Die bisher vom Bund im Rahmen der Ausnahme von der Schuldenbremse aufgenommenen Notkredite müssen zwischen 2028 und 2061 getilgt werden. Vor diesem Hintergrund werden die rechtlichen Rahmenbedingungen, die fiskalischen Auswirkungen und die Herausforderungen beim Schuldenmanagement näher betrachtet. Die Details der gesetzlichen Verpflichtung zur Rückzahlung werden im öffentlichen Diskurs oft missverstanden, was Bedenken hinsichtlich der fiskalischen Nachhaltigkeit aufkommen lässt. Ein transparentes und rechenschaftspflichtiges Schuldenmanagement ist erforderlich, um Generationengerechtigkeit zu gewährleisten.
2020 wurde aufgrund der Coronapandemie erstmals von der Ausnahmeregelung der Schuldenbremse Gebrauch gemacht. Damit war es dem Haushaltsgesetzgeber möglich, Kreditermächtigungen zu erteilen, die den Rahmen von 0,35 % des BIP, bereinigt um konjunkturelle Effekte und dem Saldo finanzieller Transaktionen, überschritten haben. Nach derzeitigem Stand wird das Jahr 2028 eine Zäsur für den Bundeshaushalt darstellen. Denn das Grundgesetz ist hier vermeintlich klar: Aufgenommene Notlagenschulden müssen getilgt werden. Der aktuell gültige Tilgungsplan sieht eine Tilgung dieser Notlagenschulden im Zeitraum von 2028 bis 2058 vor. Hinzu kommen die Tilgungsverpflichtungen der Notlagenschulden des WSF-Energie von 2031 bis 2061.
Es ist ebenso auffällig wie wirtschaftspolitisch verständlich, dass trotz – oder vielleicht auch gerade wegen – der anspannten Haushaltslage diese Rückzahlungsverpflichtung in der öffentlichen Diskussion häufig nur eine Randnotiz wert zu sein scheint. Hinzu kommt, dass bisher keine Haushaltseckwerte vorgelegt wurden, die auch das erste Tilgungsjahr 2028 mit einbeziehen müssten. Zwar hat der Bundesfinanzminister jüngst eine Revision des Tilgungsplans zur Schaffung von Haushaltsspielräumen in Aussicht gestellt, sollte die Schuldenquote bis 2028 die 60 %-Marke unterschritten haben. Das Thema ist damit etwas präsenter geworden. Dennoch unterstreicht auch dieser Vorschlag, dass die Tilgung ein Schreckgespenst am Horizont künftiger Bundeshaushalte ist.
Die Unterbelichtung dieses Themas hat zur Folge, dass vielen nicht klar zu sein scheint, was „Tilgung von Notlagenschulden“ im Rahmen der öffentlichen Haushalte, insbesondere im Rahmen des Bundeshaushalts, genau meint. Klarheit darüber zu schaffen und die Implikationen für die Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit der Staatsfinanzen zu diskutieren, sind daher die Ziele dieses Beitrags. Daneben sind es vor allem zwei Gründe, die eine Befassung mit diesem Thema so interessant machen: Aus einer ideengeschichtlichen Perspektive betrachtet, ergibt eine Inhaltsanalyse der im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsprozess relevanten parlamentarischen Dokumente, dass die Tilgungsregelung als das zentrale Novum der neuen Schuldenregel charakterisiert wurde. Nicht weniger als einen „Paradigmenwechsel“ stelle diese Regelung dar (Deutscher Bundestag, 2009). Relevanter wird eine detaillierte Betrachtung der Tilgungsregelung aus einer fiskalpolitischen Perspektive mit Gegenwartsbezug. Schließlich haben die vier Ausnahmehaushaltsjahre 2020 bis einschließlich 2023 erstmals den aktiven Vollzug des Tilgungserfordernisses gesetzt und werden in den kommenden Jahren sicherlich auch Auswirkungen auf die Haushalte haben. Für das Verständnis und die Bewertung der Tilgungssystematik ist es unausweichlich, zunächst die Entstehungsgeschichte und damit die Motivationen zur Schaffung der neuen Schuldenregel nachzuzeichnen.
