Kaum eine Politik ist so massiv kritisiert worden wie die Europäische Agrarpolitik. Entsprechend befindet sich diese seit ihrer Gründung 1962 in einem Dauer-Reformprozess, der allein in den vergangenen 30 Jahren sechs große Reformen umfasst. Dabei stellen sich zentrale Fragen: Was ist die Logik der unendlichen Reform-Geschichte der EU-Agrarpolitik? Sind die Agrarreformen im Kern eine sachlogische Konsequenz veränderter Zielvorstellungen oder struktureller Rahmenbedingungen und somit dynamisch effizient? Oder aber stellen diese eine Sequenz von erfolglosen politischen Lernprozessen und damit ein permanentes Politikversagen dar? Letzteres impliziert, dass es andere effizientere Politikoptionen gibt, die bei gegebenen demokratischen Kräfteverhältnissen und Entscheidungsverfahren politisch durchsetzbar wären.
Die Gemeinsame EU-Agrarpolitik (GAP)
Einkommensorientierte Agrarpolitik
Die bereits 1957 im Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in Art. 39 proklamierten Ziele1 der GAP blieben trotz der vielen Reformen bis zur aktuellen Agrarreform 2021 formal unverändert. Allerdings haben sich die Gewichte dieser proklamierten Ziele der Agrarpolitik im Zeitablauf verschoben (vgl. Abbildung 1). Erst mit der GAP-Reform 2013 wurde ein Paradigmenwechsel von einer einkommensorientierten hin zu einer nachhaltig orientierten Agrarpolitik eingeleitet, der sich mit der aktuellen Reform 2021 endgültig vollzogen hat. Mit ihr wurden die Ziele der GAP formal an den drei Nachhaltigkeitsdimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales ausgerichtet und erstmals abweichend von Art. 39 zehn konkrete Ziele formuliert (EU-Kommission, o. J.).
Abbildung 1
Entwicklung der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik (GAP)
Quelle: in Anlehnung an Weingarten (2021).
Die GAP ist eine gemeinsame Politik für alle Mitgliedstaaten der EU. Sie wird aus den Mitteln des EU-Haushalts auf europäischer Ebene finanziert und verwaltet, wobei Mittel nach dem Prinzip der finanziellen Solidarität in der 1. Säule komplett und in einer 2. Säule nur anteilig durch die EU finanziert werden.
Die Entwicklung der GAP lässt sich in drei Phasen aufteilen. Phase I umfasst zunächst ihre Implementation in den 1960er bis 1970er Jahren, die vor dem Hintergrund von Unterversorgung und Hunger in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren sowie ausgeprägten strukturellen Anpassungsproblemen in der Landwirtschaft als protektionistische Agrarpreispolitik konzipiert wurde. Zur Regelung der Agrarmärkte wurden Marktordnungen geschaffen. Dominant war das Abschöpfungs-Interventionssystem, das in den Marktordnungen für die zentralen EU-Produkte (Milch, Zucker, Rindfleisch und Getreide) der sechs Gründungsmitglieder umgesetzt wurde. In den späten 1970er Jahren und 1980er Jahren führte die stark gestiegene (Überschuss-)Produktion zu „Milchseen“ und „Butterbergen“. Verbunden damit waren stark steigende Agrarausgaben und internationale Handelskonflikte auf den Weltagrarmärkten, ausgelöst durch die subventionierten EU-Agrarexporte. Dies alles, aber auch die vermehrten internen Budgetkonflikte, die sich in einer erweiterten EU-12 als zunehmendem Agrarnettoexporteur aufgrund der speziellen Finanzierungsregeln der GAP zwischen den Mitgliedstaaten ergaben, führten zu einer vermehrten Kritik und Krise des Abschöpfungs-Interventionssystems. In Phase II kam es mit der MacSharry-Reform 1992 zu einem fundamentalen Reformprozess der GAP von einer einkommensorientierten Preispolitik hin zu einer marktorientierten Transferpolitik, dabei fand ein sukzessiver totaler Abbau der Agrarpreisprotektion statt (vgl. Abbildung 2). Darüber hinaus erfolgte eine Anpassung der Direktzahlungen. Einen Meilenstein stellt die Entkopplung der Direktzahlungen in der Mid-Term-Reform 2003 dar: Sie wurden unabhängig von der Produktion einheitlich pro ha Betriebsfläche gezahlt und explizit an die Einhaltung spezieller Umweltstandards (Cross Compliance) gebunden.
