Die Betrachtung der Gini-Koeffizienten sowohl vor als auch nach Umverteilung zeigt, dass die Verteilung der persönlichen Einkommen in den USA zwischen 1947 und 2020 ungleicher geworden ist. Dieser Beitrag untersucht die möglichen Konzepte, die den Zielvorgaben für die Einkommensverteilung zugrunde liegen, und argumentiert auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse, dass weder klare Wahl- oder Parteizyklen in den Daten der Einkommensverteilung in den USA zu erkennen sind, noch dass die Verteilung ein stationäres Gleichgewicht besitzt. Vielmehr ist ein ungebrochener zyklischer Aufwärtstrend der Ungleichheit zu beobachten, der erheblich zur Spaltung der US-Gesellschaft beiträgt.
Am 25. April 2023 gab Joe Biden – nicht unerwartet und genau vier Jahre nach seiner ersten Kandidatur – seine Absicht bekannt, im November 2024 erneut zu den US-Präsidentschaftswahlen anzutreten. Sein Motto: „Let’s finish the job.“ Spätestens seit dem „Super Tuesday“ vom 5. März 2024 ist klar, – sofern keine Gerichtsentscheidung das noch verhindert – dass Donald Trump erneut sein Gegner sein wird. Allerdings ist auch in Zukunft (weder unter Trump noch unter Biden) mit einem deutlichen Rückgang der Ungleichheit der Einkommensverteilung zu rechnen, was ein wesentlicher Treiber der Spaltung der Nation ist. Warum das so ist, wird im Folgenden erläutert.
Die USA gelten als (sozial, politisch, ökonomisch) tief gespaltenes Land. Zu dieser Spaltung trägt die stark ungleiche Verteilung der personellen Einkommen bei (Komlos und Schubert, 2019). Empirische Untersuchungen bestätigen Paretos Vermutung (1896), wonach vor allem in Industrieländern ein bestimmtes Maß an Ungleichheit wachstumsfördernd ist (Barro, 2000), während vor allem in Entwicklungsländern ein zu hohes Maß an Ungleichheit wachstumshinderlich ist (ebenda). Wer sich die langfristigen Daten zum Gini-Koeffizienten (GK)1 anschaut (Frank, 2022) macht eine bemerkenswerte Entdeckung: Die personelle EV vor Umverteilung gemessen mit dem Gini-Koeffizienten vor Steuern und Transfers (GKvU) ist in allen Bundesstaaten der USA (und damit auch auf nationaler Ebene) zwischen 1917 (GKvU: 0,5077) und 2018 (GKvU: 0,6347) geradezu monoton ansteigend ungleicher geworden. Ebenso bemerkenswert ist aber auch, dass der GK nach Umverteilung (GKnU), also nach der Umverteilung des Staates mithilfe von Steuern und Transfers, zwar deutlich niedriger liegt, aber unvermindert ansteigt. Im internationalen Vergleich mit anderen OECD-Staaten ist die EV der USA sehr ungleich.
Betrachten wir zunächst die Entwicklung des GKvU: Vor Ausbruch der ersten großen Weltwirtschaftskrise (1928, GKvU: 0,5707) und kurz vor dem Beitritt der USA zum 2. Weltkrieg (1940, GKvU: 0,3951) spricht die Literatur von der „Great Compression“ (Balcilar et al., 2018), die aber spätestens seit den späten 1950er/frühen 1960er Jahren (1961, GKvU: 0,4497) von der „Great Divergence“ abgelöst wurde (Balcilar et al., 2018). Allein zwischen 1971 (GKvU: 0,4606) und 1989 (GKvU: 0,5796) stieg der GKvU in den USA jedes Jahr an, also 19-mal in Folge. Im Jahr 2017 erreichte die Ungleichheit mit einem GKvU von 0,6417 ihren bisherigen Höhepunkt. Nur ein größerer Ausreißer (Delaware, das bis heute als Steuerparadies gilt) zeichnet im Übrigen ein einheitliches Bild zwischen 1925 und 1941. Hat die Politik von Demokraten oder Republikanern auf diese Entwicklung reagiert? Und wenn ja, wie?