Die Tilgungsregelung als notwendiger Kompromiss
2007 hatte das Bundesverfassungsgericht dem – verfassungsändernden – Gesetzgeber Hausaufgaben aufgegeben. In seinem damaligen Urteil anlässlich der Klage von Union und FDP gegen den Bundeshaushalt 2004 stellte es fest: „[…] an der Revisionsbedürftigkeit der geltenden verfassungsrechtlichen Regelungen [i. e. die damals gültige Schuldenregel; d. Verf.] [ist] gegenwärtig kaum noch zu zweifeln“ (BVerfG, 2007, Rn. 133). Einfach zu eklatant war der seit Gründung der Bundesrepublik kontinuierliche Anstieg des Schuldenstands, der nicht nur durch historische Ereignisse wie die Ölpreisschocks der 1970er Jahre und die Wiedervereinigung einen schubhaften Aufwuchs erfahren hatte, sondern dem auch durch die unvorteilhafte Anreizstruktur der bis zur Reform von 2009 geltenden Schuldenregel nicht entgegengewirkt wurde. Sowohl die extensive Auslegung des Begriffs „Investitionen“ als auch die Vagheit der Ausnahmeklausel inklusive fehlender Tilgungsverpflichtung der Kredite waren die zentralen Schwächen der alten Schuldenregel, die damit eine Begrenzung der Staatsverschuldung nicht leisten konnte. Demnach, so die Karlsruher Richter in ihrem Urteil von 2007 weiter, sei die komplexe Aufgabe des Gesetzgebers, Regeln zu institutionalisieren, die sich einesteils in der Realität als wirksam erweisen und andernteils einen Ausgleich für Verschuldungsspielräume über mehrere Haushaltsjahre sicherstellen (BVerfG, 2007, Rn. 135).
Die 16. Wahlperiode hat das Gelegenheitsfenster zur Mobilisierung der notwendigen verfassungsändernden Mehrheit geöffnet, sodass die damals amtierende große Koalition – später auch befeuert durch die Eindrücke der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 – die entsprechenden Grundgesetzänderungen zur Einfassung einer neuen Schuldenregel in Kraft setzen konnte. Die Zielstellungen waren klar benannt: Erstens sollte die Tragfähigkeit der Haushalte von Bund und Ländern sichergestellt werden. Zweitens sollte eine konjunkturgerechte und zukunftsorientierte Finanzpolitik ermöglicht werden. Drittens ging es um die faire Ausgestaltung der intergenerativen Lastenverteilung. Schließlich ging es viertens um die nachhaltige Senkung der Schuldenstandsquote und der damit eng verzahnten relativen Zinsbelastung (CDU/CSU und SPD, 2009b, 5-7).
Zwei wesentliche Bausteine sollten der neuen Schuldenregel ein festeres Fundament sichern: Zum einen das Neuverschuldungsverbot bzw. – für die Bundesebene – die Begrenzung der strukturellen Neuverschuldung auf maximal 0,35 % des BIP, die die auslegungsbedürftige Begrenzung der alten Schuldenregel auf investive Ausgaben ersetzt hat. Zum anderen die Kombination der Erlaubnis einer zu begründenden überregulären Schuldenaufnahme in Ausnahmesituationen mit dem Erfordernis, eine entsprechende Tilgungsregelung zu erlassen.
Die Ausnahme von der Regel
Dem Bund und den Ländern ist es ausdrücklich erlaubt, infolge von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen (mehr) Kredite aufzunehmen. Semantisch ungenau ist es also, wenn in diesem Zusammenhang von einem „Aussetzen der Schuldenbremse“ gesprochen wird. Schließlich ist es auch von der neuen Schuldenregel ausdrücklich vorgesehen, dass Ausnahmen außerordentliche Kreditaufnahmen rechtfertigen können, entsprechend begründete Parlamentsbeschlüsse vorausgesetzt. Zuletzt hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 15. November 2023 die Bedingungen und den praktischen Vollzug der Ausnahmeregelung geschärft.
