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Dieser Beitrag ist Teil von Die ökonomischen Bedingungen einer neuen Sicherheitsarchitektur für Deutschland und Europa

Das viel zitierte Kanzlerwort von der Zeitenwende markiert den Beginn einer Ära wachsender Herausforderungen durch sich überlagernde Großkrisen. In dieser Wende sind der Klimawandel, Demographie und Migration als Themen bereits angekommen, denn deren Effekte und die Gegenmaßnahmen kann die Bevölkerung schon spüren. Zudem schwächen sich in Europa die Aussichten für künftiges Wachstum und Wohlstand ab mit der Folge, dass sich die Verteilungskonflikte innerhalb Deutschlands, innerhalb Europas und darüber hinaus verschärfen werden. Dazu treten weitere Rivalitäten, einerseits zwischen Gesellschafts- und Lebensentwürfen, andererseits zwischen globalen Regionen.

Die zugehörige Veränderung der Rahmenbedingungen für strategisches Handeln wird meist mit den folgenden Charakteristika beschrieben:

  • die Simultanität von Krisen,
  • eine fortwährende Steigerung der Rate von Innovation und technologischem Wandel,
  • ein hohes Tempo gesellschaftlicher Veränderungen bis hin zur Disruption,
  • ein zunehmender Multilateralismus der internationalen Beziehungen und
  • ein stärker transaktionaler Charakter der Außenpolitik.

In der Folge wird die wohlfahrtssteigernde, stabilisierende Wirkung sozialer Regeln und Konventionen (Beckmann, 1998) eingeschränkt. Sowohl auf der Ebene der individuellen Bürger:innen als auch für politische Akteure fällt es schwerer, dauerhafte Erwartungen zu bilden. Dadurch entstehen einerseits soziale Kosten, andererseits wird ein bestimmter Ansatz strategischen Handelns begünstigt, die so genannte Brinkmanship-Strategie.

Dieser Beitrag analysiert Aspekte des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine in seinem internationalen Kontext aus spieltheoretischer Perspektive und unter besonderer Berücksichtigung einer möglichen Nutzung von Brinkmanship durch den 47-sten Präsidenten der USA, Donald Trump.

Der Begriff Brinkmanship stammt von Schelling (1960). Im Kern geht es darum, glaubwürdig mit Maßnahmen zu drohen, die auch die Vernichtung des Drohenden zur Folge hätten, also beispielsweise mit einem atomaren Schlag einer Großmacht im Kalten Krieg. Brinkmanship besteht darin, die Drohung zu portionieren, also das gemeinsame Risiko der Kontrahenten schrittweise zu erhöhen, bis die Gegenseite nachgibt. Man umklammert gleichsam den anderen und schiebt ihn auf den Abgrund („Brink”) zu.

Klar muss sein, dass Brinkmanship keine Form der Irrationalität darstellt. Wir sagen, dass eine Person rational handelt, wenn sie sich bewusst bemüht, die beste Wahl aus der ihr zur Verfügung stehenden Optionen zu treffen, wenn sie in der Lage ist, die Alternativen nach ihrer individuellen Vorstellung von „besser“ zu ordnen, und wenn ihre Entscheidungen transitiv sind. Das heißt: Wenn sie A über B wählt und B über C, dann muss sie auch A über C wählen, wenn ihr diese Wahl angeboten wird.

Warum rationale Strategen (nicht) in den Krieg ziehen

Der Globalisierung wird eine friedensstiftende Wirkung zugeschrieben, weil sie die Staaten voneinander abhängig mache und so die Kosten des Krieges erhöhe. Dieses Argument ignoriert die spieltheoretische Logik von Drohungen. Radfahrer auf der ganzen Welt schaffen es durchaus, Autofahrer zu schikanieren, obwohl eine Kollision für sie tödlich enden könnte, während der Autofahrer im schlimmsten Fall mit einer Gefängnisstrafe zu rechnen hat.

