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Am 19. Januar 2023 hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege sein Gutachten veröffentlicht. Es analysiert, inwieweit das deutsche Gesundheitswesen auf zukünftige Krisen vorbereitet ist und welche Veränderungen zur Stärkung seiner Resilienz erforderlich sind. Trotz der weit verbreiteten Selbsteinschätzung vor der Pandemie, dass Deutschland gut organisiert und für unerwartete Herausforderungen gerüstet ist, hat das Gesundheitssystem schlechter abgeschnitten als erwartet. Ein zentrales Ergebnis ist, dass Probleme vor allem im Bereich der Datenverfügbarkeit und -nutzung, der Implementierung bekannter Lösungen und der Kommunikation liegen.

Selten haben unser Land so viele exogene Schocks gleichzeitig getroffen. SARS-CoV-2-Pandemie, Krieg gegen die Ukraine, Klimawandel und als Folgen unterbrochene Lieferketten, Energieknappheit, Hitzewellen und Waldbrände stellen Herausforderungen für praktisch alle Lebensbereiche dar. Sie betreffen jedoch auch immer die Gesundheit der Menschen.

Die Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren Ereignissen wird häufig als Resilienz bezeichnet. Resiliente Systeme bewahren ihre Handlungs- und Funktionsfähigkeit bei exogenen Schocks, also bei unvorhergesehenen Ereignissen, in komplexen Situationen, bei Stress, fehlenden Kompetenzen oder unzureichenden Ressourcen. Systemresilienz besteht aus einem Zusammenwirken von individueller, gemeinschaftlicher und organisatorischer Ebene. Während es sich bei der individuellen Resilienz um die Fähigkeit Einzelner handelt, in einer Krise reaktionsfähig zu bleiben und sie ohne substantielle Schäden zu überstehen, ist mit gemeinschaftlicher Resilienz nicht nur die Summe der individuellen Resilienzen, sondern darüber hinaus das Zusammenwirken Einzelner in einer Krise gemeint. Im Gesundheitswesen zählt dazu beispielsweise die Kooperation verschiedener Leistungserbringer (unter anderem niedergelassene Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser, Pfleger) untereinander sowie mit politischen Entscheidungsträgern und Akteuren der Wirtschaft. Resilienz auf organisatorischer Ebene umfasst vor allem prozessuale und strukturelle Charakteristika. Diese reichen von vorbereitenden Maßnahmen über hinreichende Flexibilität zur kurzfristigen Anpassung etablierter Prozesse an neue Herausforderungen bis zu strategischen Managemententscheidungen unter anderem in den Bereichen Logistik, Risiko- und Krisenmanagement. Im Gesundheitsbereich umfasst dies z. B. die Sicherung von Lieferketten für Medikamente oder medizinisches Gerät sowie die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung einschließlich der Pflege, aber auch eine hinreichende, seriöse und zielgruppenspezifische Kommunikation mit und Information der Bevölkerung (SVR Gesundheit, 2023, Kapitel 1).

Rahmenbedingungen richtig setzen

Häufig liegt der Fokus der Diskussionen über resiliente Systeme auf ihrer Fähigkeit, auf akute Ereignisse schnell und effizient reagieren zu können. Ein wesentliches Kriterium für erfolgreiche Resilienz liegt jedoch in der Vorbereitung auf vorhersehbare und unvorhersehbare Krisen. Im politischen Kontext sind hier unter anderem in zwei Bereichen passende Rahmenbedingungen zu setzen: der frühzeitigen und umfassenden Beachtung von Gesundheitsaspekten in allen Bereichen (Health in All Policies) sowie in der eindeutigen Zuweisung von Kompetenzen im Gesundheitsbereich im föderalen Staatsaufbau. Basierend auf der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung (WHO, 1986) ist der Health in All Policies-Ansatz entwickelt worden. Dabei ist die Verantwortung für Gesundheitsförderung und Gesundheitsschutz in allen Politikbereichen verankert, weil Maßnahmen jedwedes Ressorts Einfluss auf die individuelle Gesundheit nehmen können. Es gilt bei jeder politischen Entscheidung oder Maßnahme zu fragen, wie sie sich auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirkt, also auch Maßnahmen beispielsweise in der Arbeitsmarkt-, Umwelt-, Wohn-, Landwirtschafts- oder Bildungspolitik. Gesundheitspolitische Stellungnahmen des Bundes- bzw. des Landesgesundheitsministeriums sollten im Gesetzgebungsprozess eingeholt werden und auf die gesundheitlichen Auswirkungen der jeweiligen Vorhaben eingehen.