Dennoch trägt das Argument des Aussetzens einen wahren Kern in sich, da der Einbau einer Ausnahmeregelung in der Föderalismuskommission II, die die neue Schuldenregel entwickelt hat, unter Kritikern als mögliches Einfallstor zur Aushebelung der schuldenbegrenzenden Wirkung gesehen wurde. Die beschlossene Tilgungspflicht war dann gewissermaßen der Kompromiss, da sie in künftigen Jahren eben jene haushälterische Disziplin abverlangen würde, die der alten Schuldenregel noch unbekannt war (Barbaro, 2022, 79). Das erklärte Ziel der Tilgungsregelung war es auch, ein „weiteres Anwachsen der Staatsschulden [zu] verhindern“ (CDU/CSU und SPD, 2009b, 7).
Seit dem 24. März 2020, als die damals amtierende große Koalition erstmals aufgrund der Coronapandemie einen Notlagenbeschluss in das Parlament eingebracht hat, sind insgesamt acht Notlagenbeschlüsse gefasst worden, die mit der bereits erwähnten Coronapandemie (2020 bis 2022), dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine (2022 und 2023) sowie der Flutkatastrophe im Ahrtal (2023) begründet wurden (vgl. Abbildung 1). Nach eigenen Berechnungen, die auf Angaben des Bundesfinanzministeriums beruhen, sind vom Haushaltsjahr 2028 bis einschließlich 2061 insgesamt rund 335 Mrd. Euro für die Tilgung von Notlagenschulden aufzuwenden (BMF, 2024, 28).
Abbildung 1
Tilgungsplan für die Notfallkredite der Haushaltsjahre 2020 bis 2023
Bisher nicht berücksichtigt sind die ab spätestens 2031 anstehenden Tilgungen der Kredite des Sondervermögens „Bundeswehr“. Ein konkreter Tilgungsplan dafür liegt derzeit nicht vor.
Quelle: eigene Darstellung nach BMF (2024, 28).
Die Tilgungsillusion auf Bundesebene
Im Zusammenhang mit dem Begriff „Tilgung“ ist zumindest auf Bundesebene zudem die Semantik von entscheidender Bedeutung: Ein weiteres Anwachsen der Staatsschulden zu verhindern, ist nicht gleichbedeutend mit dem Abbau des nominalen Schuldenstands. Trügerisch ist daher der Begriff „Tilgung“ auf Bundesebene. Denn das Abtragen oder Löschen einer Schuld durch das Rückzahlen entsprechender Kredite ist hiermit gar nicht gemeint. Im Kompendium zur Schuldenregel des Bundes heißt es dazu, dass aus den Tilgungsplänen keine unmittelbare Verpflichtung zur Nettotilgung erfolge (BMF, 2022, 13). Wie kann das sein?
Um das zu verstehen, ist erneut ein Blick auf den Ursprung der neuen Schuldenregel vonnöten. So heißt es in der Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismusreform bezüglich der Tilgungspflicht von Notlagenschulden: „Die Rückführungspflicht kann sowohl durch einnahmeseitige als auch durch ausgabenseitige Maßnahmen erfüllt werden“ (CDU/CSU und SPD, 2009a, 20). Es ist also dem Haushaltsgesetzgeber überlassen, ob er finanzielle Spielräume für die Tilgung durch eine Erhöhung der Einnahmen, z. B. durch Steuererhöhungen, oder eine Senkung der Ausgaben schafft. Allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die neue Schuldenregel dem Bund eine regelmäßige, strukturelle Neuverschuldung in Höhe von 0,35 % des BIP erlaubt. Ergo ist dieser Kreditrahmen auch der Einnahmeseite des Bundes zuzurechnen. Dementsprechend erfolgt die Rückführung der Notlagenschulden „zunächst“ über eine Verringerung des Neuverschuldungsspielraums jährlich während des Tilgungszeitraums (BMF, 2022, 13). Sofern sich, unter Berücksichtigung der Struktur- und Konjunkturkomponente sowie des Saldos der finanziellen Transaktionen und des Tilgungsbetrags, ein negativer Spielraum für die Neuverschuldung ergibt, ist eine Nettotilgung in Höhe der „negativen Nettokreditaufnahme“ erforderlich (vgl. Tabelle 1). Im Tilgungszeitraum bremst die Schuldenbremse also etwas stärker, als sie es ohne Tilgungspflicht tun würde.1
Zur bisher nicht offen kommunizierten Wahrheit gehört daher auch: Ein tatsächliches und vollständiges Tilgen der Notlagenkredite ist nicht zu erwarten. Demnach werden auch die Gefahren, die mit einem hohen nominalen Schuldenstand einhergehen, fortgeschrieben. Es darf also nicht verhehlt werden, dass die Notlagenschulden und Zinslasten, die zur Bewältigung der Folgen der Coronapandemie, des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der Flutkatastrophe im Ahrtal aufgenommen wurden, de facto bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag bedient bzw. getragen werden müssen.
