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Dieser Beitrag ist Teil von Eine neue China-Strategie?

Die Zeitenwende als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Wahrnehmung aller geopolitischen Strukturen und Risiken beeinflusst. Insbesondere der Blick auf die Volksrepublik China hat sich verändert. Das gilt für eine zunehmend aufgeregt agierende Politik und die ebenso kommentierenden Medien, differenziert und zurückhaltend indes für die Wirtschaft (Brudermüller et al., 2022). Zwar geben viele Unternehmen an, dass sie ihre China-Abhängigkeiten verringern wollen (Baur und Flach, 2022). Tatsächlich hat sich aber im Jahr 2022 der deutsche Außenhandel mit China anders entwickelt. Die ohnehin hohe Importabhängigkeit ist noch deutlich größer geworden; der Export nach China wuchs dagegen nur schwach. Das Ergebnis ist ein Rekorddefizit in der bilateralen Handelsbilanz mit 84 Mrd. Euro; auch wenn dahinter Sondereffekte – wie die Pandemiepolitik Chinas – stehen, so sind doch strukturelle Faktoren wirksam (Matthes, 2023).

Wie dem auch sei, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland (oder sogar dem transatlantischen Westen) und China stehen auf dem Prüf­­stand. Man müsse unabhängiger werden, so lautet eine Forderung. Die verhältnismäßigere Reaktion verlangt allgemein, die globalen Lieferketten resilienter und die Beschaffung diverser zu gestalten. Neben ökonomischen Motiven stehen moralische Appelle, sich in Staaten nicht zu engagieren oder von dort zu entkoppeln, in denen – wie in China – gegen internationale Standards im Bereich der Menschenrechte verstoßen wird. Unternehmen sollen jederzeit und überall im Fall politischer Sanktionen zu tragbaren, nicht existenzgefährdenden Transaktionskosten anpassungsfähig sein, um für diesen politischen Willen kein Hindernis zu bilden bzw. um im Krisenfall nicht unterstützungsbedürftig zu werden.

Außenwirtschaftliche Abhängigkeit: differenzierter Befund

Die Verringerung übermäßiger wirtschaftlicher Abhängigkeiten wird eine maßgebliche Rolle in der in Arbeit befindlichen China-Strategie der Bundesregierung spielen (Deutscher Bundestag, 2022). Doch was meint außenwirtschaftliche Abhängigkeit? In der ökonomischen Literatur sucht man das Konzept vergebens, sieht man von der Norm des „außenwirtschaftlichen Gleichgewichts“ ab (Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967). Das entsprang einer Zeit, in der Handel bei fixierten Wechselkursen und limitierter Kapitalmobilität als Problem bewertet wurde, wenn der Überschuss oder das Defizit in der Leistungsbilanz mit Inflationsdruck respektive Verschuldungsdruck verbunden sein kann. Darum geht es jetzt nicht, auch nicht um die entwicklungspolitischen Sorgen, die sich mit der Dependenztheorie verbanden.

Ökonomisch muss man zwischen der einzelwirtschaftlichen und der volkswirtschaftlichen Abhängigkeit unterscheiden (Fremerey und Gerards Iglesias, 2022). Unternehmen gestalten ihre Lieferketten sowie die Beschaffung von Rohstoffen und Vorprodukten nach betriebswirtschaftlicher Abwägung der Kosten und Risiken. Die Verlässlichkeit der Lieferbeziehungen hängt von den vertraglichen Bedingungen ab, die das Unternehmen aufgrund der Marktsituation und seiner Verhandlungsmacht erzielen kann. Gleichermaßen sind Auslandsinvestitionen zu würdigen, vor allem mit Blick auf den Investitionsschutz vor Ort. Im volkswirtschaftlichen Aggregat bündeln sich die Kalküle der Unternehmen. Darin spiegeln sich die politischen Rahmenbedingungen, die sich aus Freihandels- und Investitionsabkommen, ebenso aus spezifischen Absicherungsangeboten für Auslandsinvestitionen ergeben. Das Netz globaler Lieferketten einer Volkswirtschaft ist aber zugleich Ausdruck der Spezialisierungsvorteile der beteiligten Volkswirtschaften, damit der jeweiligen Standortbedingungen, und der Regeln der internationalen Ordnung.