Im Gesundheitswesen gibt es sowohl zwischen unterschiedlichen Akteuren (unter anderem Gesetzgeber, Krankenkassen, Selbstverwaltungsorgane, Unternehmen) als auch zwischen verschiedenen föderalen Ebenen starke Verflechtungen, die Entscheidungen in Krisen verzögern und erschweren (können). So erfolgt die Bewältigung alltäglicher Krisen auf kommunaler Ebene etwa durch die Feuerwehr. Bei größeren Schadenslagen liegt die Verantwortung auf Bezirks- bzw. Länderebene, bei nationalen Katastrophen beim Bund (z. B. Technisches Hilfswerk). Die Ahrtalflut im Juni 2021 hat vor Augen geführt, dass die Zuständigkeiten zur Krisenvorbeugung und -bewältigung nicht optimal geregelt waren und die Abstimmung zwischen den Akteuren nicht gut funktioniert hat. Dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) könnte hier eine stärkere, koordinierende Rolle zugedacht werden.

Eine dezentrale, flächendeckende ambulante Versorgungsstruktur kann im Krisenfall resilienzfördernd wirken. Sie kann den stationären Sektor durch ambulant erbrachte Leistungen entlasten. Für Krankenhäuser ist eine krisenfeste Krankenhausalarm- und Einsatzplanung von zentraler Bedeutung, um in einer Gesundheitskrise eine große Zahl an Erkrankten oder Verletzten versorgen zu können (SVR Gesundheit, 2023, Kapitel 4).

Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) stärken

Der ÖGD umfasst Einrichtungen auf Bund-, Länder- und Gemeindeebene. Zu den wichtigsten zählen die kommunalen Gesundheitsämter, die nah am lokalen Bedarf der Bevölkerung agieren und im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie verstärkt in die öffentliche Wahrnehmung gerückt sind. Ihre Aufgaben und ihr Aufbau unterscheiden sich zwischen den Bundesländern, teilweise auch innerhalb dieser, grundlegend. So gibt es z. B. in Baden-Württemberg 3,2 Gesundheitsämter pro 1 Mio. Einwohner, in Bremen sogar nur 1,5 und in Thüringen 10,7 (Tinnemann und Teichert, 2020, 29). Um die grundgesetzlich gebotene Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse auch im Gesundheitsbereich zu gewährleisten, scheint eine Angleichung der Aufgaben und der Ausstattung der Gesundheitsämter unabdingbar. Dabei sollte es möglich bleiben, Raum für regionale Besonderheiten zu lassen.

Notwendig ist zudem eine stärkere wissenschaftliche Fundierung des öffentlichen Gesundheitswesens zur Gewährleistung einer hohen Qualität im ÖGD. Ziel sollte es dabei unter anderem sein, eine evidenzbasierte Arbeitsweise in den Gesundheitsämtern zu unterstützen. Dafür ist allerdings eine höhere Ausstattung mit personellen und infrastrukturellen Ressourcen nötig. Diese ist ebenfalls erforderlich, um die Gesundheitsämter in die Lage zu versetzen, durch Aufbau eines Freiwilligen-Pools im Krisenfall Aufgaben skalierbar zu erfüllen.