Tabelle 1
Funktionsweise der Tilgung von Notlagenkrediten
Szenario 1: Tilgung durch Verringerung des Neuverschuldungsspielraums |
Szenario 2: Pflicht zur Nettotilgung aufgrund einer negativen zulässigen Nettokreditaufnahme |
|
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(1) zulässige Nettokreditaufnahme | 13,0 Mrd. Euro | 3,0 Mrd. Euro |
(2) Tilgungsverpflichtung aus dem Tilgungsplan | 5,0 Mrd. Euro | |
(3) tatsächliche, für den Kernhaushalt mögliche Nettokreditaufnahme [(1) – (2)] | 8,0 Mrd. Euro | -2,0 Mrd. Euro1 |
(4) wegen Notlage aufgenommene und nun fällig werdende Bundesanleihen (vereinfachte Annahme: Fristenkongruenz der Anleihelaufzeiten und des Tilgungsplans) | 5,0 Mrd. Euro | |
(5) Überrollen fälliger Notlagenanleihen (Tilgung alter zulasten neuer Kredite) | 5,0 Mrd. Euro | 3,0 Mrd. Euro |
(6) Veränderung der Notlagenkredit-Restschuld [(5) - (4)] durch Nettotilgung | 0 Mrd. Euro | -2,0 Mrd. Euro |
(7) Effekt des Tilgungsplans | Nur indirekt, da die Notlagenkredit-Restschuld nicht sinkt. Ohne Tilgungsplan hätte der Bund allerdings bis zu 5 Mrd. Euro (13 statt 8 Mrd. Euro) zusätzliche Neukredite für andere Haushaltszwecke aufnehmen dürfen. Der Tilgungsplan bremst hier also lediglich den Schuldenanstieg. | Direkt, weil die Notlagenkredit-Restschuld um 2 Mrd. Euro sinkt. Zusätzlich indirekt, weil der Bund ohne Tilgungsplan bis zu 3 Mrd. Euro zusätzliche Neukredite für andere Haushaltszwecke hätte aufnehmen dürfen. |
1 Im Szenario 2 bestünde für den Bundeshaushalt also die Verpflichtung, 2 Mrd. Euro netto zu tilgen; durch Ausgabenbegrenzungen und oder Einnahmesteigerungen mit Ausnahme neuer Kredite.
Quelle: eigene Darstellung.
Echte Tilgung auf Landesebene
Fundamental anders verhält es sich mit der Tilgung der von den Ländern aufgenommenen Notlagenschulden. Der Grund dafür ist die den Landeshaushalten nicht gegebene Möglichkeit der strukturellen Neuverschuldung. Abgesehen von konjunkturellen Einflüssen ist es den Ländern also grundsätzlich nicht erlaubt, Schulden zu machen. Dementsprechend gibt es keinen Neuverschuldungsspielraum, dessen Reduktion als eine Tilgungssimulation wie auf Bundesebene dienen könnte. Die Bundesländer sind also – abhängig von der konjunkturellen Lage – gezwungen, die Notlagenschulden tatsächlich und im eigentlichen Wortsinn zu tilgen und nicht nur durch Neukredite zu ersetzen.