Mit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 haben sich die Bedingungen verändert, und die Unternehmen haben darauf reagiert. China hat seitdem nicht nur als Absatzmarkt und Rohstofflieferant massiv an Bedeutung gewonnen, sondern ebenso als Investitions­standort. Diese wachsende Bedeutung Chinas ist politisch mit einer Akzentverschiebung beantwortet worden: von der Forderung nach vergleichbaren Bedingungen für Unternehmen hin zur Forderung der Reziprozität der Möglichkeiten. Dennoch bleibt jede betriebswirtschaftliche Entscheidung ein unternehmerisches Risiko, nur so wird das Kapital sorgsam eingesetzt, indem bei der Beschaffung und der Standortwahl diversifiziert wird sowie Klumpenrisiken vermieden werden. Volkswirtschaftlich zeigt ein Ländervergleich, dass China als Lieferant und damit auf der Importseite der Handelsbilanz weltweit verankert ist (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Relevanz Chinas als Vorleistungslieferant: Internationaler Vergleich der Industriedurchschnitte
in %, 2020
  Durchschnittlicher Anteil Chinas an Vorleistungslieferungen aus dem gesamten Ausland Durchschnittlicher Anteil Chinas an den gesamten (auch inländischen) Vorleistungen Anteile des Verarbeitenden Gewerbes am BIP
Japan 19,8 2,7 29,0
Russland 16,5 2,9 29,8
USA 13,9 0,6 18,4
Tschechien 11,8 5,9 30,8
UK 7,6 2,0 17,1
Italien 7,3 2,4 21,6
Spanien 7,1 2,6 20,4
Ungarn 6,9 4,8 24,6
Deutschland 6,6 2,2 26,5
Polen 3,3 1,3 27,7
Frankreich 3,0 1,1 16,4

Quellen: Busch et al. (2023) und Weltbank.

Deutschlands Industrie erweist sich im internationalen Vergleich als nicht übermäßig von chinesischen Lieferanten abhängig. Im Jahr 2020 kamen im Durchschnitt der Industriezweige rund 6,6 % der ausländischen Vorleistungen aus China, unter Berücksichtigung der inländischen Vorleistungen liegt der Anteil Chinas an allen Vorleistungen bei 2,2 %. Japan, das sehr viel näher an China liegt, ist mit einem Anteil an allen ausländischen Vorleistungen von fast 20 % deutlich abhängiger von chinesischen Zulieferern. Russland (16,5 %), die USA (13,9 %) und Tschechien (11,8 %) weisen ebenfalls zweistellige Anteile auf. Das Vereinigte Königreich (UK) und Italien sind leicht stärker abhängig von chinesischen Vorleistungen als Deutschland; Polen und Frankreich dagegen deutlich weniger. Die Wirtschaftsstruktur, vielfach als Grund für die unterstellte deutsche Position genannt, steht jedoch in keinem systematischen Zusammenhang zum Importanteil Chinas.

Globalisierung als normativer Konflikt

Die Frage nach einer neuen China-Strategie des transatlantischen Westens muss vor den historischen Erfahrungen besonderer Verflechtungen gesehen werden, die sich in Wortschöpfungen wie „Chimerica“ (Ferguson und Schularick, 2007) nahezu emblematisch manifestierten. Darin verbarg sich nichts anderes als die Einschätzung einer ökonomisch unaufhaltsam effizienter werdenden, durch Kapitalallokation getriebenen Globalisierung. Tatsächlich aber war dieser Vorgang immer ein normatives Projekt – und damit entsprechend konfliktträchtig (Hüther et al., 2019). Der transatlantische Westen war dabei lange Zeit in der Führungsrolle, zumal nach dem Ende des Kalten Krieges und der Öffnung Chinas. Aus der marktwirtschaftlichen Dynamik im globalen Rahmen wurde die Erwartung einer darauf folgenden Demokratisierung abgeleitet (Modernisierungs­hypothese). Doch China ist selbst in Pfadabhängigkeit historischer Erfahrungen und ideologischer Prägungen gefangen, sodass aus dem ökonomischen Systemwettbewerb seit der globalen Finanzkrise 2009 und vor allem seit dem Amtsantritt Xi Jinpings zunehmend ein Systemkonflikt wurde.