Abbildung 2
Unterstützung der EU-Landwirtschaft, 1986 bis 2017
TSE = Total Support Estimate; TSEC = Transfers from Consumers; TSEB = Transfers from taxpayers.
Quelle: eigene Berechnung nach OECD (o. J.)
Nachhaltig orientierte Agrarpolitik
Mit der GAP-Reform von 2013 erfolgte ein Paradigmenwechsel in der GAP von einer einkommens- zu einer nachhaltigkeitsorientierten Agrarpolitik. Wichtigstes Element der Beschlüsse von 2013 war das Greening, d. h. Betriebe erhielten nur dann Direktzahlungen in voller Höhe, wenn sie Mindeststandards in Bezug auf die Kulturpflanzenvielfalt und die Erhaltung von Dauergrünland erfüllten sowie mindestens 5 % ihrer Ackerfläche im Umweltinteresse nutzten (ökologische Vorrangflächen).
Nicht zuletzt aufgrund der praktischen Wirkungslosigkeit der Greening-Maßnahmen erfolgte eine weitere GAP-Reform im Jahr 2021. Konkret wurden mit der Farm-to-Fork-Strategie (F2F) sowie der Biodiversitätsstrategie konkrete Maßnahmen formuliert, um die Green-Deal-Ziele (1) einer kompletten THG-Emissionsreduktion bis 2050, (2) einer kompletten Reduktion der Nitrat-Belastungen der Grund- und Fließgewässer sowie (3) einer signifikanten Steigerung der Biodiversität in der Landwirtschaft umzusetzen.
Kernstück der Reform 2021 ist – neben der Schaffung einer neuen Governance-Struktur der GAP, die eine stärkere Dezentralisierung mit erheblich größerem nationalen Gestaltungsspielraum für die Mitgliedstaaten impliziert – die sogenannte Grüne Architektur, die die Umsetzung der Green Deal Ziele in der Landwirtschaft bewirken soll. Sie umfasst drei Elemente: a) die „neue Konditionalität“, b) die sogenannten Öko-Regelungen in der 1. Säule (mindestens 25 % der Direktzahlungen müssen in Form von Öko-Regelungen erfolgen) und c) umwelt- und klimaschutzrelevante flächenbezogene (AUKM) Maßnahmen der 2. Säule (mindestens 35 % der gesamten Mittel zur Entwicklung des ländlichen Raumes werden in Form von mehrjährigen AUKM-Maßnahmen bereitgestellt).
Darüber hinaus beinhaltet die GAP-Reform eine Umverteilung der Direktzahlungen zugunsten kleiner und mittlerer Betriebe, die durch die Kappung von Prämienzahlungen erfolgt: Direktzahlungen werden ab einer Grenze von 60.000 Euro pro Betrieb zunehmend und über 100.000 Euro komplett gekürzt.
Deutsche Agrarpolitik
Neben der EU-Agrarpolitik stellt die seit über 50 Jahren bestehende Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes (GAK) einen zweiten historischen Pfeiler nationaler deutscher Agrarpolitik dar. Ihre rechtlichen Grundlagen wurden 1969 mit Einführung der Gemeinschaftsaufgaben im Grundgesetz gelegt. Seitdem hat sie sich kontinuierlich in mehreren Novellen des GAK-Gesetzes weiterentwickelt. Entsprechend ihrer zentralen Zielsetzung umfasst die GAK im Wesentlichen agrarsektorale und regionale strukturpolitische Maßnahmen, die in jährlichen Rahmenplänen von Bund und Ländern gemeinsam festgelegt und allein von letzteren durch konkrete Fördermaßnahmen umgesetzt werden. Auch die GAK wurde in den vergangenen Jahren zunehmend auf Nachhaltigkeit sowie die ländliche Entwicklung hin ausgerichtet (Weingarten et al., 2023).
