Die deutsche Volkswirtschaft steht aktuell und in diesem Jahrzehnt vor gewaltigen Herausforderungen. Gleichzeitig wirken vier Veränderungen disruptiv auf das Geschäftsmodell der deutschen Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt: die Digitalisierung, die Dekarbonisierung, die Demografie und die De-Globalisierung (Demary et al., 2021). Zur Erhöhung der Resilienz der Unternehmen gegenüber diesen disruptiven Veränderungen gewinnen Innovationen weiter an Bedeutung. Rund drei Viertel der Erwerbstätigen im Tätigkeitsfeld Forschung und Entwicklung haben eine MINT-Qualifikation, sodass die Fachkräftesicherung in den MINT-Berufen eine wichtige Rolle für die Sicherung nachhaltigen Wohlstands spielt. Der zunehmende Bedarf an MINT-Kräften trifft in den kommenden Jahren auf sinkende MINT-Absolvierendenzahlen. Im Studienjahr 2016/2017 betrug die Zahl der MINT-Studierenden im ersten Hochschulsemester noch rund 198.000 und sank bis zum Studienjahr 2019/2020 leicht auf 192.500. Danach nahm die Zahl der Studienanfänger:innen stark auf 172.000 im Studienjahr 2021/2022 ab (Statistisches Bundesamt, v. Jg.). In den kommenden Jahren ist mit einem Rückgang bei den Erstabsolvent:innen in den MINT-Fächern zu rechnen. Während Erfolge bei der Zuwanderung in den vergangenen Jahren stark zur Fachkräftesicherung beigetragen haben, gibt es somit bei der Erschließung inländischer Potenziale Rückschritte. Dabei sind vor allem die MINT-Berufe Bildungsaufstiegsberufe und erreichen stärker als andere Studienfächer auch Studierende aus Nicht-Akademikerhaushalten (Anger et al., 2022).
Die Ursachen für den Mangel an Fachkräften liegen dabei nicht nur bei der demografischen Entwicklung, sondern auch bei Defiziten im Bildungssystem und einer unzureichenden Unterstützung von Familien. Nachdem sich verschiedene bildungsökonomische Kennziffern noch im Zeitraum 2000 bis 2012 deutlich verbessert haben, nehmen seitdem die Herausforderungen im Bildungssystem wieder zu. Dies zeigt beispielsweise der jüngste IQB-Bildungstrend 2021 für die Viertklässler:innen. Er verdeutlicht, dass sich die durchschnittlichen Kompetenzen im Lesen und in Mathematik in den vergangenen Jahren verschlechtert haben, dass sich der Anteil der Schüler:innen, der die Mindeststandards erreicht, verringert hat und dass die soziale Selektivität der Bildungsergebnisse zugenommen hat. Im Durchschnitt erreicht Deutschland heute in etwa die Kompetenzwerte wie das schlechteste Bundesland im Jahr 2011 (Stanat et al., 2022). Diese Entwicklung kann unter anderem auf eine veränderte Zusammensetzung der Schülerschaft und auf die Schulschließungen während der Coronakrise zurückgeführt werden. Unterschiedliche Metastudien zu den Effekten der Schulschließungen in verschiedenen Ländern auf die Kompetenzen der Schüler:innen kommen zu dem Schluss, dass in vielen Fächern Lernrückstände entstanden sind. Diese fallen tendenziell bei jüngeren Kindern und bei Kindern mit einem geringen sozioökonomischen Status größer aus und sind in Mathematik größer als im Lesen (Zierer, 2021; Hammerstein et al., 2021; Patrinos et al., 2022; Betthäuser et al., 2022). Der Bildungserfolg hängt von öffentlichen Inputs durch das Bildungssystem und häuslichen Investments durch die Familie ab. Während der Coronapandemie hat die häusliche Förderung an Bedeutung gewonnen, diese fällt jedoch in den einzelnen Familien sehr unterschiedlich aus.
Bildungsinvestitionen der Eltern unterscheiden sich
In den vergangenen Jahren lässt sich in vielen Ländern eine Zunahme einer „intensiven Elternschaft“ feststellen. Viele Eltern steigern ihre materiellen und immateriellen Investitionen, um ihren Kindern gute Startbedingungen und bestmögliche Zukunftschancen zu ermöglichen. Dabei setzen sie zunehmend auf einen autoritativen Erziehungsstil, bei dem sie versuchen, die Vorlieben ihrer Kinder so zu formen, dass sie Entscheidungen treffen, die die Eltern als förderlich für den Erfolg im Leben ansehen. Dieser Stil ist aus ökonomischen Gründen dann besonders vorteilhaft, wenn die Bildungsrenditen hoch sind und zugleich eine große intergenerationale Mobilität bei der Berufswahl vorliegt. International ist dieser Stil stärker in Ländern mit hohen Bildungsrenditen, wie den USA oder China, verbreitet als in Ländern mit geringeren Bildungsrenditen wie Schweden (Doepke und Zilibotti, 2017, 2019).