Im Sinne der Subsidiarität sollte im Kern die dezentrale Struktur des ÖGD beibehalten werden. Parallel ist eine größere zentrale Unterstützung und Koordination nötig. Hier bietet sich mit dem geplanten Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit die Chance, Qualitätssicherung, Datenanalyse und Kommunikation im öffentlichen Gesundheitswesen miteinander zu vereinen. Dieses Institut sollte als ein „Bundesdateninstitut“ konzipiert werden und für die Zusammenführung, Bereitstellung, Aufbereitung und Analyse von Daten im Gesundheitswesen zuständig sein (vgl. Abbildung 1). Das Bundesinstitut würde zudem den ÖGD in die Lage versetzen, trotz Dezentralität einen reibungslosen, einrichtungsübergreifenden Informationsaustausch zu gewährleisten. Ein vom Bundesinstitut kontinuierlich betriebenes Benchmarking könnte zudem mehr Transparenz bezüglich der Leistungsfähigkeit einzelner Akteure schaffen und Best-Practice-Ergebnisse offenkundig machen. Das Bundesinstitut könnte die Datenbestände zu Forschungszwecken in Form eines Dashboards zur Verfügung stellen und so einen wesentlichen Beitrag dazu liefern, in Krisenzeiten auf Basis von (Echtzeit-)Daten geeignete Entscheidungsgrundlagen zu generieren (vgl. Abbildung 2). Ein derartiges Dashboard ist dabei nicht als Ersatz für die Bearbeitung von umfassenden Forschungsfragen und tiefgehenden Datenanalysen zu verstehen, sondern als Ergänzung (SVR Gesundheit, 2023, Kapitel 5).

Abbildung 1
Potenzielle Aufgabenschwerpunkte eines Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit
Potenzielle Aufgabenschwerpunkte eines Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit

KI = Künstliche Intelligenz. NGP = Nationales Gesundheitsportal.

Quelle: SVR Gesundheit (2023, Abb. 5-5, 195).

Abbildung 2
Mögliche Inhalte und Datenquellen für Dashboards im Krisenfall
Mögliche Inhalte und Datenquellen für Dashboards im Krisenfall

Quelle: SVR Gesundheit (2023, Abb. 5-6, 197).

Lieferketten stabilisieren und Bevorratung ausweiten

Das Ausmaß der Abhängigkeit des deutschen Gesundheitssystems von internationalen Lieferketten ist nicht einfach zu ermitteln. Ein Blick auf die Handelsströme auf dem Arzneimittelmarkt offenbart, dass Deutschland im Jahr 2019 72 % seines Arzneimittelimportwertes aus Mitgliedstaaten der EU bezog, während auf China und Indien insgesamt nur 0,8 % des Wertes entfielen (Braml et al., 2020, 37). Allerdings importierte Deutschland knapp 40 % der Menge eingeführter pharmazeutische Grundstoffe aus Asien, dreiviertel davon aus China (Grömling und Kirchhoff, 2020, 38). Inwiefern mögliche Lieferengpässe tatsächlich die Versorgungssicherheit gefährden, hängt zudem wesentlich von der Relevanz sowie der Substituierbarkeit der Produkte ab. Anschaulich wurde die Abhängigkeit Deutschlands von internationalen Lieferketten in der SARS-CoV-2-Pandemie bei Schutzmasken, bei denen ein großer Anteil aus China importiert wurde, die in hohem Maße relevant und kaum substituierbar waren. Festzuhalten ist, dass es bei der Abhängigkeit von internationalen Lieferketten systematische Unterschiede zwischen und innerhalb von Märkten für Medizinprodukte, Generika, Originalprodukte usw. gibt,1 sodass einfache, allgemeingütige Vorschläge zu ihrer Stabilisierung nicht möglich sind.

Strategien, um Abhängigkeiten bei der Beschaffung unabdingbarer Gesundheitsgüter oder ihrer Vorprodukte zu reduzieren, teilen sich im Kern in zwei Ansätze: Zum einen eine stärkere Diversifikation, die sich in Multiple Sourcing, also im Bezug des gleichen Produkts von verschiedenen Zulieferern, und globaler Diversifikation, also in der Wahl von Zulieferern mit unterschiedlichen Produktionsorten, niederschlägt; zum anderen Nearshoring, d. h. die Bevorzugung von Zulieferern mit nahe gelegenen Produktionsstätten. Dies führt zu kürzeren Transportwegen und damit sowohl zu weniger logistischen Problemen in einer Krise als auch zu geringerer Umweltbelastung. Letzteres ist besonders vor dem Hintergrund bedeutend, dass die klimatischen Veränderungen eine der größten Herausforderungen für unser Gesundheitssystem darstellen. Ferner ist davon auszugehen, dass bei nahe gelegenen Produktionsstätten (aus deutscher Sicht) relativ stabile politische Verhältnisse vorliegen, sodass beispielsweise die Gefahr von Lock-in-Effekten minimal sein dürfte.