Die künftige Rolle Chinas in der Weltwirtschaft hängt angesichts der erreichten Integration und der seit längerem etablierten Bedeutung vor allem von der chinesischen Politik selbst ab. Bereits im Jahr 2011 war die Volksrepublik neben den USA und Deutschland einer der weltweit dominierenden Hubs des internationalen Handels (vgl. Abbildung 1). Heute dürfte sich diese Entwicklung weiter ausgeprägt haben. Die Studien zu den Wirkungen einer einseitigen oder beidseitigen Entkopplung westlicher Volkswirtschaften von China zeigen dementsprechend plausibel, dass in diesen Fällen Deutschland und China vergleichbare Einbußen beim Realeinkommen bzw. beim realen BIP erleiden würden, etwas geringer die EU und fast vernachlässigbar in den USA (Felbermayr et al., 2021; Fuest et al., 2022). Das spricht für eine derzeit gegebene strategische Pattsituation, jedenfalls zwischen Europa und China (Matthes, 2022).

Abbildung 1
Globale Netzwerke und Hubs des internationalen Handels
Globale Netzwerke und Hubs des internationalen Handels

61 Volkswirtschaften der OECD und ihre wichtigsten bilateralen Handelspartner. Farbe der Knotenpunkte (und der Exportströme) von rot bis blau, wobei blau den höchsten Grad an Zentralisierung anzeigt.

Quelle: Weltbank (2017, Abb. 6); Datenquelle: UN Comtrade, Datenbasis 2011.

Und es mag erklären, warum die chinesische Führung seit einiger Zeit auf ein Modell der Zwei-Kreisläufe setzt (Brown et al., 2021). Man kann dies als Abschottungsstrategie deuten, man kann es aber ebenso als Reaktion auf die globale Volatilität verstehen, indem die weltwirtschaftliche Integration mit einer höheren binnenwirtschaftlichen Stabilität und Sicherheit verbunden wird. China versucht, seine Abhängigkeit von ausländischen Vorleistungen und Produkten zu verringern; dafür werden relevante Wirtschaftsbereiche identifiziert. Eigentlich macht China damit nichts anderes als der transatlantische Westen es seit kurzer Zeit auch versucht, nämlich die internationalen Dependenzen zu reduzieren. Der Unterschied liegt dabei weniger in der Ausprägung als in dem Begründungs­zusammenhang. Die USA leitet protektionistische Maßnahmen aus einer Perspektive der Reindustrialisierung und einem geostrategischen Vormachtanspruch ab. Die Länder der Europäischen Union sorgen sich aus zwei Gründen um ihre Wertschöpfungsbasis, einmal angesichts chinesischer Direktinvestitionen und Unternehmenskäufe um die Sicherung der Innovationskraft Europas, zudem angesichts US-amerikanischer Buy-at-Home-Politik um die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie.

In diesem Konzert globalisierungsskeptischer Politiken erscheint die chinesische Lösung der Zwei-Kreisläufe nicht als eine generelle Absage an die globale Einbindung, aber doch als ein bewusster Schritt, die spezifischen entwicklungsökonomischen Spannungen aufzulösen. Diese resultieren aus den seit langem dia­gnostizierten strukturellen Problemen der chinesischen Volkswirtschaft. Zu nennen sind dabei insbesondere die bei weitem nicht internationalen Standards entsprechenden Kapitalmärkte, die regionalen Ungleichgewichte, die mangelnde soziale Absicherung der Menschen und – vor allem – die demografische Alterung.