Der Neunte Familienbericht zeigt, dass eine Intensivierung der Elternschaft auch in Deutschland zu beobachten ist. Dabei verbringen die Eltern mehr Zeit mit der Kinderbetreuung, sie verbringen die Zeit intensiver mit den Kindern oder sie investieren mehr finanzielle Ressourcen in die Ausbildung der Kinder (BMFSFJ, 2021, 148). Eigene Berechnungen mit den PISA-Daten aus dem Jahr 2018 zeigen, dass Eltern mit einem akademischen Hintergrund ihre Kinder bei gleichen Kompetenzen der Kinder öfter bei den Schulaufgaben unterstützen als Eltern mit niedrigeren Bildungsabschlüssen (Anger und Plünnecke, 2020). Darüber hinaus ist der Anteil von Kindern im vorschulischen Alter, denen täglich vorgelesen oder Geschichten erzählt werden, in Familien, in denen Eltern über keine guten Deutschkenntnisse verfügen, unterdurchschnittlich gering. Nur 37,8 % von ihnen werden im Jahr 2019 durch tägliches Vorlesen geprägt, während dieser Anteil für Kinder ohne Migrationshintergrund mit 68,2 % erheblich höher ausfällt. Noch größer sind die Unterschiede zwischen Kindern mit Eltern, die mindestens einen akademischen Elternteil haben zu Kindern mit Eltern ohne berufsqualifizierenden Abschluss. Hier betragen die entsprechenden Werte im Jahr 2019 78,5 % bzw. 23,9 % (Geis-Thöne, 2022).
Unterschiedlicher Kontakt zum Bildungssystem
Neben Unterschieden bei der Förderung in den Familien zeigen sich ebenfalls schon sehr früh Unterschiede bei der Nutzung freiwilliger Bildungsangebote. So ist der Anteil der Kinder, die eine Kindertagesstätte besuchen, sowohl bei Kindern aus Familien mit guten Kenntnissen der deutschen Sprache als auch bei Eltern mit höheren Bildungsabschlüssen deutlich größer als bei Kindern aus Elternhäusern mit weniger guten Deutschkenntnissen oder niedrigeren Bildungsabschlüssen. Letztere weisen dabei oftmals einen höheren Betreuungswunsch auf, können diesen jedoch häufiger nicht realisieren (BIB, 2023). Zudem unterscheidet sich die Kontakthäufigkeit der Eltern zu den Lehrkräften. So liegt im Jahr 2019 der Anteil der Kinder mit Eltern ohne gute deutsche Sprachkenntnisse, die nicht regelmäßig die Elternabende in der Schule besuchen, mit 29,3 % um mehr als das Sechsfache höher als bei Kindern mit Eltern ohne Migrationshintergrund. Ähnlich groß fällt der Unterschied zwischen Kindern mit Eltern aus, die mindestens einen akademischen Elternteil haben, zu Kindern mit Eltern ohne berufsqualifizierenden Abschluss. Hier betragen die entsprechenden Werte 5,3 % bzw. 22,5 % (Geis-Thöne, 2022).
Hinzu kommt, dass auch in den Fällen, in denen die höher gebildeten Eltern ihre Kinder nicht selbst unterstützen können, sie eher externe Unterstützung für ihre Kinder organisieren. So haben Kinder aus Akademikerhaushalten nach den coronabedingten Schulschließungen häufiger an Fördermaßnahmen zum Nachholen des Schulstoffs teilgenommen als Kinder aus Nicht-Akademikerhaushalten. An mindestens einer Maßnahme nahmen 31 % der Akademikerkinder und nur 18 % der Nicht-Akademikerkinder teil (Wößmann et al., 2021).
Neben den primären Herkunftseffekten, die sich auf die Leistung der Kinder auswirken, erweisen sich im deutschen Bildungssystem aber auch die sekundären Herkunftseffekte als relevant (Anger und Plünnecke, 2021, 18 f.). So können Eltern mit akademischem Hintergrund ihre Kinder auf Grundlage ihrer eigenen bildungsbezogenen Erfahrungen besser beraten und verfügen unter Umständen über umfangreicheres Wissen über die Zugänge zu und Möglichkeiten von höheren Bildungswegen (Blossfeld et al., 2019, 19). Wie Anger und Plünnecke (2021) zeigen, variieren jedoch nicht nur die Bildungsentscheidungen der Eltern in Abhängigkeit von ihrem Bildungshintergrund, sondern auch Lehrkräfte können durch das Wissen über den familiären Bildungshintergrund eines Kindes in ihren Empfehlungen etwa für die weiterführende Schule beeinflusst werden, worauf auch der Neunte Familienbericht der Bundesregierung hinweist (BMFSFJ, 2021).