Die strengen Konsolidierungspflichten, die sich daraus ergeben, führen jedoch zu gewissen Ausweichbewegungen. So hat z. B. die Bundesbank in ihrer Analyse der Länderfinanzen 2022 festgestellt, dass die Länder per Saldo zwar Überschüsse von 7,5 Mrd. Euro erwirtschaftet, im selben Jahr aber dennoch Notlagenkredite in Höhe von 3,5 Mrd. Euro aufgenommen haben (Deutsche Bundesbank, 2023, 50). Insbesondere bis zum erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023, aber teilweise auch noch danach, haben die Länder die Möglichkeit der notlagenbedingten Kreditaufnahme vornehmlich zur Befüllung von Reserven für künftige Jahre genutzt. Dennoch ist zu konstatieren, dass nach den aktuellen Tilgungsplänen der Länder acht von ihnen im Haushaltsjahr 2024 eine Nettotilgung planen.
Generationengerechte Tilgung?
Zudem schafft die strengere Tilgungspflicht der Länder Anreize, Handlungsspielräume durch eine Streckung der Tilgungszeiträume und damit konsequenterweise eine Reduktion des jährlichen Tilgungsbetrags vorzunehmen. Abgesehen von Sachsen und Thüringen, die in ihren jeweiligen Landeshaushaltsordnungen konkrete Obergrenzen für den Tilgungszeitraum von Notlagenschulden festgeschrieben haben, sind die anderen Länder der interpretationsbedürftigen Regelung des Bundes gefolgt, dass die Tilgung in einem „angemessenen Zeitraum“ zu erfolgen habe.
Da die Konkretisierung von „angemessen“ dem Ermessensspielraum des Gesetzgebers anheimgestellt ist, unterscheiden sich die von den Ländern angesetzten Tilgungszeiträume entsprechend. Sie reichen von den rechtlich festgesetzten acht Jahren in Sachsen bis hin zu 50 Jahren in Nordrhein-Westfalen. Interessant ist, dass Thüringen die in seiner Landeshaushaltsordnung festgeschriebene Obergrenze des Tilgungszeitraums Ende 2023 von acht auf 15 Jahre erhöht hat. Hier hat sich der thüringische Gesetzgeber also finanzielle Spielräume durch eine Streckung der Tilgungsfrist geschaffen.
Der Bund befindet sich mit seinem angesetzten Tilgungszeitraum von 30 Jahren fast genau in der Mitte des von den Ländern aufgespannten Bogens. Allerdings hat er auch – obgleich aufgrund seiner Möglichkeit einer strukturellen Neuverschuldung nicht ganz so strengen Konsolidierungspflichten unterworfen – den Tilgungszeitraum in der Vergangenheit bereits gestreckt. Im Notlagenbeschluss vom 26. Januar 2022 wurde von der amtierenden Ampelkoalition das Vorhaben angekündigt, mit Beschlussfassung des Bundeshaushalts 2022 die Zusammenführung und Ausgestaltung der von der zuvor noch amtierenden großen Koalition aufgestellten Tilgungspläne zu überprüfen (SPD et al., 2022a, 5). Bereits im darauffolgenden Notlagenbeschluss wurden die Tilgungspläne angepasst, indem ihr Beginn nicht nur weiter nach hinten geschoben, sondern auch ihre Gesamtdauer beinahe verdoppelt wurde. Die große Koalition hatte vormals zwei Tilgungspläne für die von ihr aufgenommenen Notlagenschulden vorgesehen, deren Beginn auf das Haushaltsjahr 2023 bzw. 2026 und deren Dauer auf 20 bzw. 17 Jahre festgelegt wurde. Die Ampelkoalition hat diese Tilgungspläne zu einem Plan zusammengefasst und seine Laufzeit auf die Jahre 2028 bis 2058 festgelegt und damit an die Tilgungsmodalitäten des EU-Aufbauinstruments „NextGenerationEU“ angepasst.
