeltransfer ist dabei eine rein fiktive Größe, da die Person ja arbeitet. Er dient lediglich dazu, die Höhe des staatlichen Transfers zu berechnen, auf den die aufstockende Person Anspruch hat. Die zweite Gruppe besteht aus Personen, bei denen die zweite Phase ohne Vermittlungserfolg zu Ende gegangen ist. Das Ziel der Bemühungen in der dritten Phase muss es sein, einerseits die Arbeitsfähigkeit und andererseits die Teilhabe am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zu verbessern. Dies wird zum einen mit Coaching, zum anderen mit zwei Instrumenten angestrebt, von denen das erste vorrangig eingesetzt wird. In die dritte Phase können Betroffene auf eigenen Wunsch auch schon vorzeitig eintreten.

Das vorrangige Instrument während dieser dritten Phase ist das der Lohnkostenzuschüsse. Sie knüpfen an das seit 2019 bestehende Teilhabechancengesetz an. Nach diesem Gesetz übernehmen die Jobcenter bis zu zwei Jahre lang zwischen 50 % und 100 % der Lohnkosten. Förderfähig sind sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse bei privaten, öffentlichen und gemeinnützigen Arbeitgebern. Zusätzlich werden die Teilnehmenden mit einem individuellen Coaching durch die Jobcenter oder externe Träger begleitet. Während nach dem Teilhabechancengesetz derzeit nur für einen Teil der Hilfeempfänger (derzeit 50.000 Personen) Lohnzuschüsse gezahlt werden und nach geltender Gesetzeslage das Programm bis Ende 2024 befristet ist, wäre es denkbar, das Programm zu entfristen und auf alle Hilfeempfänger anzuwenden, die in Phase 2 keine reguläre Beschäftigung gefunden haben. Im Gegenzug zur Zahlung von Lohnsubventionen an die Arbeitgebenden sollte aber auch hier für die Teilnehmenden der Hilfetarif mit abgesenktem Sockelbetrag und reduzierter Transferentzugsrate von 70 % gelten.

Ein kleiner Teil der Langzeitarbeitslosen wird trotz der in Phase 1 vorangegangenen Qualifizierungsmaßnahmen auch mit Lohnsubventionen keine Beschäftigung im regulären Arbeitsmarkt finden. Um dieser dritten Personengruppe die gleichen Chancen zur Teilhabe und die gleichen Bedingungen bieten zu können wie den beiden zuvor beschriebenen Gruppen (Aufstocker und Personen mit geförderten Arbeitsplätzen), ist es unumgänglich, dass der Staat Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor bereitstellt. Ein Teilzeitarbeitsplatz mit 50 % der Regelarbeitszeit zum gängigen Mindestlohn dürfte ausreichend sein, den Anreiz zum Wechsel in ein reguläres Arbeitsverhältnis aufrechtzuerhalten. Auch für diese Personen gilt der Tarif mit den beiden Absenkungen, also der des Sockeltransfers und der Transferentzugsrate. Allerdings stellen sie sich finanziell deutlich besser als im derzeitigen System, das den Zustand der Arbeitslosigkeit akzeptiert und den Regelbedarf auszahlt. Denn in 85 Monatsstunden kann man zum künftigen Mindestlohn von 12 Euro und 70 % Transferentzug oberhalb des Freibetrags von 135 Euro insgesamt 355 Euro hinzuverdienen,4 also etwa das 2,63-fache der Absenkung des Sockeltransfers (135 Euro).

Wenn einer erwerbsfähigen Person jedoch eine Arbeitsgelegenheit angeboten wird und sie diese ablehnt, aber auch keine andere Erwerbstätigkeit aufnimmt, so verzichtet sie damit freiwillig auf den vollen Regelbedarf. Sie würde dann neben den vollen Wohnkosten nur noch die 70 % des Regelbedarfs erhalten, unter die der Sockeltransfer nach dem BVerfG-Urteil nicht gesenkt werden darf. Leistungsbeziehende, die ihren Lebensunterhalt neben der Grundsicherung aus anderen Quellen, etwa durch Schwarzarbeit, bestreiten, würden die Arbeitsgelegenheit nur dann annehmen, wenn diese ein höheres Nettoeinkommen als durch die alternativen Einkommensquellen generiert. Ist dies nicht der Fall, reduzieren sich immerhin die fiskalischen Kosten für die steuerpflichtige Person, da nun für diese Gruppe weniger Leistungen ausbezahlt werden müssen.