Eltern gezielt unterstützen und begleiten
In vielen Familien kommt es zu einer Kumulierung und gegenseitigen Verstärkung mehrerer ungünstiger Herkunftsfaktoren. Um fehlende Möglichkeiten der Eltern zur Förderung ihrer Kinder zu kompensieren, sollten Eltern gezielt unterstützt und begleitet werden (BMFSFJ, 2021). Die Sprachförderung sollte früh im Leben einsetzen und bei Bedarf sehr intensiv erfolgen. Wichtig ist, dass sie sich an den individuellen Bedarfen der Kinder orientiert. Bestehende und gut evaluierte Programme an Kitas sollten ausgebaut und verstetigt werden sowie zusätzliche Programme an Schulen entwickelt werden. Im Fokus des Sprach-Kita-Programms liegt beispielsweise die gezielte Förderung von „Kindern mit besonderem Bedarf an sprachlicher Bildung“ (Anders et al., 2020, 3). Ferner wird auch der Kontakt zu den Familien adressiert, um die Kooperation der beiden Lernumwelten der Familie und der Kindertageseinrichtung zu fördern (Anders et al., 2020, 3). Von zunehmender Bedeutung für gute Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten ist auch eine gelungene Kooperation zwischen Schule und Eltern. Der Neunte Familienbericht spricht in diesem Zusammenhang von Erziehungs- bzw. Bildungspartnerschaften, die es zu stärken gilt. Demnach wirkt es sich positiv auf die Entwicklung von Kindern aus, wenn Eltern an ihren schulischen Fortschritten teilhaben und die individuellen Bedürfnisse eines Kindes zwischen Schule und Eltern kommuniziert werden (BMFSFJ, 2021). Weiterhin ist es wichtig, Kitas im Sinne einer nachhaltigen investiven Sozialpolitik zu Familienzentren weiter auszubauen und Familienzentren auch an Grundschulen einzuführen. Somit können auch Eltern besser unterstützt werden, sodass die Durchlässigkeit im Bildungssystem weiter erhöht werden kann. Familienzentren können dazu beitragen, herkunftsbedingte Ungleichheiten abzubauen. Die Angebote in den Familienzentren sollten niedrigschwellig zugänglich sein, d. h. „passgenau, formal voraussetzungsfrei, unverbindlich, in den Alltag integrierbar, räumlich nah und erschwinglich“ (Boll, 2021, 883).
Qualität der individuellen Förderung verbessern
Um von den Förderangeboten bereits früh profitieren und Ungleichheiten möglichst schon vor Schuleintritt abbauen zu können, sollte eine Erhöhung der Teilnahme in Kindertageseinrichtungen angestrebt werden. Aktuell besuchen Kinder mit Migrationshintergrund vor Schulbeginn seltener eine Kindertageseinrichtung als Kinder ohne Migrationshintergrund (Geis-Thöne, 2022). Wie Boll (2021, 871) zeigt, haben dadurch in den vergangenen Jahren von einem Ausbau der Kindertagesstätten für Kinder unter drei Jahren vor allem ressourcenstarke Familien profitiert. Zudem sollten Ganztagsangebote ausgeweitet und die Qualität der Einrichtungen durch multiprofessionelle Teams verbessert werden, die die Lehrkräfte in ihrer Arbeit unterstützen. Durch die Ausweitung multiprofessioneller Teams (IT-Expert:innen, Gesundheitsberater:innen, Schulpsycholog:innen) kann die individuelle Förderung an Schulen besser gelingen. Wie der Neunte Familienbericht betont, können durch multiprofessionelle Blickwinkel die individuellen Lebenswelten und Bedürfnisse der Schüler:innen umfangreicher berücksichtigt werden (BMFSFJ, 2021). An den Ganztagsschulen sollten Stellen für Chancenbeauftragte an Schulen geschaffen werden, die Konzepte entwickeln und umsetzen, wie die im Zuge der Coronakrise entstandenen Einbußen an Chancengleichheit kompensiert und darüber hinaus nachhaltig Chancengleichheit bei der Bildung erreicht werden können. Hierzu sollten Daten zu Kompetenzen und Bildungsverläufen bundesweit in allen Jahrgängen erhoben und zur Evaluation bestehender Maßnahmen sowie deren Weiterentwicklung genutzt werden. Diese zusätzlichen Förderbedarfe sollten bei der Verteilung der finanziellen Mittel und Planstellen berücksichtigt werden. Grundlage sollte ein Sozialindex sein, der die familiären Hintergründe der Schüler:innen statistisch erfasst (Anger und Plünnecke, 2021). Letztlich zeigen auch die computer- und informationsbezogenen Kompetenzen der Jugendlichen ein hohes Maß an sozialer Selektivität (Eickelmann et al., 2019). Neben den teilweise zu geringen Lese- und Mathematikkompetenzen besteht damit eine weitere Hürde für die Nachwuchsgewinnung in MINT-Fächern. Um die MINT-Fächer als Aufstiegsfächer zu stärken und die Potenziale der Bildungsaufsteiger:innen besser zu erschließen, sollte die Vermittlung digitaler Kompetenzen gestärkt und Informatik als Schulfach ausgebaut werden. Die Versorgung mit MINT-Lehrkräften ist sicherzustellen und eine klischeefreie Studien- und Berufsorientierung ist zu stärken. Wichtig sind dabei auch bessere Feedbacksysteme, damit Kinder aus bildungsfernen Haushalten ihre vorhandenen Stärken besser wahrnehmen und erkennen können (Anger et al., 2022).