Die Verteilung der Einkommen war unter den Klassikern der Nationalökonomie durchaus ein Thema (Ricardo), aber noch lange kein Ziel. In der Neoklassik, die vor allem eine Allokationstheorie ist, sind Verteilungsergebnisse ebenfalls kein Ziel der Wirtschaftspolitik, wenngleich die Konsequenzen von Marktunvollkommenheiten für die Einkommensverteilung minutiös herausgearbeitet werden (Külp, 1974, 3 ff.). Erst in der (eher keynesianisch geprägten) „Theorie der Wirtschaftspolitik“ – in Deutschland politisch erstmals umgesetzt im „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ von 1967 – wurden makroökonomische wirtschaftspolitische Ziele explizit formuliert. Selbst dort fehlte aber ein explizites Verteilungsziel. Wohl mehr in der „scientific community“ (Külp, 1974) als in der Politik, wurde, etwa im Rahmen der Wohlfahrtsökonomik, das Ziel einer „gerechten Einkommensverteilung“ diskutiert. Dabei kamen Zielkonflikte mit den anderen gesamtwirtschaftlichen Zielen (Wachstum, Beschäftigung, Preisniveaustabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht) eher selten zur Sprache.
Verteilungsziele in der Wirtschaftspolitik
Insgesamt sind theoretisch (mindestens) drei alternative „Hypothesen“ im Hinblick auf ein (makroökonomisches) Ziel der Einkommensverteilung vorstellbar:
Hypothese H1
Der Einkommensverteilung wird ein mehr oder weniger „freier Lauf“ gelassen, ohne bewusst Korrekturen in die eine oder in die andere Richtung vorzunehmen.
Hypothese H2
Zur Befriedung der Gesellschaft wird – gerade im Sozialstaat – ein im Idealfall stationärer Wert des GKnU (Konzentration der Einkommen nach Intervention des Staates) angestrebt, mit dem eine stationäre Gleichgewichtsverteilung hergestellt werden soll. Blümle (1992) sowie Guo und Sell (2021) verfolgen diesen Ansatz. Er erweist sich im Falle von 28 europäischen Ländern (1995 bis 2019) als empirisch valide (Guo und Sell, 2021): Es ließen sich sowohl Konvergenz als auch Stationarität in den untersuchten GK identifizieren.
Hypothese H3
Politiker „manipulieren“ mit Steuern und Transfers die EV, um entweder schlicht Wahlen zu gewinnen („electoral cycles“, EC) und/oder um mit einem Wahlsieg besonders der eigenen Klientel („partisan cycles“, PC) zu nutzen. EC und PC konvergieren, wenn die erfolgreiche Mobilisierung der eigenen Klientel für den angestrebten Wahlsieg sorgt. Ihren Ursprung haben die PC- und EC-Ansätze in der ökonomischen Theorie der Politik (Hibbs, 1977; Franzese, 2022). Es gibt nicht viele Beispiele, die sich auf die Einkommensverteilung beziehen: Sell (1997) modelliert einen EC für Länder innerhalb einer (europäischen) Währungsunion. Damit folgt er der Tradition von Nordhaus (1975) nun aber mit der fiskalisch steuerbaren Streuung der Einkommen als explizites politisches Instrument (statt mit der Inflationsrate), um Wahlen auf nationaler Ebene zu gewinnen. In einer Währungsunion steht einer nationalen Regierung bekanntlich die Inflationsrate – dem typischen „Nordhaus-Instrument“ – als eigener Politikparameter nicht mehr zur Verfügung. Bei einem PC in den USA müsste man in Anlehnung an Tufte (1978) erwarten, dass republikanische (demokratische) Regierungen ihrer Klientel zuliebe die Verteilung tendenziell ungleicher (gleicher) machen, am besten zielgenau zum Wahltermin.
Abbildung 1
Alternative stilisierte Verläufe des Gini-Koeffizienten nach Umverteilung (GKnU)
Quelle: eigene Darstellung.