Sanktionen weitestgehend abschaffen

Ein zentrales Ziel der Grundsicherung ist, dass erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihren Lebensunterhalt möglichst aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können (§ 1 Abs. 2 SGB II). Entsprechend sieht das SGB II in seiner jetzigen Fassung vor, dass erwerbsfähige Leistungsberechtigte aktiv bei Schritten zur Vermittlung in den Arbeits- oder Ausbildungsmarkt beitragen. Dies kann sich auf die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Bemühungen bei der Arbeitssuche oder auf die Teilnahme an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme zum Abbau von Vermittlungshemmnissen beziehen. Zu den Anforderungen gehört es auch, Termine im Jobcenter oder eine angeordnete ärztliche Untersuchung wahrzunehmen. Erfüllen erwerbsfähige Leistungsberechtigte diese Anforderungen nicht, unterliegen sie derzeit Sanktionen, die meist für drei Monate verhängt werden. Sanktionen stehen in der gegenwärtigen Debatte um die Grundsicherung stark in der Kritik, da sie als Gängelung der Leistungsbeziehenden betrachtet werden. Auch hat das BVerfG im Urteil vom November 2019 die Möglichkeit von Sanktionen stark eingeschränkt.

Der große Vorteil des hier beschriebenen Phasen-Modells liegt darin, dass es weitestgehend ohne Sanktionen in Form von Kürzungen des Sockeltransfers unter den Regelbedarf innerhalb der Vermittlungsphase auskommt. Dies sei an drei zentralen Pflichten des Hilfeempfängers und möglichen Verstößen dagegen illustriert:

  • Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen: Verstößt eine Person gegen die Pflicht zur Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme, so kann das Jobcenter zunächst die über den Regelbedarf hinausgehende Ausbildungsvergütung streichen. Bei wiederholten Verstößen, die einen Erfolg der Maßnahme ernsthaft gefährden, kann es schließlich die weitere Teilnahme abbrechen und die nicht ausbildungswillige Person unmittelbar in die zweite Phase eintreten lassen.
  • Aktive Arbeitsplatzsuche in Phase 2: Da Phase 2 ohnehin nur für einen begrenzten Zeitraum gültig ist, könnte die Gesetzgebung auf Sanktionen für unzureichende Bemühungen bei der Arbeitsplatzsuche verzichten. Alternativ kann das Jobcenter ermächtigt werden, die Dauer der Phase 2 abzukürzen, wenn ein Vermittlungserfolg nicht zu erwarten ist, und direkt zu Phase 3 übergehen.
  • Nichterscheinen oder mangelnde Arbeitsmoral auf einer kommunalen Arbeitsstelle in Phase 3: Auch hier muss kein kompliziertes Sanktionierungsverfahren bestehen: Da ein Lohn nur für geleistete Arbeit geschuldet ist, folgt auf Nichterscheinen einfach eine Nichtauszahlung des Lohns. Hierzu ist lediglich eine Zeiterfassung erforderlich, wie sie in weiten Teilen der gewerblichen Wirtschaft und im öffentlichen Dienst gang und gäbe ist. Schwieriger ist die Feststellung von mangelnder Leistung während der Arbeitszeit. Aber auch hier kann die normale Abfolge von Abmahnung und etwaiger Lohnkürzung praktiziert werden.

Fazit

Das vorgestellte Phasen-Modell der Grundsicherung weist wesentliche Vorteile gegenüber dem Status quo und anderen Reformvorschlägen auf: Es erfüllt die Ziele des Koalitionsvertrags und die oben aufgestellten zusätzlichen normativen Postulate. In der dritten Phase gelten für alle Hilfeempfangenden, gleich ob sie Aufstockende im regulären Arbeitsmarkt, Personen in subventionierten Arbeitsverhältnissen oder Personen mit eigens für sie geschaffenen Jobs im kommunalen Bereich sind, die gleichen finanziellen Bedingungen: ein gegenüber dem normalen Regelbedarf maßvoll abgesenkter Sockelbetrag, aber größere Anreize zur Aufnahme und Ausdehnung einer Erwerbstätigkeit durch eine auf 70 % gesenkte Transferentzugsrate.