Die Stabilisierung von Lieferketten ist – auch im Gesundheitswesen – zunächst einmal Aufgabe der Marktteilnehmer, z. B. der Krankenhäuser, Praxen oder Arzneimittelhersteller. Der Staat kann jedoch unterstützende Maßnahmen ergreifen. Bereits jetzt sind unter anderem pharmazeutische Unternehmen gesetzlich verpflichtet, Daten zu verfügbaren Beständen, zur Produktion und zu drohenden Lieferengpässen von Arzneimitteln zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus gibt es mit der Health Emergency Preparedness and Response Authority (HERA) eine In­stitution auf EU-Ebene, die in Krisen die Verankerung von Strategien zur Beseitigung von Lieferkettenengpässen für medizinische Gegenmaßnahmen, die Erhöhung von Bevorratungskapazitäten sowie die Stärkung und den Aufbau einsatzbereiter Produktionskapazitäten zur Aufgabe hat (Europäische Kommission, 2021). Sowohl das nationale als auch das internationale Monitoring sollte ausgebaut werden, um Versorgungsengpässe noch frühzeitiger zu erkennen. Ferner könnten zusätzlich finanzielle Anreize für die Marktteilnehmer gegeben werden, die genannten Strategien zur Stabilisierung von Lieferketten zu implementieren.

Neben der Stabilisierung von Lieferketten, ist die Bevorratung medizinisch notwendiger Produkte für Krisenzeiten eine Maßnahme zur Resilienzsteigerung. Nicht trivial ist jedoch die Entscheidung, welche Produkte bevorratet werden sollen. Zum einen ist die Eintrittswahrscheinlichkeit möglicher Krisenszenarien zu berücksichtigen, zum anderen können Krisen auftreten, die gar nicht antizipiert wurden und für die folglich auch keine Eintrittswahrscheinlichkeiten vorliegen („unknown unknowns“). Zudem kann sich die Bewertung der Notwendigkeit der Produkte im Laufe einer Krise infolge neuer Erkenntnisse ändern. Ein Beispiel hierfür war die von vielen Staaten erfolgte Bevorratung des Arzneimittels Tamiflu zur Behandlung der Vogelgrippe (2005) und der neuen Influenza (2009) – angeblich im Umfang von 8 Mrd. US-$. Seine Wirksamkeit hat sich später als nicht ausreichend gesichert herausgestellt, zudem sind an der Vogelgrippe weltweit lediglich 258 Menschen gestorben und die neue Influenza hatte mit einer Letalität von 0,1 % einen relativ milden Verlauf (Meyer, 2013).

Bevorratung ist im deutschen Gesundheitswesen bereits jetzt vielfach gesetzlich geregelt, unter anderem für Arztpraxen, Apotheken, pharmazeutische Unternehmen und Krankenhäuser. Im Zuge der SARS-CoV-2-Pandemie wurde zudem mit dem Aufbau einer Nationalen Reserve Gesundheitsschutz (NRGS) begonnen, die die Versorgung von Schutzausrüstung, Medizinprodukten und Ähnlichem für bis zu sechs Monate sichern soll. Eine Lehre aus der SARS-CoV-2-Pandemie besteht darin, die Bevorratung in bestimmten Bereichen auszudehnen. Eine dezentrale, rollierende Bevorratung bei den einzelnen Leistungserbringern verursacht weniger kostenintensive und ethisch problematische Entsorgungen von Produkten, die ihr Haltbarkeitsdatum überschreiten, und ist deshalb zentralen Notfalllagern vorzuziehen. Dabei ist es wichtig, auf Anreizkompatibilität zu setzen: Ein Teil der Vergütung oder die Betriebsgenehmigung sollte an die Einhaltung von Bevorratungspflichten sowie deren Dokumentation und Meldung gekoppelt sein (SVR Gesundheit, 2023, Kapitel 8).