Die drei geschilderten Alternativen lassen sich in der folgenden Abbildung 1 in stilisierter Form verdeutlichen. Gemäß Hypothese 1 könnte der GK nahezu ungebremst mit konstanter oder sogar zunehmender Steigung wachsen. Die Politik würde damit allerdings einer drohenden Spaltung der Gesellschaft ziemlich tatenlos zusehen. Eine solche Zügellosigkeit würde sich langfristig bitter rächen – für alle Parteien und vor allem für die Bevölkerung. Folgt man dagegen Hypothese 2, so käme es zu einer Stabilisierung des GK auf einem gesellschaftlich akzeptierten Niveau, was allerdings unter Umständen einen erheblichen Einsatz von Steuern und Transfers zur Umverteilung der Einkommen erforderlich macht und seine Grenzen in einem wenig wachstumsfreundlichen, zu „egalitären“ Milieu (vgl. Barro, 2000) finden kann. In einem Umfeld von Hypothese 3 würden Wirtschaft und Gesellschaft dagegen – bei wechselnden Mehrheiten im Parteienspektrum – einem anhaltenden Prozess von Zyklen unterworfen, bei denen die Politik mal zu die Ungleichheit in der EV nivellierenden, mal zu verstärkenden Maßnahmen greift.2 Wie ist der Befund für die USA?
Empirie zur Einkommensverteilung in den USA
Wer „verantwortet“ in den USA den GKnU? Für Transfers und Steuern sind in den USA nicht nur die Zentralregierung („Federal Taxes“), sondern auch die Bundestaaten („State Taxes“), im geringeren Umfang auch die Kommunen („Local Taxes“), zuständig. Das sich im GKnU niederschlagende Ergebnis lässt sich demnach nicht allein der Zentralregierung zurechnen. Diese Einschränkung ist zu berücksichtigen, wenn wir im Anschluss einige Hypothesen zur Rolle der Zentralregierung testen. Vorab empfiehlt es sich allerdings, die etwas unübersichtliche Datenlage zu prüfen.
Die Datenlage
Die GKvU von Frank (2022) sind „konstruierte Daten“, da er das Einkommen vor Steuern der steuerpflichtigen US-Amerikaner aus den von den Zensiten gegenüber dem „Internal Revenue Service“ (IRS) gemachten Angaben über die Höhe ihres Einkommens geschätzt hat.3 Daraus hat er wiederum den GK vor Steuern und Transfers approximiert. Sein Datenpanel umfasst Angaben zu allen US-Bundesstaaten und für die USA insgesamt im Zeitraum von 1917 bis 2018 und wird regelmäßig von ihm fortgeführt. Seine Methode wurde in Frank (2009) zum ersten Mal vorgestellt.
Für den GKnU der USA erscheinen die folgenden Quellen seriös und belastbar: Das Panel des US Census Bureau, verwendet vor allem von Statista (2023 und 2023a), die Zahlen der Weltbank (2023) und die der OECD (2023). Wie ähnlich sind sich die genannten Zeitreihen? Bereits eine einfache optische „Inspektion“ von Abbildung 2 zeigt, dass alle vier für den GKnU konsultierten Quellen auf ein erheblich niedrigeres Niveau der Ungleichheit in den USA nach der Umverteilungspolitik des Staates hindeuten – deren Berichtszeitraum in drei von vier Fällen deutlich kürzer als für den GKvU nach Frank (2022) ist. Anstieg und Schwankungen im Vergleich zum GKvU fallen milder aus, der vertikale Abstand zur GKvU-Kurve hat seit Beginn der 1960er Jahre zugenommen. Insgesamt weist die GKnU-Kurve, wie bereits die GKvU-Kurve, einen positiven Trend auf, ist also nicht-stationär. Wegen des größeren Datenumfangs empfiehlt es sich daher im Folgenden, die GKnU vom „Current Population Survey“ des US Census Bureaus (Statista, 2023a) zu verwenden und mit den GKvU von Frank (2022) zu vergleichen.
Abbildung 2
Alternative GKnU und GKvU der USA im Vergleich
Quelle: Statista I (2023), Statista II (2023a), OECD (2023) sowie World Bank (2023). Die Kurve mit den GKvU Werten gibt die Daten von Frank (2022) wieder.