Chinas Probleme: Alterung, Fehlallokation, Abhängigkeiten

Das beeindruckende chinesische Wachstum hat zu einem raschen Anstieg der Lebenserwartung geführt. Lag diese zu Beginn der 1980er Jahre in China ähnlich der russischen bei rund 67 Jahren, so erreichte sie im Jahr 2018 rund 77 Jahre (UN, 2022). Dagegen stagniert die Lebenserwartung in den USA seit einer Dekade bei 79 Jahren; im Zuge der Opioid-Krise hat sie in der weißen Bevölkerung ohne Universitätsabschluss sogar abgenommen (Case und Deaton, 2020). In der EU stieg die Lebenserwartung kontinuierlich auf mittlerweile 81 Jahre. Und in Russland, wo es 2017 zu Massenprotesten gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer kam (zuvor wurde ein Viertel der föderalen Haushaltsmittel für die Stützung der Rentenkasse aufgebracht), weisen Menschen lediglich eine durchschnittliche Lebenserwartung von 73 Jahren auf.

Nun aber stellen der sprunghafte Anstieg der Lebenserwartung in China und die infolge der Ein-Kind-Politik (von 1979 bis Ende 2015) niedrigen Geburtenraten die chinesische Verwaltung vor eine gewaltige Herausforderung. Der Altenquotient wird von sehr niedrigen 10 % im Jahr 2010 innerhalb von 50 Jahren auf knapp 60 % ansteigen (vgl. Abbildung 2); das Durchschnittsalter hat sich von 2012 bis 2021 bereits von 35,12 auf 38,40 Jahre erhöht. Nach der Zwei-Kind-Politik seit 2016 werden derzeit die Weichen für eine Drei-Kind-Politik gestellt, doch die Menschen haben sich an andere Familienstrukturen und die damit verbundenen Wohlstandsperspektiven gewöhnt. Im Jahr 2022 ist erstmals seit 60 Jahren die chinesische Bevölkerung geschrumpft. „China is growing old before it is growing rich”, ist keine leere Phrase, sondern ein ganz reales Problem.

Abbildung 2
Demografische Entwicklung in ausgewählten Ländern

Altenquotient (Anteil der über 65-Jährigen an den 20-64-Jährigen)

Demografische Entwicklung in ausgewählten Ländern

Quelle: OECD 2020.

Eine vorausschauende Politik sollte diesen Megatrend wirtschaftlicher Entwicklung nicht übersehen. Zumal für China gilt, dass dieser sich mit anderen strukturellen Problemen verbindet und dadurch das Risiko einer Middle-Income-Trap virulent wird. Danach drohen schnell wachsende, aufholende Volkswirtschaften aufgrund struktureller Hemmnisse in der Einkommensdynamik auf dem Pfad zu den Hocheinkommensländern ausgebremst zu werden (World Bank, 2010). Das droht besonders dann, wenn die Verschuldung in der Volkswirtschaft hoch (die staatliche Schuldenquote hat sich von 2013 bis 2022 von 34 % auf 77 % mehr als verdoppelt; die Verschuldung der privaten Haushalte ist ebenfalls deutlich angestiegen) und die Kapitalallokation ineffizient ist (hohe private Verschuldung, fiskalische Überforderung regionaler und kommunaler Behörden, Fehlsteuerung der Immobilieninvestitionen) oder die demografische Alterung ökonomisch dominiert. Hinzu kommen in China ein eklatanter Mangel an Sozialkapital, was die Tatsache reflektiert, dass der chinesische Kapitalismus demokratisch sowie zivilgesellschaftlich ungebunden und damit politisch willkürlich ist.