Fehlanreize in der Krise minimieren

Entscheidungen, die weitreichende Folgen für die Gesellschaft und die Individuen haben, müssen in einer Krise oft schnell und unter Unsicherheit getroffen werden. Dabei können verhaltensbedingte Fehlentscheidungen sowie Fehlanreize entstehen. Unsicherheit bei (politischen) Entscheidungsträgern kann zu Herdenverhalten führen, d. h., Individuen orientieren sich bei ihren Entscheidungen am Verhalten „der anderen“ bzw. größerer Gruppen. Besonders in unsicheren Krisenzeiten können politische Akteure zu der Überzeugung gelangen, gravierende Fehler zu vermeiden, wenn sie wie „die anderen“ handeln, da diese in Summe über mehr oder vermeintlich bessere Informationen verfügen. So sind zu Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie viele Staaten den Maßnahmen anderer zu Kontaktbeschränkungen gefolgt. Hinzu kommt, dass, wer so handelt wie die Mehrheit, weniger Gefahr läuft, stark kritisiert zu werden (Konrad und Thum, 2021). Dieses Verhalten kann aus politökonomischer Perspektive durchaus rational sein. Konzentrieren sich politische Entscheidungsträger weniger auf die Maximierung der Wohlfahrt und stattdessen auf ihre Wiederwahlchancen, haben sie Interesse an einem positiven Bild in der Öffentlichkeit. Dann wollen sie Kritik der Bevölkerung eher vermeiden. Allerdings besteht dabei die Gefahr, dass sowohl regional verschiedenen Entwicklungen als auch dem im Laufe einer Krise stetig wachsenden Erfahrungsschatz nicht angemessen Rechnung getragen wird.

Letzteres wird zusätzlich durch das Phänomen der Pfad­abhängigkeit von Entscheidungen begünstigt. Wenn Entscheidungen primär auf Basis einer in der Vergangenheit eingeschlagenen Richtung erfolgen, spricht man von Pfadabhängigkeit. Seit den in der Vergangenheit getroffenen Entscheidungen neu gewonnene Evidenz fließt dabei nicht (oder nur in unzureichendem Maße) in gegenwärtige und künftige Entscheidungen ein. Einmal beschrittene, aber nun ineffiziente Wege werden nicht verlassen. Die seit langer Zeit bestehende scharfe Trennung der Sektoren im deutschen Gesundheitssystem ist ein klassisches Beispiel für Pfadabhängigkeit. Eine Neuordnung mit z. B. sektorgleicher Vergütung wäre zwar effizienter, aber ihre Einführung wäre erst einmal mit hohen Kosten verbunden. Die Händedesinfektion in der SARS-CoV-2-Pandemie stellt ein weiteres Beispiel für Pfadabhängigkeit dar. Zu Beginn der Pandemie wurde davon ausgegangen, dass die Viren wie bei der Grippe stark über Schmierinfektionen übertragen werden. Für Händedesinfektion wurde erfolgreich geworben, die Bevölkerung hat sich an sie gewöhnt. Die hinzugewonnene Evidenz einer primären Übertragung durch die Luft und eine untergeordnete Rolle von Schmierinfektionen hat kaum zu einer Reduzierung des Händedesinfizierens der Bevölkerung geführt.

Gemildert werden können diese Entscheidungsfehler und Fehlanreize durch schnelle Informationsgewinnung, unter anderem durch Ausschöpfen aller durch die Digitalisierung zur Verfügung stehenden Daten sowie die anschließende Bewertung durch interdisziplinäre Expertengremien. Um Herdenverhalten einzuschränken, können vorab vereinbarte Entscheidungsverfahren unterstützen. Statt als Gradmesser für Maßnahmenentscheidungen die Maßnahmen „der anderen“ zu nehmen, basieren die Entscheidungen dann auf selbst gewonnenen und interdisziplinär ausgewerteten Erkenntnissen und sind zudem an vorher festgelegten Zielen, z. B. Schadensminimierung, orientiert. Das bedeutet natürlich nicht, dass anderswo generierte Erfahrungswerte generell außer Acht gelassen werden.