Im Vergleich zu der EU-Agrarpolitik liegt das jährliche Budget der GAK mit rund 1,9 Mrd. Euro im Jahr 2021 ungefähr in der Größenordnung der EU-Ausgaben in der 2. Säule. Insgesamt ergeben sich somit staatliche Zahlungen in Höhe von 8,6 Mrd. Euro, d. h. rund 515 Euro/ha und Jahr, an die Landwirtschaft2.
Die Logik der alten Agrarpolitik 1962-2020
Die erste Phase wurde klar durch das Ziel der Einkommensstabilisierung der Einkommen der Landwirte dominiert. Dies wurde durch den Indikator der sektoralen Einkommensdisparität, der unter anderem regelmäßig in dem Agrarbericht der Bundesregierung publiziert wurde, dokumentiert. Trotz massiver Abwanderung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte mit Abwanderungsraten von über 2,7 % (was einer Halbierung der Arbeitskräfte alle 25 Jahre entspricht) ergab sich eine zunehmende sektorale Einkommensdisparität, die von rund 25 % auf über 40 % im Jahr 1990 anstieg.
Theoretisch ergibt sich in einer wachsenden Volkswirtschaft mit zunehmendem Pro-Kopf-Einkommen aufgrund des Engelschen Gesetzes ein optimaler dynamischer Anpassungspfad, der eine starke Verschiebung der Produktionsfaktoren vom landwirtschaftlichen in den nichtlandwirtschaftlichen Sektor vorsieht (Henrichsmeyer und Witzke, 1991). Störungen in dieser Abwanderung der Faktoren führen zu strukturellen Anpassungsschwierigkeiten und einer relativ geringeren Faktorentlohnung in der Landwirtschaft, insbesondere in kleinen Betrieben, was oft zu sozialen Härten führt. Eine adäquate Politik zur sozialen Abfederung des Agrarstrukturwandels wäre eine effiziente und effektive soziale Transferpolitik, die direkte personalisierte Einkommenstransfers an bedürftige Landwirte vorsieht. Stattdessen wurde jedoch eine protektionistische Preispolitik gewählt, um die Einkommen der Landwirte zu stabilisieren. Im Gegensatz zu direkten Einkommenstransfers belastet diese Politik in erster Linie die Konsumenten durch höhere Lebensmittelpreise, während insbesondere große Betriebe von den höheren Agrarpreisen profitieren, da sie einen größeren Marktanteil haben (von Witzke, 1979).
Die Wahl der Agrarpreispolitik lässt sich politisch-ökonomisch erklären durch den relativen politischen Einfluss der großen gegenüber den kleinen Betrieben sowie der Steuerzahler gegenüber den Verbrauchern. Weiterhin führte die EU-Agrarpreispolitik zu Einkommenstransfers zwischen den EU-Mitgliedstaaten, wobei insbesondere deutsche Konsumenten als Nettoimporteure französische Landwirte als Nettoexporteure unterstützten. Dieser internationale Einkommenstransfer war ein institutionalisierter Bestandteil der EWG-Architektur, bei der Deutschland und Frankreich sich auf eine gemeinsame protektionistische Agrarpolitik einigten, die einen institutionalisierten Umverteilungsmechanismus von Integrationsgewinnen im Nichtagrarsektor, die vornehmlich in Deutschland realisiert wurden, primär an Frankreich als großem Agrarexporteur manifestierte.