Tests der Hypothesen
Da für den Zeitraum zwischen 1947 und 2018 Daten sowohl für den GKvU als auch für den GKnU auf nationaler Ebene der USA vorliegen, lässt sich zunächst Hypothese H1 untersuchen: Ist der GKnU zum Ende der Beobachtungen gegenüber dem Anfangswert signifikant angestiegen? Falls ja, wäre festgestellt, dass die US-Politik eine signifikant höhere Ungleichheit im oben genannten Zeitraum herbeigeführt, zumindest aber zugelassen hat. Wir testen daher den GKnU des Zeitraums 1947 bis 1948, der 0,3735 beträgt, gegen den GKnU in Höhe von 0,4550 in der Periode 2017 bis 2018. Der errechnete z-Wert beträgt 20,87 und übertrifft damit deutlich den kritischen Wert auf dem 5 %-Niveau von 12,706. Somit ist der GKnU im Zeitablauf signifikant angestiegen.
Sinnvollerweise ist zwischen dem Umfang (H2) und der Richtung (H3) der Umverteilung zu unterscheiden:
Hypothese H2: Zum Umfang lässt sich etwa untersuchen, ob und wie sehr bei einem Mittelwertvergleich, der sich auf den gesamten Untersuchungszeitraum bezieht, der GKnU gegenüber dem GKvU nach oben oder unten signifikant abweicht. Damit lässt sich dann feststellen, in welcher Größenordnung signifikante Umverteilungspolitik in dem oben genannten Zeitraum stattgefunden hat. Bei dieser Frage wird der Durchschnittswert für den GKnU, der im Beobachtungszeitraum 0,3942 beträgt, gegen den GKvU-Durchschnittswert von 0,525 getestet. Der sich ergebende z-Wert von 13,173 übersteigt den kritischen Wert sogar auf dem 1 %-Niveau, der gerundet bei 2,66 liegt. Somit hat in den USA im Beobachtungszeitraum eine signifikante Umverteilungspolitik zur Reduktion der Ungleichheit stattgefunden.
Für den genannten Zeitraum ist bekannt, wer US-Präsident war. Daher bietet es sich an, die folgende Hypothese zu testen und damit die Frage nach der von den unterschiedlichen Parteien gewählten Richtung der Umverteilung zu untersuchen:
Hypothese H3: Sorgen demokratische (republikanische) US-Präsidenten für mehr (weniger) Einkommensgleichheit? Haben demokratische (republikanische) Präsidenten im Durchschnitt eine signifikant gleichere (ungleichere) EV, gemessen am GKnU, in ihrer Amtszeit hinterlassen als republikanische Präsidenten? Auskunft dazu gibt Tabelle 1: Der Durchschnittswert für den GKnU liegt zwischen 1953 und 2018 für die Republikaner bei 0,3930, bei den Demokraten ist er sogar höher, 0,3978 für die Periode 1947 bis 2016. Diese Werte sind statistisch nicht signifikant voneinander verschieden: Der z-Wert liegt hier lediglich bei 0,2675 und würde nicht einmal den kritischen Wert auf dem 10 %-Niveau von 1,86 übersteigen. Demnach haben sich republikanische und demokratische Präsidenten in ihrer Umverteilungspolitik zugunsten von mehr Gleichheit nach diesem Kriterium nicht wesentlich anders als ihre Konkurrenten verhalten.
Tabelle 1
Mittlere Gini-Koeffizienten nach Transfers (GKnU) pro Legislatur
Demokratische US-Präsidenten | ||||
---|---|---|---|---|
1947-1948 | 1949-1952 | 1961-1964 | 1965-1968 | 1977-1980 |
0,374 | 0,372 | 0,365 | 0,353 | 0,364 |
1993-1996 | 1997-2000 | 2009-2012 | 2013-2016 | |
0,425 | 0,430 | 0,446 | 0,452 | |
Republikanische US-Präsidenten | ||||
1953-1956 | 1957-1960 | 1969-1972 | 1973-1976 | 1981-1984 |
0,363 | 0,358 | 0,354 | 0,357 | 0,3785 |
1985-1988 | 1989-1992 | 2001-2004 | 2005-2008 | 2017-2018 |
0,392 | 0,400 | 0,436 | 0,439 | 0,4550 |
Quelle: eigene Berechnung.