Aus einer politökonomischen Perspektive ist das ein erwartbares Vorgehen und wirft bereits ein Licht auf künftige Legislaturperioden, da sich mutmaßlich keine amtierende Regierung, insbesondere nach einem Koalitionswechsel, die eigenen Handlungsspielräume durch Entscheidungen vergangener Regierungen einengen lassen möchte. Eine neuerliche Anpassung der Tilgungspläne in der 21. Wahlperiode ist wahrscheinlich. Allerdings droht ein solches Vorgehen die Bindungswirkung der Schuldenregel nachhaltig zu schädigen (Deutsche Bundesbank, 2022, 76).
Bei einer solchen, offensichtlich politisch motivierten Streckung der Verschiebung der Tilgungszeiträume von über 30 Jahren stellt sich die Frage, inwiefern dies noch „angemessen“ und dem Ziel der intergenerativen Gerechtigkeit dienlich ist. Diese Frage stellt sich auch bei dem bereits erwähnten Vorstoß des Bundesfinanzministers, ungeachtet der vorgeschlagenen Voraussetzung einer Schuldenquote von weniger als 60 %. Leider hat das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Urteil vom 15. November 2023 diesen Punkt nicht konkretisiert, sondern die Angemessenheit weiterhin vollständig im Beurteilungs- und Ermessensspielraum des Gesetzgebers belassen. Es stellt an einer Stelle lediglich fest, dass es „[…] nicht ersichtlich [ist], dass sich der Gesetzgeber im Hinblick auf die Angemessenheit des vorgesehenen Rückführungszeitraums außerhalb des ihm zustehenden Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums bewegte“ (BVerfG, 2023, Rn. 194). Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass sich das Gericht hier auf den ursprünglichen Tilgungsplan der großen Koalition bezogen hat. Die Neujustierung der Ampelkoalition ist hier nicht einbezogen.
Die Angemessenheit der Tilgungsstreckung durch die Ampelkoalition steht auch deshalb infrage, weil die Begründung dazu sehr dürftig ist. In ihrem Entwurf lassen die Koalitionsfraktionen lediglich wissen: „Um eine kohärente und tragfähige Schuldentilgung zu gewährleisten, werden die vom Deutschen Bundestag beschlossenen Tilgungspläne für die Kredite aus den Haushaltsjahren 2020 und 2021 mit dem vorgenannten Tilgungsplan zu einem Gesamttilgungsplan zusammengefasst“ (SPD et al., 2022b, 3).
Fazit: Wirkungen der gegenwärtigen Tilgungspraxis
Für die Bundesebene sind nun zwei Punkte im Rahmen der Tilgungsregelung von Notlagenschulden klar herauszustellen. Erstens ist der gegenwärtig kodifizierte Tilgungszeitraum, der sich unter Berücksichtigung seines verspäteten Beginns im Haushaltsjahr 2028 auf mehr als 30 Jahre erstreckt, nur mit Mühe als generationengerecht anzusehen. Gerade jene, die richtigerweise aufgrund der massiven Auswirkungen der Coronapandemie aber auch der wirtschaftlichen Unwuchten, die der Ukrainekrieg verursacht hat, von den Folgen mithilfe finanzierter Tests, Masken und Impfungen sowie Entlastungspaketen und Energiehilfen entlastet wurden, werden für die Finanzierung dieser kurzfristig wirkenden Maßnahmen kaum aufkommen müssen. Auch die breit gefächerten Tilgungszeiträume der Bundesländer von bis zu 50 Jahren legen Zeugnis vom politischen Anreiz ab, gegenwärtige Pflichten zulasten künftiger Generationen in die Zukunft zu verschieben. Zweitens zeigt die dargestellte Tilgungssystematik auf Bundesebene, die grundsätzlich eher eine Tilgungsillusion als eine Tilgung im eigentlichen Sinn des Wortes darstellt, dass auch unabhängig vom Tilgungszeitraum bis auf Weiteres die Kosten der öffentlichen Verschuldung von den künftigen Generationen zu tragen sein werden – und zwar weit über das Ende des Tilgungszeitraums hinaus.
