Der Mindestlohn in Deutschland soll wieder angehoben werden. Das fordern Sozialverbände, Gewerkschaften und verschiedene Parteien, aber auch einzelne Ökonomen (Fratzscher, 2023). Für 2024 sind 14 Euro pro Stunde (brutto) anvisiert, wobei von gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Seite darauf verwiesen wird, dass der Mindestlohn bei 60 % des Medianeinkommens liegen soll – was 2024 etwa den geforderten 14 Euro entspricht (Schulten und Lübker, 2024). Schrittweise ist ein Anstieg ab 2025 auf 15 Euro vorgesehen. Nun ließe sich die Diskussion zum Mindestlohn mit Konzentration auf die Effekte für den Arbeitsmarkt bzw. den volkswirtschaftlichen Beschäftigungsstand führen. Für den ökonomischen Diskurs zum Mindestlohn mag das naheliegend sein (o. V., 2021). Allerdings scheint dies dann am wirtschafts- und sozialpolitischen Kern der Probleme vorbeizugehen, die hinter der Forderung nach einem höheren Mindestlohn stecken.
Denn unter dem Fokus auf die Arbeitsmarkteffekte kann leicht aus dem Blick geraten, dass es sich beim Mindestlohn in erster Linie um eine soziale Gerechtigkeitskonvention handelt, die soziale Mindeststandards für die Qualität von Erwerbsverhältnissen setzen soll. Solch ein Mindeststandard wäre z. B. die Existenzsicherungsfunktion der Entlohnung. Der deutsche Mindestlohn leidet nun daran, dass zwar im deutschen Mindestlohngesetz (MiLoG) von einem „angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ (§ 9 Abs. 2 MiLoG) die Rede ist, aber konkrete Mindeststandards wie die Existenzsicherung fehlen. Wenn dann der Mindestlohn nicht der politisch gewollten, aber gesetzlich eben nicht festgeschriebenen Funktion der Existenzsicherung nachkommt, bleibt nur eine Möglichkeit: Der Basiswert zur Entwicklung des Mindestlohns (§ 1 Abs. 2 MiLoG) muss durch einen Eingriff der Gesetzgebung geändert werden – wie es 2023 (Anhebung auf 12 Euro) geschah und nun wieder (auf 14 bzw. 15 Euro) geplant ist. Damit dürfen sich all jene Kritiker des Mindestlohns bestätigt fühlen, die vor der politischen Instrumentalisierung gewarnt hatten (z. B. Knabe et al., 2021, 933). Genau dieser Vorwurf scheint im Jahr 2024, in dem eine Europawahl und drei Landtagswahlen (Sachsen, Thüringen und Brandenburg) anstehen, berechtigt zu sein. Dabei liegt die Lösung für dieses Problem auf der Hand, nämlich das Festschreiben der Existenzsicherung als Mindestlohn-Funktion in das MiLoG, flankiert durch: die unmissverständliche Aufgabe an die Mindestlohnkommission, für ein existenzsicherndes Niveau des Mindestlohns zu sorgen; eine Regelung, die den Mindestlohn automatisch auf ein existenzsicherndes Niveau hebt, z. B. durch die Orientierung am erwähnten 60 %-Medianeinkommen; oder durch eine Kombination dessen.
Aber wäre die Mindestlohnkommission mit dem 60 %-Mediankriterium nicht überflüssig? Worüber hätte sie dann noch zu entscheiden? Nun, genau genommen kann der Auftrag der Mindestlohnkommission so eng gefasst verstanden werden, dass dieser Kritikpunkt bereits heute greift (Sell, 2016). Aber darüber hinaus muss der Mindestlohn nicht auf die Funktion der Existenzsicherung beschränkt bleiben. Er könnte zusätzlich – ökonomisch, sozial- und arbeitsmarktpolitisch sowie ethisch gut begründet – z. B. für die Kompensation von Einschränkungen durch das Erwerbsverhältnis und eine „faire“ (Mindest-)Teilhabe an der gemeinsam geschaffenen realen Wertschöpfung sorgen (Thieme, 2017, 237). Das wären Punkte, über die eine Mindestlohnkommission verhandeln kann. Ein in diesem Sinne modifiziertes MiLoG wäre gute Ordnungspolitik und könnte zukünftige Eingriffe der Politik zur Gewährleistung eines existenzsichernden Mindestlohns und den wahltaktischen Missbrauch dessen vermeiden. Bleibt es dagegen einfach nur bei der Anhebung des Mindestlohns, wird die nächste gesetzlich bestimmte Erhöhung des Mindestlohns nur eine Frage der Zeit sein.
Literatur
Fratzscher, M. (2023), Der Mindestlohn muss deutlich steigen, Die ZEIT, 23. Juni, https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-06/mindestlohn-arbeitsmarkt-oeffentlicher-dienst-lohnerhoehung-einkommen (7. Juni 2024).
Knabe, A., R. Schöb, und M. Thum (2021), Der Mindestlohn von 12 Euro kommt – die sozialpolitischen Risiken bleiben, Wirtschaftsdienst, 101(12), 932-936, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2021/heft/12/beitrag/der-mindestlohn-von-12-euro-kommt-die-sozialpolitischen-risiken-bleiben.html (7. Juni 2024).
o. V. (2021), Was bedeuten 12 Euro Mindestlohn für den Arbeitsmarkt?, Zeitgespräch mit Beiträgen von N. Gürtzgen, A. Fedorets, A. Knabe, R. Schöb, M. Thum, H. Bach, C. Schröder, A. Heise, T. Pusch, Wirtschaftsdienst, 101(12), 925-942, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2021/heft/12/beitrag/was-bedeuten-12-euro-mindestlohn-fuer-den-arbeitsmarkt.html (7. Juni 2024).
Schulten, T. und M. Lübker (2024), WSI-Mindestlohnbericht 2024, Hans-Böckler-Stiftung, WSI-Report, https://www.wsi.de/fpdf/HBS-008805/p_wsi_report_93_2024.pdf (7. Juni 2024).
Sell, S. (2016), Wozu brauchen wir eigentlich die Mindestlohn-Kommission?, Makronom, 30. Juni, https://makronom.de/wozu-brauchen-wir-eigentlich-die-mindestlohnkommission-15780 (7. Juni 2024).
Thieme, S. (2017), Menschengerechtes Wirtschaften?, Budrich.