Gerade im Unterschied zum bisher eingesetzten und wenig populären Instrument der Arbeitsgelegenheiten (Ein-Euro-Jobs) wird denjenigen, die keine Chance auf Beschäftigung im regulären Arbeitsmarkt haben, für die Arbeit in der Kommune der reguläre Mindestlohn gezahlt, wobei sich auch die Einkommensanrechnung nicht von der bei anderen Hilfeempfängern unterscheidet. Die Realisierbarkeit dieser Reformmaßnahme hängt allerdings von der Voraussetzung ab, dass öffentliche Arbeitgebende, vor allem Kommunen, bereit und in der Lage sind, die Programmteilnehmer:innen in sinnvollen Beschäftigungen einzusetzen. Diese müssen jedoch im Unterschied zu den derzeitigen Ein-Euro-Jobs nicht zusätzlich, im öffentlichen Interesse liegend und wettbewerbsneutral sein, da es sich um normale Beschäftigungsverhältnisse zum regulären Mindestlohn handelt.

Neuartig im deutschen Sozialrecht ist die De-facto-Einführung eines Rechts auf Arbeit. Aber auch dies lässt sich angesichts der auch von der Bundesregierung geplanten Qualifizierungsmaßnahmen rechtfertigen: Menschen, die gesundheitlich in der Lage sind, mindestens drei Stunden täglich zu arbeiten und die von der Solidargemeinschaft der steuerzahlenden Personen zum einen qualifiziert worden sind und zum anderen versorgt werden, sollten bereit sein, zu ihrem Lebensunterhalt einen Beitrag zu leisten. Im äußersten Notfall, wenn nicht einmal ein staatlich bezuschusster Arbeitsplatz für sie gefunden werden kann, sollte sich die Wohnsitz-Kommune ihrer annehmen, damit sie nicht gezwungen sind, untätig zu Hause zu sitzen. Das Angebot eines Arbeitsplatzes dient zum einen ihrer sozialen Integration und signalisiert zum anderen den Kindern der Betroffenen, dass in einer solidarischen Leistungsgesellschaft niemand zurückgelassen wird.

* Der Autor dankt Hans-Werner Sinn und Normann Lorenz für wertvolle Hinweise.

  • 1 Dieser Wert sinkt noch weiter ab, wenn von einem Bruttoeinkommen von 521 Euro an Sozialabgaben anfallen.
  • 2 Zur Berechnung der Sozialabgaben in der Gleitzone zwischen 520 und 1.600 Euro ab 1.10.2022, https://www.krankenkassen-direkt.de/midijobrechner (7. Juli 2022).
  • 3 Einen ähnlichen Vorschlag hatte in der Zeit der Einführung der Hartz-Reformen der Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (2002) unterbreitet.
  • 4 Dabei wurde berücksichtigt, dass der Beschäftigte nach dem neuen Midijob-Tarif von 1.020 Euro Bruttogehalt 151 Euro Sozialabgaben zahlen muss und von den verbleibenden 869 Euro zunächst 135 Euro und dann 30 % von 734 Euro gleich 220 Euro behalten kann.

Literatur

Atkinson, A. B. (2015), Inequality: What can be done?, Harvard University Press.

Besley, T. und S. Coate (1992), Workfare versus Welfare: Incentive Arguments for Work Requirements in Poverty-Alleviation Programs, American Economic Review, 82, 249-261.

Blömer, M., C. Fuest und A. Peichl (2019), Raus aus der Niedrigeinkommensfalle(!) – Der ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsicherungssystems, ifo Schnelldienst, 72, 34-43.

Koalitionsvertrag (2021), Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

Schöb, R. (2020), Der starke Soziaalstaat. Weniger ist mehr, Campus Verlag.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2002), Reform des Sozialstaats für mehr Beschäftigung im Bereich gering qualifizierter Arbeit, August.

Title:More Incentives – Less Sanctions: a Proposal for a Reform of the Welfare System

Abstract:The German federal government is planning a radical reform of the basic income scheme for the long-term unemployed. Besides strengthening qualification measures and removing the priority on job placement they want to improve the additional income rules for transfer recipients. To achieve this goal, they must solve the puzzle of how to reduce the almost prohibitively high transfer withdrawal rates in case of own earnings without rendering the whole system too expensive. The solution presented is a variation of the “workfare“ model by Besley and Coate (1992) and consists of two elements: lowering the basic allowance for those who do not want to work and providing a job guarantee for those willing to work so that all persons capable of work can contribute to covering their consumption needs.

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© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3256-7