Eine umfassendere Datennutzung kann ferner krisenbedingte Über-, Unter- und Fehlversorgung einzelner Bevölkerungsgruppen zeitnah erfassen und im Krisenmanagement berücksichtigen. Hierbei sind zum einen Gruppen gemeint, die z. B. durch die Einschränkungen in der regulären medizinischen Versorgung benachteiligt sind (Unterversorgung). Zum anderen möglicherweise von Überversorgung betroffene Gruppen. Die auffallend hohen Sterblichkeitsraten bei Patient:innen, die in den ersten drei Pandemiewellen mit ECMO-Verfahren beatmet wurden, legen nahe, das DRG-System auf potenzielle Fehlanreize bei der Vergütung von Beatmungsverfahren zu untersuchen. Eine weitere Gruppe hat schließlich von der Krise profitiert, indem infolge der eingeschränkten medizinischen Versorgung zuvor erfolgte Überversorgungen (z. B. Wirbelkörper-Operationen) weniger häufig stattgefunden haben. Folglich sieht der Rat Krisen insgesamt auch als Chance, nicht nur krisenbedingte Fehlanreize, die zu Über-, Unter- oder Fehlversorgung im Gesundheitswesen führen zu beseitigen (SVR Gesundheit, 2023, Kapitel 9).

Politikberatung und Kommunikation verbessern

Da Entscheidungen in Krisen oft schnell und unter Unsicherheit getroffen werden müssen, ist es wichtig, die Politik dann fundiert und umfangreich mit wissenschaftlichem Know-how zu unterstützen. Ein wesentlicher Bestandteil der Politikberatung in Krisenzeiten besteht darin, stets einen Überblick des aktuellen Standes der wissenschaftlichen Evidenz vermitteln zu können – auch, um Fehlinformationen der Bevölkerung bis hin zu „Verschwörungstheorien“ vorzubeugen und entgegenzutreten. In der wissenschaftlichen Politikberatung sollten in Krisenzeiten deshalb primär Fragen behandelt werden, die für Politiker:innen sowie die Versorgungspraxis unmittelbar relevant sind, und nicht solche, die mit größerer Sicherheit wissenschaftlich exakt beantwortbar sind. Dies gilt auch dann, wenn die empirische Evidenz (noch) lückenhaft ist. Entsprechende Anreize können eine derartige praxis- oder krisenorientierte Forschungsagenda steuern.

Bei der Evaluation der Krisenmaßnahmen, die nicht nur ex post erfolgen darf, sondern kontinuierlich erfolgen muss, ist nicht nur die zielbezogene Wirksamkeit zu überprüfen, sondern es sind auch unbeabsichtigte Folgen zu ermitteln. Dazu bedarf es einer Bündelung aller relevanten Disziplinen, also neben medizinischer Fachrichtungen auch Sozial-, Verhaltens- und Kommunikationswissenschaften, und einen fächerübergreifenden Dialog. Die anhaltende Diskussion über die nicht-intendierten Auswirkungen der Schulschließungen im Verlauf der SARS-CoV-2-Pandemie stellt ein anschauliches Beispiel für die Notwendigkeit interdisziplinärer Beratungsgremien dar, in denen zudem unterschiedliche Arten von Wissen berücksichtigt werden können, wie evidenzbasiertes, erfahrungsbasiertes, theoretisches und kontextbezogenes Wissen. Ferner sollte eine ökonomische Bewertung der Krisenmaßnahmen eine wichtige(re) Rolle spielen, da die volkswirtschaftlichen Ressourcen zur Erreichung jedes zuvor festgelegten Zieles begrenzt sind. Die Kosten-Konsequenzenanalyse, die Gesundheits- und Nicht-Gesundheitskosten sowie den Nutzen über verschiedene Sektoren hinweg für Handlungsalternativen zu erfassen versucht, scheint dafür besonders geeignet zu sein (Skivington et al., 2021).