Das mag, wie dargestellt, haushaltstechnisch nachvollziehbar sein. Denn natürlich macht es nominal keinen Unterschied, ob der strukturelle Kreditrahmen (auch) zur Bedienung von Notlagenschulden genutzt wird oder aber ob von vornherein der Kreditrahmen für den Kernhaushalt selbst verengt wird. Und obgleich ein Abbau der Schuldenstandsquote auch damit erreichbar ist, steht die Erfüllung des übergeordneten Ziels der Schuldenregel, ein weiteres Anwachsen des Schuldenstands zu verhindern, infrage. Jedenfalls sollte dafür zumindest in der öffentlichen Debatte von der Irreführung Abstand genommen werden, diese Tilgungssimulation mit dem Begriff „Tilgung“ zu bezeichnen. Denn mit einer Tilgung im eigentlichen Sinn hat dieses Vorgehen nichts zu tun. Hingegen werden dadurch Gefahren, wie Zinsänderungsrisiken, Risikoprämien auf den Kapitalmärkten und Plateau-Effekte, fortgeschrieben (Barbaro, 2022, 76). Hier wäre also eine klare Sprache angezeigt: Die Kreditkosten für Masken, Tests, Impfungen, Entlastungspakete und Energiepreisbremsen werden auch noch unsere Kinder und Kindeskinder zu tragen haben.
- 1 In der Herbstprojektion 2023 wurde das nominale BIP 2027, das relevant für die Haushaltsaufstellung 2028 ist, auf 4.704,5 Mrd. Euro geschätzt. Demnach läge der strukturelle Kreditrahmen bei rund 16,5 Mrd. Euro. Unter Berücksichtigung des Tilgungsbetrags von 9,2 Mrd. Euro verbliebe eine zulässige strukturelle Kreditaufnahme von 7,3 Mrd. Euro, die dann noch um die Konjunkturkomponente und den Saldo finanzieller Transaktionen bereinigt werden müsste.
Literatur
Barbaro, S. (2022), Die schleichende Aushöhlung der Schuldenbremse: Die Tilgungspläne des Bundes und der Länder, in M. Junkernheinrich et al. (Hrsg.), Jahrbuch für öffentliche Finanzen 2-2022. Neue Knappheitsbedingungen, makroökonomische Unwägbarkeiten und wachsende Transformationsanforderungen, Berliner Wissenschafts-Verlag, 73-85.
BMF – Bundesministerium der Finanzen (2022), Kompendium zur Schuldenregel des Bundes (Schuldenbremse), Fassung vom 25.02.2022.
BMF – Bundesministerium der Finanzen (2024), Vorläufiger Abschluss des Bundeshaushalts 2023, Monatsbericht, Januar.
BVerfG – Bundesverfassungsgericht (2007), Urteil vom 09.07.2007, Aktenzeichen 2 BvF 1/04.
BVerfG – Bundesverfassungsgericht (2023), Urteil vom 15.11.2023, Aktenzeichen 2 BvF 1/22.
CDU/CSU und SPD (2009a), Entwurf eines Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismusreform, Drucksache 16/12400.
CDU/CSU und SPD (2009b), Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d), Drucksache 16/12410.
Deutsche Bundesbank (2022), Länderfinanzen 2021: Überschuss und zusätzliche Reserven aus Notlagenkrediten, Monatsbericht, Oktober.
Deutsche Bundesbank (2023), Länderfinanzen 2022: insgesamt hoher Überschuss, teils weiter umfangreicher Rückgriff auf Notlagenkredite, Monatsbericht, Oktober.
Deutscher Bundestag (2009), Plenarprotokoll 16/215, 16. Wahlperiode, 215. Sitzung.
SPD, BÜNDNIS 80/DIE GRÜNEN und FDP (2022a), Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 und 7 des Grundgesetzes, Drucksache 20/505.
SPD, BÜNDNIS 80/DIE GRÜNEN und FDP (2022b), Beschluss des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 115 Absatz 2 Satz 6 und 7 des Grundgesetzes, Drucksache 20/2036.