Ein wichtiger Einwand gegen eine Durchschnittsbildung und auch gegen den Vergleich von Mittelwerten von GK könnte lauten: Wie schon der GKvU, so steigt auch der GKnU in den USA trendmäßig im Zeitverlauf an. Wenn also z. B. die demokratischen (republikanischen) Präsidenten vermehrt in der ersten Hälfte unseres Beobachtungszeitraums – bei unserer Datenlage von ca. 1947 bis 1984 – an der Macht gewesen wären4, dann würden sie zwangsweise einen niedrigeren Durchschnitts-GK als die Republikaner (Demokraten) aufweisen – obwohl der GK ziemlich gleichmäßig angestiegen ist. Das ist aber nicht der Fall, denn es lösten sich republikanische und demokratische Präsidenten zwischen 1947 und 2021 nahezu „perfekt“ gegenseitig ab.
Abbildung 3
Trend der GKnU der USA (gesamt)
Quelle: eigene Berechnungen. Es wurden die GK am Ende der jeweiligen Wahlperiode von US-Präsidenten ausgewählt. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass – im Sinne von EC und/oder PC – die gewünschte Ungleichheit (Gleichheit) nicht irgendwann oder im Durchschnitt der Wahlperiode, sondern eben ziemlich genau zum nächsten Wahltermin, also zum Ende der vorausgegangenen Wahlperiode, „hergestellt“ sein muss. Die Farbmarkierung zeigt an, ob es sich um eine republikanische (violett) oder um eine demokratische Präsidentschaft (blau) handelte. Bsp.: Richard Nixon/Gerald Ford wurden die Jahre 1972 (Ende der ersten Amtszeit) und 1976 (Ende der zweiten Amtszeit) zugeordnet.
Welchen von den oben geschilderten theoretisch denkbaren Fällen treffen wir in den USA an? Wie in Abbildung 3 dargestellt, finden wir dort zum einen eine langfristig trendbehaftete, nicht-stationäre und zum anderen auch nicht gegen einen hypothetischen Endwert konvergierende Zeitreihe für den Ginikoeffizienten ex-post. Der grundsätzlich ansteigende Trend geht mit einer kurzen Seitwärtsbewegung während der Kennedy/Johnson Jahre (1960-68) und ansonsten steigender GKnU einher, nur unterbrochen durch die Jahre 2004-8 (unmittelbar vor der Finanzkrise). Also wird H2 verworfen. Die vergleichsweise geringen Schwankungen des GKnU erfolgen dabei nicht etwa mehr oder weniger symmetrisch um eine Trendentwicklung herum, sondern über viele Jahrzehnte hinweg erst unterhalb oder dann oberhalb der Trendlinie. Hinzu kommt: Im Widerspruch zu den Vorhersagen der PC ist während republikanischer (demokratischer) Präsidentschaften öfter der GKnU gefallen (gestiegen), zumindest aber eine solche Entwicklung geduldet worden. Damit kann auch H3 zurückgewiesen werden. Der Verlauf in Abbildung 3 ist demnach nur mit H1 verträglich.
Abbildung 4
Trend der GKnU-Entwicklung bei US-Demokraten
Quelle: eigene Berechnung.
Abbildung 5
Trend der GKnU-Entwicklung bei US-Republikanern
Quelle: eigene Berechnung.
Testet man den Durchschnittswert der Demokraten, der 0,3971 beträgt, gegen den der Republikaner, der 0,3955 beträgt, so erhält man einen z-Wert von lediglich 0,0872. Dieser liegt sogar bei einem großzügigen 10 %-igen Signifikanzniveau deutlich unter dem kritischen Wert von 1,86. Gleich welche Partei den Präsidenten gerade stellt, der grundsätzlich ansteigenden Trend vermag dies nicht umzukehren.