Umfassende, zielgruppenspezifische Kommunikation ist in (Gesundheits-)Krisen essentiell, um durch Transparenz Vertrauen in Wissenschaft und Regierung zu stärken, aber auch um das Wissen der Individuen über Risiken und Schutzmöglichkeiten zu erweitern. Eine wesentliche Aufgabe soll dabei dem neuen Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit zufallen. Gerade weil es in demokratischen Staaten oftmals nicht möglich ist, die Befolgung aller staatlichen Krisenmaßnahmen zu überwachen, ist ein Mitwirken der Bevölkerung unerlässlich. Dafür braucht es Vertrauen und die eigene Überzeugung, „das Richtige“ zu tun. Letzteres kann durch Boosting unterstützt werden, also dem Versuch, die Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit von Informationen von Individuen zu verstärken (zu boostern). Faktenboxen zur Aufklärung über Nutzen und Risiken einer Behandlung stellen ebenso Boosts dar wie Darstellungen von Risiken durch Häufigkeiten, nicht Wahrscheinlichkeiten („5 von 1.000 Menschen sterben“ statt „Die Wahrscheinlichkeit zu sterben liegt bei 0,5 %.“). Beides erleichtert eine systematische Entscheidungsfindung der Individuen (Rouyard et al., 2022, 1; SVR Gesundheit, 2023, Kapitel 10 und 11).

Fazit

Die Stärkung der Resilienz des Gesundheitssystems beginnt mit einer umfassenden Vorbereitung in Nicht-Krisenzeiten. Dazu gehört die Verankerung von Gesundheitsaspekten in allen Politikbereichen (Health in All Policies) ebenso wie eine klare, transparente Kompetenzverteilung gesundheitsrelevanter Aufgaben im föderalen Staat. Das BBK sollte hier eine stärkere, koordinierende Rolle übernehmen. Die SARS-CoV-2-Pandemie hat uns vor Augen geführt, welch große Bedeutung dem ÖGD in Gesundheitskrisen zukommt. Sie hat uns auch gezeigt, dass der ÖGD mehr personelle und technische Ressourcen benötigt, um seinen Aufgaben gerecht zu werden.

Unabdingbar für ein resilientes Gesundheitssystem ist eine sehr viel stärker ausgeprägte Digitalisierung in vielen Bereichen. So wird es erst mit ihrer Hilfe möglich sein, nicht nur ein effizientes Kontaktnachverfolgungsmanagement zu erzielen, sondern die Arbeit des ÖGD intensiver wissenschaftlich zu begleiten, regional verschiedene Ansätze miteinander fundiert zu vergleichen und effiziente Lösungen zu identifizieren. Mit einem „Datendashboard“ eines Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit kann in Krisenzeiten der jeweils aktuellste Stand der vorhandenen Daten abgebildet werden. Damit können eine evidenzbasierte Politikberatung verbessert und politische Fehlentscheidungen (eher) vermieden werden. Verstärkte Anforderungen an das Monitoring im Bereich von Lieferketten und Bevorratung könnte drohende Engpässe früher identifizieren und (möglicherweise) abwenden. Mit anderen Worten: In Krisenzeiten ändern sich die Anforderungen an und innerhalb des Gesundheitssystems meist kurzfristig und teils in unvorhersehbarer Weise. In solchen Situationen ist es noch viel notweniger als in Nicht-Krisenzeiten, aktuelle Daten zur Verfügung zu haben, um sich z. B. einen Überblick über die neuen Herausforderungen zu verschaffen und entsprechend reagieren zu können.

Der Sachverständigenrat ist bereits in seinem Gutachten 2021 auf die Bedeutung der Digitalisierung für das Gesundheitswesen ausführlich eingegangen (SVR Gesundheit, 2021). Die SARS-CoV-2-Pandemie und die Herausforderungen infolge des Klimawandels zeigen darüber hinaus, wie notwendig sie zudem zur Resilienzstärkung des Gesundheitssystems ist. Das Bundesgesundheitsministerium entwirft derzeit ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Bleibt zu hoffen, dass es vor dem Hintergrund des ständigen Konflikts zwischen Datenschutz und den Chancen einer verantwortungsvollen Datennutzung eine der Wissenschaft, der Resilienz und der Gesundheit der Bevölkerung zuträgliche Lösung findet.