Aufgrund der EU-Erweiterung auf schließlich 28 Länder veränderten sich die strukturellen Rahmenbedingungen der GAP. Zusätzlich kam es nicht zuletzt aufgrund der Hochpreispolitik zu starken Produktionssteigerungen in der EU-Landwirtschaft. Durch diese Entwicklungen erhöhten sich unerwünschte Nebeneffekte der EU-Agrarpreispolitik enorm (von Witzke, 1986). Es kam zu einem exponentiellen Anstieg der Budgetausgaben, da die erweiterte EU zu einem bedeutenden Nettoexporteur wurde (Moyer und Josling, 1990). Gleichzeitig führte die EU-Agrarprotektion zu zunehmenden internationalen Handelskonflikten aufgrund sinkender Weltmarktpreise (Koester, 1986). Das spezielle EU-Entscheidungsverfahren führte in einer erweiterten EU mit zunehmend heterogenen Mitgliedstaaten systematisch zu einer überhöhten Agrarprotektion (Pokrivcak et al., 2001; Henning, 2008). Diese Entwicklungen führten schließlich zu einem fundamentalen Reformprozess der GAP, der in der kompletten Transformation der Agrarpreispolitik zu einer Transferpolitik mit entkoppelten Direktzahlungen mündete.
Interessanterweise folgte das System der entkoppelten Direktzahlungen weiterhin der alten Verteilungslogik mit einem Fokus auf Einkommenstransfers in Richtung großer Betriebe. In der gesamten EU wurden rund 53 % der entkoppelten Direktzahlungen an die 3 % größten Betriebe über 100 ha ausgezahlt. In Deutschland erhielten die 12 % größten Betriebe knapp 60 % der entkoppelten Direktzahlungen. Das Prinzip der finanziellen Solidarität führte auch für das System der entkoppelten Direktzahlungen zu Netto-Transferströmen zwischen den EU-Mitgliedstaaten, die der Logik einer institutionalisierten Umverteilung der Integrationsgewinne folgten, wobei vor allem Umverteilungen von reichen nord-westeuropäischen zu den neuen ost- und südeuropäischen Mitgliedstaaten zu beobachten sind (vgl. Abbildung 3 bzw. Henning, 2004).
Abbildung 3
Nettobeiträge zum EU-Haushalt und Wirtschaftskraft der EU-Staaten 2018
1 Länder mit positiven Pro-Kopf-Nettobeiträgen sind Nettoempfänger, Länder mit negativen Nettozahler. Verwaltungsausgaben und Traditionelle Eigenmittel (Zölle) sind nicht enthalten.
Quelle: Deutsche Bundesbank (2020).
Die GAP-Reform führte zunächst lediglich zu einem anderen Mix der Finanzierung, zunehmend Direktzahlungen finanziert aus dem EU-Budget durch den Steuerzahler und weniger Preisstützung über den Markt durch den Verbraucher. Erst durch die konstitutionelle Reform mit dem Übergang vom Konsultations- zum Mitentscheidungsverfahren, wodurch das EU-Parlament zur gleichwertigen Kammer neben dem Agrarministerrat wurde, konnte das Protektionsniveau systematisch von 1.000 Euro/ha 2004 auf 517 Euro 2017 abgesenkt werden (vgl. Abbildung 2 sowie Henning, 2004, 2008).
Die Logik der neuen Agrarpolitik 2023 bis 2027
Berücksichtigt man die hohe Zahlungsbereitschaft der europäischen Bevölkerung für die Erreichung der Green Deal Ziele, so kommen ökonomische Studien zu einem Nachfragepotenzial für Ökosystemleistungen der Landwirtschaft von rund 320 Mrd. Euro in der gesamten EU-27 oder rund 2.000 Euro/ha landwirtschaftlich genutzte Fläche (LF) (Henning et al., 2021). Die Anpassungskosten für die Umsetzung der F2F-Strategie werden auf etwa 42 Mrd. Euro geschätzt, das entspricht rund 259 Euro/ha LF. Dies verdeutlicht das enorme Potenzial des Green Deals in der Landwirtschaft. Allerdings zeigt die Studie auch, dass agrarpolitische Lösungen gefunden werden müssen, die effektiv, effizient und politisch durchführbar sind, d. h. durch eine Mehrheit in den EU-Institutionen unterstützt werden, um dieses Potenzial auszuschöpfen.