Um die Umverteilungspolitik der beiden großen Parteien in den USA besser zu verstehen, wollen wir nun die „integrierte“ Kurve aus Abbildung 3 einmal „zerlegen“ und getrennt voneinander den Trend des GKnU bei Demokraten (vgl. Abbildung 4) und Republikanern (vgl. Abbildung 5) betrachten. Dazu haben wir die folgenden beiden Regressionen berechnet:
(GKnUt)i = a + bt für i = D oder R,
wobei D und R entsprechende Perioden t bezeichnen, in denen der Präsident ein Demokrat (D) oder Republikaner (R) war. Beide geschätzten Regressionen sind hoch signifikant.5 Ein transitorischer, aber doch bemerkenswerter Unterschied wird sichtbar: Die Demokraten haben in „ihren“ Amtszeiten den GKnU zwischen Anfang und Ende der 1960er Jahre, also während der Administrationen Kennedy und Johnson, merklich abgesenkt. Eine solche starke Richtungsänderung kann man bei den Republikanern nicht feststellen.
Im weiteren Vorgehen empfiehlt es sich, neben dem GKnU auch den GKvU zu berücksichtigen:
Hypothese H4: Haben demokratische (republikanische) Präsidenten, gemessen an der im Durchschnitt ihrer Präsidentschaftsjahre festgestellten Differenz zwischen „ihrem“ GKnU und dem GKvU, die EV stärker korrigiert als republikanische (demokratische)? Die durchschnittliche Differenz liegt bei den Demokraten bei -0,1251 und bei den Republikanern bei -0,1347. Damit ist die durchschnittliche, egalisierende Korrektur der EV praktisch identisch, denn der sich ergebende z-Wert beträgt lediglich 0,448 und ist somit nicht signifikant von Null verschieden.
Hypothese H5: Haben demokratische (republikanische) Präsidenten, gemessen an den Vorzeichen der geschätzten Koeffizienten der folgenden Regressionsgleichung, die EV, die sich im GKnU niederschlägt, tendenziell gegenüber dem GKvU egalisiert oder ungleicher gemacht?
(GKvUt)i − (GKnUt)i = c + dt für i = D oder R.
Beide Parteien haben im Untersuchungszeitraum die EV in den USA egalisiert, dabei waren die Demokraten mit einem Trendkoeffizienten von -0,0046 noch etwas effektiver als die Republikaner (-0,0034). Demnach haben sich beide großen US-Parteien darum bemüht, sich der wachsenden Ungleichheit vor Umverteilung entgegenzustellen, auch wenn sich das im GKnU nicht ausreichend niedergeschlagen hat. Somit wird die von Tufte (1978) hieraus zu erwartende PC-Politik der Republikaner nicht bestätigt. Beide geschätzten Regressionen sind hoch signifikant.6 Diese Anstrengungen beider Parteien konnten aber den Anstieg des GKnU nicht eindämmen. Auch dieses Ergebnis spricht nicht für das Auftreten von EC oder von PC.
Grenzen der eigenen Analyse
Der von uns untersuchte Zeitraum ist deutlich umfangreicher als der einiger vergleichbarer Studien (Bartels, 2004: 1948-2001; McCarty et al., 2003: 1956-1996). Er bleibt nur hinter dem Zeitraum von Balcilar et al. (2018: 1917-2013), der sich allerdings nur auf GKvU-Daten von Frank (2022) stützt, zurück.
Methodisch lässt sich gegen unser Vorgehen einwenden, dass die vorliegende Studie, die erst ein Anfang ist, keinen Ersatz für eine multivariate Analyse (Stiefl, 2017) zur Erklärung der personellen EV7 in den USA darstellt, die entsprechende Kontrollvariablen verwendet und auf Signifikanz hin testet. Es ist z. B. zu erwarten, dass die Ungleichheit sowie das Wahlverhalten von Faktoren mit regionaler Variation beeinflusst werden. So könnten etwa die Demokraten eher in urbanen Zentren gewählt werden, wo auch die Ungleichheit typischerweise höher ausgeprägt ist.
Wegen der für die US-Gouverneure vollständig fehlenden Daten zu den GKnU können wir die Bemühungen der Demokraten (Republikaner) um eine größere (geringere) Gleichverteilung nicht vollständig bzw. restlos beurteilen.