Dieser letztlich moralisch ungebundene Kapitalismus in China hat tiefe Ursachen. Das beginnt mit der stets unglücklichen historischen Erfahrung der Chinesen im Zusammentreffen mit der westlichen, als dominant empfundenen Kultur. Während der ersten 30 Jahre kommunistischer Herrschaft gab es dann nur ein handlungsleitendes Prinzip: Loyalität zum politischen Führer Mao Zedong. Im heutigen China zeigt sich, dass der moralische Verfall die Kehrseite einer kapitalistisch rauen, weil scheinbar grenzenlosen Dynamik ist: „In the last thirty years China has achieved astonishing progress both in its economy and as an international presence. […] But those achievements do not seem to have generated solidarity and cohesion among China’s citizens; they have not built up our confidence in ourselves or each other” (Huaihong, 2015, 3). Unberechenbare staatliche Eingriffe in die Finanzmärkte und ein mitunter brachiales Vorgehen gegen Technologieunternehmen reflektieren ebenso eine Kultur des Misstrauens wie die Verwahrlosung des individuellen Verhaltens infolge kultureller Revolutionen in den vergangenen 200 Jahren – besonders während der Mao-Zeit – und die weit verbreitete Korruptionswirtschaft. Wirksam ist dabei eine gesellschaftlich prägende Gleichgültigkeit gegenüber anderen.

Vor diesem Hintergrund sind die ökonomischen Abhängigkeiten zu bewerten, denen die chinesische Volkswirtschaft in der internationalen Arbeitsteilung ausgesetzt ist und die in der deutschen Debatte leicht übersehen werden (Gerards Iglesias und Matthes, 2023). So bestehen Abhängigkeiten bei zentralen Elementen in der Wertschöpfung modernster Halbleiter, bei einigen Rohstoffen und einer Reihe wichtiger Nahrungsmittel (vgl. Abbildung 3). Im geopolitischen Konflikt mit westlichen Sanktionen müsste China neue Handelswege mit alternativen Partnern aufbauen. Bei Gütern mit einem hohen Import-Export-Verhältnis und einem hohen westlichen Anteil mangelt es zumindest kurzfristig am Potenzial zur Eigenproduktion und es fehlen alternative Handelspartner. Ein weitgehendes Abschneiden Chinas von moderner westlicher Technologie würde sich längerfristig dämpfend auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken. Das Ziel, sich in der Breite technologisch autark zu machen und vielfach an der Innovationsfront mit dabei zu sein, würde stark erschwert.

Abbildung 3
Chinas Abhängigkeit vom Westen bei den 20 Importgütern mit dem größten Handelsbilanzdefizit und einem hohen westlichen Anteil (4-Steller)
Einfuhren Chinas aus dem Westen und den übrigen Staaten in Mrd. US-$, 2021
Chinas Abhängigkeit vom Westen bei den 20 Importgütern mit dem größten Handelsbilanzdefizit und einem hohen westlichen Anteil (4-Steller)

Quelle: Gerards Iglesias und Matthes (2023).

Man kann die Versuche der chinesischen Regierung, ausländische Firmen mit einer wichtigen Rolle im globalen Technologiewettbewerb über die „Dual Circulation“-Strategie stärker von China abhängig zu machen, als Antwort auf diese Befunde verstehen. Zugleich sollen internationale innovative Unternehmen, deren Ansiedelung durch Forschungssubventionen gefördert wird, dabei helfen, Chinas technologische Abhängigkeiten vom Westen möglichst schnell zu verringern. Hier stellt sich aus der Perspektive des Westens die Frage, wie mit diesem Sachverhalt geostrategisch umzugehen ist.

Alles in allem stellt nicht nur der transatlantische Westen neue oder alte Fragen bewusster an China, sondern die strukturellen Herausforderungen in der Volksrepublik selbst haben das Potenzial, deren ökonomische Entwicklung nachhaltig zu beeinträchtigen. Die Zeiten dynamischen Aufholens im Selbstlauf sind vorbei, institutionelle Reformen und politische Neuorientierungen sind geboten, um der als Misstrauensfalle zu spezifizierenden Middle-Income-Trap zu entkommen. Das kann außenpolitische Unberechenbarkeit ebenso auslösen wie neue Anstrengungen für ein als gleichgewichtig empfundenes Wachstum.