Die Resilienz auf organisatorischer Ebene, auf die in diesem Beitrag primär eingegangen wird, bedarf der Unterstützung der individuellen und gemeinschaftlichen Resilienz, um ein resilientes Gesundheitssystem zu erhalten. Dafür spielt eine kontinuierliche, zielgruppenspezifische Kommunikation eine essentielle Rolle. Eine transparente Kommunikation und Aufklärung der Bevölkerung in Krisen- und Nicht-Krisenzeiten kann die Fähigkeiten der Individuen vergrößern, für ihre Gesundheit fundierte, evidenzbasierte, risikoabwägende Entscheidungen zu fällen. Bereits in Nicht-Krisenzeiten sollten dafür Vorkehrungen auch zur individuellen Erreichbarkeit geschaffen werden unter anderem über eine Registrierung beim Hausarzt oder digitale Unterstützungssysteme (z. B. NINA-Warn-App).

    • 1 Für eine detaillierte Ausführung der Resilienz der Gesundheitsindustrien vgl. Kagermann et al. (2021).

Literatur

Braml, M., F. Teti und R. Aichele (2020), Apotheke der Welt oder am Tropf der Weltwirtschaft? Deutschlands Außenhandel auf dem Markt für Arzneien und medizinische Ausrüstungen, ifo Schnelldienst, 73(5), 35-42.

Europäische Kommission (2021), EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA): Vorkehrungen für künftige Notlagen im Gesundheitsbereich, Pressemitteilung.

Grömling, M. und J. Kirchhoff (2020), Produktions- und Zulieferstrukturen der deutschen Pharmaindustrie, IW-Trends, 47(4), 23-44.

Kagermann, H., F. Süssenguth, J. Körner, A. Liepold und J. H. Behrens (2021), Resilienz der Gesundheitsindustrien: Qualität und Versorgungssicherheit in komplexen Wertschöpfungsnetzwerken, acatech IMPULS, Deutsche Akademie der Technikwissenschaften.

Konrad, K. A. und M. Thum (2021), Der Vorteil des Experimentierens in der Pandemie, Wirtschaftsdienst, 101(8), 603-605, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2021/heft/8/beitrag/der-vorteil-des-experimentierens-in-der-pandemie.html (28. Februar 2023).

Meyer, R. (2013), Tamiflu. Eine unendliche Geschichte um Datentransparenz, Deutsches Ärzteblatt, 110(4), A132-A134.

Rouyard, T., B. Engelen, A. Papanikitas und R. Nakamura (2022), Boosting healthier choices, BMJ (British Medical Journal), 376: e064225

SVR Gesundheit – Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2021), Digitalisierung für Gesundheit – Ziele und Rahmenbedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems, https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2021/SVR_Gutachten_2021.pdf (15. März 2023).

SVR Gesundheit – Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und in der Pflege (2023), Resilienz im Gesundheitswesen, Wege zur Bewältigung künftiger Krisen, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

Skivington, K., L. Matthews, S. A. Simpson, P. Craig, J. Baird, J. M. Blazeby et al. (2021), A new framework for developing and evaluating complex interventions: update of Medical Research Council guidance, BMJ (British Medical Journal), 374: n2061.

Tinnemann, P. und U. Teichert (2020), Der Öffentliche Gesundheitsdienst –
Lehrbuch für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, Akademie für
Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf.

WHO – World Health Organisation (1986), Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung, https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf (10. Februar 2023).

Title:Strengthening Resilience in the Health Sector

Abstract:In January 2023, the Health System Advisory Council published its latest report. It analyses the extent to which the German healthcare system is prepared for future crises and what changes are required to strengthen its resilience. Rarely has our country been hit by so many exogenous shocks at the same time. The COVID-19 pandemic, the war against Ukraine, climate change and the resulting disrupted supply chains, energy shortages, heat waves and forest fires pose challenges for practically all areas of life. However, they also affect people’s health. Despite the widespread perception before the pandemic that Germany is well organised and well prepared to deal with unexpected events, the health system did not perform as well as expected. One key result of the report is that problems mainly lie in the areas of data availability and use, implementation of well-known solutions and communication.

© Der/die Autor:in 2023

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DOI: 10.2478/wd-2023-0050