Abbildung 6
Egalisierungstrend der US-Demokraten
Quelle: eigene Berechnung.
Abbildung 7
Egalisierungstrend der US-Republikaner
Quelle: eigene Berechnung.
Fazit
Wenn es zutrifft, dass eine zu starke Schiefe in der Einkommensverteilung die sozialen, politischen und ökonomischen Spaltungstendenzen in der Gesellschaft beförder, während – wie zahlreiche Untersuchungen belegen – eine hinreichende Ungleichheit durchaus wachstumsförderlich sein kann, dann haben Republikaner und Demokraten zur heutigen Situation in den USA in den vergangenen 70 Jahren8 gemeinsam beigetragen, zumindest aber das Eintreten derselben geduldet. Ihre Umverteilungspolitik war bei weitem nicht ausreichend, um einen kontinuierlichen Anstieg der Ungleichheit zu verhindern. Im Lichte der theoretischen Falldiskussion von Abbildung 2 und der insgesamt erzielten empirischen Ergebnisse für US-Präsidenten ergibt sich weder für den „freien Lauf“ des GKnU noch für PC oder EC ein klarer Befund. Das Erreichen eines stationären „Gleichgewichts“ in der EV durch die Politik kann aber definitiv ausgeschlossen werden. Die Wiederauflage des Duells Joe Bidens gegen Donald Trump im Kampf um die US-Präsidentschaft im Jahr 2024 hat die Situation eher noch verschärft und die Zukunftsaussichten eingetrübt. Dabei haben Demokraten wie Republikaner die Verpflichtung, an der von ihnen mitverursachten Spaltung der Nation gemeinsam zu arbeiten, um sie zu überwinden. Denn: „A reduction in partisan conflict will lead to a reduction … of income inequality“ (Balcilar et al., 2018, 1).
- 1 Dieser misst die Ungleichheit in der personellen Einkommensverteilung (EV) und liegt zwischen 0 (keine Einkommenskonzentration) und 1 (vollständige Einkommenskonzentration)
- 2 Anders als in Abbildung 1 ist auch denkbar, dass die Zyklen ober- und unterhalb des ansteigenden Trends verlaufen. Dann würden sich Trend und Zyklus analog verhalten wie der Konjunkturzyklus zum Wachstumspfad.
- 3 Das IRS ist die US-Bundessteuerbehörde.
- 4 Tatsächlich gab es zwischen 1916 und 2018 (1960) 13-mal (fünfmal) republikanische und 13-mal (sechsmal) demokratische Präsidenten. Beide Parteien wechselten sich dabei nahezu perfekt in der Präsidentschaft gegenseitig ab.
- 5 Die Korrelation der Werte für die US-Demokraten aus Abbildung 4 ergibt einen Wert von 0,8968, was einem t-Wert von 11,47 entspricht, dieser ist auf dem 1 %-Niveau signifikant von Null verschieden, denn der kritische Wert liegt bei 2,75. Ein ähnliches Ergebnis liefert Abbildung 5: Bei den Republikanern errechnet sich ein Korrelationskoeffizient von 0,9327 mit einem t-Wert von 15,53, sodass auch dieser auf dem 1 %-Niveau signifikant ist.
- 6 Der Egalisierungstrend der Demokraten der Abbildung 6 impliziert eine Korrelation von -0,9817 bei einem errechneten t-Wert von -29,13, der den kritischen t-Wert auf dem 1 %-Niveau, der 2,75 beträgt, deutlich übertrifft. Somit ist „der Egalisierungstrend“ hoch signifikant von Null verschieden. Ein ähnliches Ergebnis erhält man aus Abbildung 7: Hier beläuft sich die Korrelation auf -0,934, der daraus resultierende t-Wert beträgt -15,69, sodass auch hier auf dem 1 %-Niveau die Nullhypothese verworfen werden kann.
- 7 Dann allerdings mit den ersten Differenzen des GK als unabhängiger Variable.
- 8 Und das, trotz der „contrasting policy choices of Democratic and Republican presidents“ (Bartels, 2004, 2).
Literatur
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