Literatur
Anders, Y. et al. (2020), Policy Brief zum vierten Zwischenbericht zur wissenschaftlichen Evaluation des Bundesprogramms „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“.
Anger, C. und A. Plünnecke (2020), Schulische Bildung zu Zeiten der Corona-Krise, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 21(4), 353-360.
Anger, C. und A. Plünnecke (2021), Bildungsgerechtigkeit. Herausforderungen für das deutsche Bildungssystem, IW-Analysen, 140.
Anger, C., J. Betz, E. Kohlisch und A. Plünnecke (2022), MINT-Herbstreport 2022.
Betthäuser, B. A. et al. (2022), A systemativ review and meta-analysis of the impact of the COVID-19 pandemic on learning.
BIB (2023), Weiterhin Ungleichheiten bei der KITA-Nutzung, Bevölkerungsforschung aktuell, 2, 2023, 3-8.
Blossfeld, H.-P., G. J. Blossfeld und P. N. Blossfeld (2019), Soziale Ungleichheiten und Bildungsentscheidungen im Lebensverlauf. Die Perspektive der Bildungssoziologie, Journal for Educational Research Online, 11(1), 16-30.
BMFSFJ – Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2021), Neunter Familienbericht, Eltern sein in Deutschland , Drucksache 19/27200.
Boll, C. (2021), Soziale Disparitäten bei der Nutzung familienbezogener sozialer Infrastruktur, in Sachverständigenkommission des Neunten Familienberichts (Hrsg.), Eltern sein in Deutschland. Materialien zum Neunten Familienbericht der Bundesregierung, 863-888.
Demary, V., J. Matthes, A. Plünnecke und T. Schaefer (2021), Gleichzeitig: Wie vier Disruptionen die deutsche Wirtschaft verändern, IW-Studien.
Doepke, M. und F. Zilibotti (2017), Parenting with Style: Altruism and Paternalism in Intergenerational Preference Transmission, Econometrica, 85(5), 1331-1371.
Doepke, M. und F. Zilibotti (2019), Love, Money and Parenting, How economics explains the way we raise our kids.
Eickelmann, B. et al. (Hrsg.) (2019), ICILS 2018, Computer- und informationsbezogene Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern im zweiten internationalen Vergleich im Bereich Computational Thinking.
Geis-Thöne, W. (2022), Kinder mit nicht deutschsprechenden Eltern, IW-Trends, 49(1), 111-132.
Hammerstein, S. et al. (2021), Effects of COVID-19 Related School Closures on Student Achievement – A Systematic Review.
Patrinos, H. A. et al. (2022), An Analysis of COVID-19 Student Learning Loss, World Bank Policy Research Working Paper, 10033.
Stanat, P. et al. (Hrsg.) (2022), IQB-Bildungstrend 2021, Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe.
Statistisches Bundesamt (verschiedene Jahrgänge), Bildung und Kultur, Studierende an Hochschulen, Fachserie 11, Reihe 4.1.
Wößmann, L. et al. (2021), Bildung erneut im Lockdown: Wie verbrachten Schulkinder die Schulschließungen Anfang 2021?, ifo Schnelldienst, 74(5), 36-52.
Zierer, K. (2021), Effects of Pandemic-Related School Closures on Pupils´ Performance and Learning in Selected Countries: A Rapid Review, Education Sciences, 11(252), 1-12.