Hinsichtlich der Effektivität und Effizienz ist es wichtig, dass die neue Agrarpolitik Anreize für Unternehmer und Verbraucher setzt, gesellschaftlich gewünschte Ökosystemleistungen zu produzieren und unternehmerische Innovationskraft freizusetzen, um effizientere Technologien dynamisch zu entwickeln. Technische Ansatzstellen, die unmittelbar an den gewünschten Ökosystemleistungen ansetzen, sind für den Klimaschutz die THG-Emissionen und für die Stickstoff-Belastung die betriebliche Bruttostickstoffbilanz. Eine bürokratische Vorgabe spezieller Technologien, wie in der Grünen Architektur der aktuellen GAP, sei ineffizient und wenig effektiv, da sie Unternehmeranreize blockiert bzw. falsch setzt. Das gemeinsame Überwachungs- und Bewertungssystem (CMEF) beinhaltet keine Impact-Evaluation, sodass die konkrete Wirkung einzelner Maßnahmen auf Ökosystemleistungen nicht gemessen werden kann. Monetäre Anreize einzelner Ökoregelungen erscheinen ad hoc und implizieren eine ineffiziente Fehlallokation von finanziellen Mitteln und Anreizen.
Die absolute Höhe der finanziellen Mittel für die Grüne Architektur ist im Vergleich zu den geschätzten Anpassungskosten viel zu gering. Vorgesehen sind durchschnittlich 100 Euro/ha LF (67 Euro/ha LF in der 1. und 33 Euro/ha LF in der 2. Säule, Reiter et al., 2024) im Vergleich zu Kosten von 259 Euro/ha LF für die Umsetzung der F2F-Strategie (Henning et al., 2021). Die Partizipationsrate in diesen Programmen wird entsprechend gering ausfallen und es werden nur sehr geringe Ökosystemleistungen erzielt. Unter anderen zeigen wissenschaftliche Studien, dass eine Ausdehnung des Ökolandbaus auf 25 % der LF, die durchschnittliche Brutto-Stickstoffbilanz pro ha wie auch die THG-Emissionen nur um 5 % reduzieren würde (Henning et al., 2021). Eine effektive Transformation zu einer nachhaltigen Landwirtschaft erfordert somit eine fundamentale Reform der Direktzahlungen, die deutlich über aktuelle Ökoregelungen hinausgeht, wie z. B. Umweltzertifikate. Ebenso wird von der erweiterten Konditionalität kaum ein messbarer positiver Effekt auf die Ökosystemleistungen ausgeübt, da diese im Kern einer Kombination der alten Cross-Compliance und der Greening-Bedingungen entspricht.
Die Frage der Transfereffizienz zur sozialen Sicherung der landwirtschaftlichen Einkommen ist auch in der aktuellen GAP-Reform nicht wirklich gelöst. Erstens ergibt sich auch nach Umverteilung von 10,6 % der Direktzahlungen von großen zu kleinen und mittleren Betrieben nach wie vor eine sehr ungleiche Verteilung der Direktzahlungen. Konkret würden weiterhin über 50 % der gesamten Basisprämienzahlungen an die 3 % der größten Betriebe gezahlt werden. Zweitens sollte sich eine soziale Einkommenspolitik nicht an den funktionellen, sondern den personellen Einkommen orientieren. Aufgrund des sehr hohen Anteils der Nebenerwerbsbetriebe von über 50 % ist es fraglich, wie hoch der Anteil an Betriebsleitern in der Landwirtschaft ist, die ein Anrecht auf staatliche Einkommenstransfers nach den Standards der Sozialgesetzgebung haben.