Ob der damit so oder so verschärfte Systemkonflikt in die Thukydides-Falle – also eine militärische Auseinandersetzung zwischen dem neuen Hegemonialanspruch Chinas und dem etablierten Hegemon USA – führt, entzieht sich konkreten ökonomischen Kategorien, sondern unterliegt einer spieltheoretisch gedeuteten politischen Machträson. Die Politik muss den Mut aufbringen, politische Konflikte wie Menschenrechtsverstöße direkt und deutlich zu adressieren. Unternehmensstrategien sind kein Ersatz für eine solchermaßen mutige Außenwirtschaftspolitik. Unternehmen sollten die Chancen und Risiken ihres Chinaengagements angemessen würdigen. Die Zeiten unschuldiger Naivität sind jedenfalls vorbei, eigentlich waren sie unternehmerisch nie akzeptabel.

Literatur

Baur, A. und L. Flach (2022), Deutsch-chinesische Handelsbeziehungen: Wie abhängig ist Deutschland vom Reich der Mitte?, ifo Schnelldienst, 75 (4), 56-65.

Brown, A., J. Gunter und M. J. Zenglein (2021), Course Correction. China’s shifting approach to economic globalization, Merics China Monitor, 19. Oktober.

Brudermüller, M., R. Busch, B. Garijo, S. Hartung, N. Leibinger-Kammüller, J. Rinnert, K. Rosenfeld, A. Titzrath (2022), Ein Rückzug aus China schneidet uns ab, Frankfurter Allgemeine, 10. November.

Busch, B., J. Matthes und S. Sultan (2023), Abhängigkeit einzelner Wirtschaftszweige von China. Eine empirische Bestandsaufnahme, IW-Report, 5.

Case, A. und A. Deaton (2020), Death of despair and the future of capitalism, Princeton University Press.

Deutscher Bundestag (2022), Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage „Stand der China-Strategie der Bundesregierung“, Deutscher Bundestag-Drucksache, 20/4441.

Felbermayr, G., G. Steffen, H. Mahlkow und A. N. Sandkamp (2021), Decoupling Europe, Kiel Policy Brief.

Ferguson, N. und M. Schularick (2007), ‘Chimerica’ and global asset markets, International Finance, 10(3), 215-239.

Fremerey, M. und S. Gerards Iglesias (2022), Abhängigkeit – was bedeutet sie und wo besteht sie. Ein Überblick über wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten, IW-Report, 56.

Fuest, C., L. Flach, F. Dorn und L. Scheckenhofer (2022) Geopolitische Herausforderungen und ihre Folgen für das deutsche Wirtschaftsmodell, vbw-Studie, erstellt vom ifo-Institut.

Gerards Iglesias, S. und J. Matthes (2023), Chinas Abhängigkeit vom Westen bei Importen und Technologie, IW-Report, (erscheint demnächst).

Huaihong, H. (2015), Social Ethics in a Changing China. Moral Decay or Ethical Awakening?, Brookings Institution Press.

Hüther, M., M. Diermeier und H. Goecke (2019), Die erschöpfte Globalisierung. Zwischen transatlantischer Orientierung und chinesischem Weg, Springer, 2. Aufl.

Matthes, J. (2022), China-Abhängigkeiten der deutschen Wirtschaft: Mit Volldampf in die falsche Richtung, IW-Kurzbericht, 68.

Matthes, J. (2023), China-Handel 2022. Ungleichgewicht und Abhängigkeit weiter verstärkt, IW-Kurzbericht, 9.

UN (2022), World Population Prospects 2022, Online Edition, https://population.un.org/wpp/ (02. März 2023).

World Bank (2010), East Asia and Pacific Economic Update: Robust Recovery, Rising Risks, World Bank.

Title:Capitalism in the Trap of Mistrust

Abstract:The war in Ukraine has not only dramatically changed Western perceptions of geopolitics, but also influenced risk assessments of economic interdependencies between Western economies and China. China has gradually emerged as an important, and in some cases indispensable, supplier to Western economies. The illusion of a gradual development and spread of Western values in the wake of the globalisation has failed. The paper discusses the challenges that China faces, i.e. the dramatic effects of demography, the misallocation of goods or its own dependencies on the West. The West cannot avoid the systemic conflict if it wants to remain a major global player, but it must clearly state its own interests.

© Der/die Autor:in 2023

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Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2023-0045