Fazit
So wie die EU-Agrarpreispolitik historisch betrachtet keine effektive Lösung der sozialen Abfederung des Agrarstrukturwandels darstellte, so bietet die Grüne Architektur der aktuellen EU-Agrarreform noch keine adäquaten politischen Rahmenbedingungen für eine effektive Transformation zu einer nachhaltigen Landwirtschaft. Umgekehrt können Wasser- und Klimaschutz definitiv nicht allein über den Markt hinreichend honoriert werden. In diesem Zusammenhang stellen handelbare Umweltzertifikate, welche bereits mit dem EU ETS-System für CO2-Emissionen eingeführt wurden, vielversprechende innovative politische Steuerungsmechanismen zwischen Markt und Staat dar. Diese garantieren auch eine politische Durchführbarkeit, da eine entsprechende Aufteilung der Zertifikateigentumsrechte zwischen Landwirten und Verbrauchern bzw. zwischen den EU-Mitgliedstaaten eine flexible Verteilung von Netto-Gewinnen erlaubt. Insbesondere kann dadurch die doppelte Verteilungslogik der EU-Agrarpolitik als institutionalisierter Mechanismus zur Umverteilung von Integrationsgewinnen zwischen Mitgliedsstaaten sowie der Sicherstellung von Mitnahmegewinnen der Großbetriebe erfüllt werden. Darüber hinaus können Zertifikatrechte dynamisch an veränderte ökonomische Rahmenbedingungen angepasst werden. Umweltzertifikate könnten auch zur Steuerung der Stickstoffbilanzen in der Landwirtschaft eingesetzt werden. Hier muss der Handel von Zertifikaten allerdings regional begrenzt werden, um eine effektive Entlastung der jeweiligen regionalen Grund- und Fließgewässer zu gewährleisten. Zur Förderung der Biodiversität erscheinen Umweltzertifikate aufgrund einer fehlenden klaren Ansatzstelle zurzeit noch schwierig. Hier erscheinen Zertifikate für ökologische Vorrangflächen wie auch Pestizideinsatz mögliche Surrogate. Der Zertifikathandel könnte in bestimmten Bereichen durch regulative Vorgaben sinnvoll ergänzt werden, z. B. als verschärfte Konditionalität zur Vermeidung von Leakage-Effekten aufgrund von Landnutzungsänderungen.
Insgesamt stellt die agrarpolitische Umsetzung des Green Deals in der Landwirtschaft ein hervorragendes Politikfeld dar, in dem Politik, Wissenschaft und Gesellschaft wertvolle Erfahrungen durch politische Lernprozesse für die grundlegende Transformation in eine Bioökonomie sammeln können. Dies gilt insbesondere, da die Anpassungskosten der Transformation in ein nachhaltiges Food System vergleichsweise gering sind. Für die EU liegen diese deutlich unter 1 % des Pro-Kopf-Einkommens. Absolut sind diese mit rund 1.000 Euro/ha trotzdem erheblich (Henning et al., 2023), sodass zumindest temporär eine Aufstockung des EU-Agrarbudget erforderlich wird, obwohl diese Kosten mittelfristig zu einem großen Teil auf die Verbraucher via Erzeugerpreiserhöhungen überwälzt werden (Henning et al., 2021, 2023). Vor dem Hintergrund der historischen Unterstützung und vor allem der hohen Zahlungsbereitschaft für Ökosystemleistungen relativieren sich diese Kosten aber deutlich. Trotzdem sind zur effektiven Umsetzung noch einige politische Lernprozesse notwendig, die hoffentlich nicht wie in der alten Agrarpolitik wieder über 40 Jahre dauern werden.
- 1 (1) Steigerung der Produktivität in der Landwirtschaft, (2) Angemessene Lebenshaltung der Landwirte, (3) Stabilisierung der Märkte, (4) Sichere Versorgung der Bevölkerung zu (5) angemessen Verbraucherpreisen.
- 2 Zusätzlich erfolgen staatliche Zuschüsse in Höhe von 4,1 Mrd. Euro pro Jahr an die landwirtschaftlichen Sozialversicherungssysteme (Kranken,- Renten- und Unfallversicherung). Diese sind allerdings grundsätzlich anders zu bewerten und sachlogisch eine Konsequenz der demografischen Zusammensetzung der Landwirte (Mehl, 1999).
Literatur
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