In einem einfachen dynamischen Spiel mit vollständiger Information lässt sich zeigen, dass höhere Kriegskosten nicht zu einer geringeren Wahrscheinlichkeit eines Krieges führen. Zum Krieg kommt es in einem solchen Modell gar nicht: Die Aggressorin wird immer genau so viel fordern, dass sie nicht in den Krieg ziehen muss. Wird der Krieg teurer, so ist dies ein gemeinsames Risiko für beide Parteien, und daher kann die Aggressorin auch mehr verlangen (Beckmann, 2024).

Was also kann den Ausbruch eines Krieges erklären? Dafür müssen wir unsere Modellannahmen hinterfragen. Sobald wir mindestens eine davon fallenlassen, verschwindet das Ergebnis. Eine Erklärung muss sich auf (1) Informationsasymmetrien, (2) unterschiedliche Risikoneigungen oder (3) unterschiedliche Grade von Rationalität konzentrieren. Das bedeutet: Wenn ein Krieg ausbricht, hat sich jemand entweder verspekuliert oder geblufft – oder beides.

Rationalität bedeutet eben nicht, dass man niemals verliert, jedoch bewahrt sie davor, im Nachhinein kritisiert werden zu können. Folgende drei Gründe sind besonders wichtig:

  1. Die Akteurin könnte ein rationales Risiko eingegangen sein und verloren haben.
  2. Sie könnte auf der Grundlage von rational unvollständiger Information gehandelt haben.
  3. Sie könnte trotz eines angemessenen Versuchs das Rationalitätsniveau ihres Gegners falsch eingeschätzt haben.

Der erste Fall ist simples Pech. Wer rational wettet, kann verlieren. Der zweite Fall erkennt an, dass wir unter Umständen ohne umfassende Bewertung handeln müssen, etwa aufgrund kognitiver oder zeitlicher Beschränkungen. Nun ist auch das Ausmaß der Informationssuche und Bewertung eine bewusste Entscheidung – und sie ist mit Kosten verbunden. Es kann also vorkommen, dass jemand angemessenen Aufwand betrieben hat, um eine Entscheidung vorzubereiten, und dennoch ein entscheidendes Detail übersieht.

Drittens: Nur weil man selbst ein rationaler Spieler ist, heißt das nicht, dass dies auch auf den Gegner zutrifft. Da rationale Entscheidungen in ernsten Spielen und im Krieg erfordern, das Verhalten des Gegners vorauszusehen, muss eine Einschätzung seines Rationalitätsniveaus Teil des Plans sein – und dies kann scheitern, ohne dass man selbst irrational ist.

Waffenstillstand in der Ukraine und Offensive im Baltikum?

Der Historiker Sönke Neitzel ist mit der Vermutung hervorgetreten, Russland könne das Herbstmanöver «Sapad 2025» (russisch für Westen) bereits für offensive Aktionen im Baltikum nutzen (Bild, 2025). Denn Russland wird nach einem Frieden in der Ukraine – oder etwas Vergleichbarem – über ungebundene kriegserprobte Kräfte und erhebliche Erfahrungen in einem digitalisierten Gefechtsfeld verfügen. Zudem ist die russische Wirtschaft bereits auf kriegswirtschaftliche Bedingungen umgestellt.

Dies verleiht Russland nach dem Ende der Feindseligkeiten in der Ukraine eine erhöhte Kriegsbereitschaft. Die Geschichte kennt Beispiele, wie ein aufstrebender David einen solchen Vorsprung gegen einen ruhenden Goliath mit Aussicht auf Erfolg strategisch nutzen kann, etwa der Erste Schlesische Krieg Preußens gegen Österreich 1742, der Preußens Aufstieg begründete.

Dieser Vorsprung verfliegt jedoch rasch, wie auch der Verlauf des Zweiten Weltkriegs verdeutlicht. Reimer und Beckmann (2014) haben das Abschmelzen des anfänglichen Vorteils einer erhöhten Kriegsbereitschaft in Simulationen abgebildet. Danach sind es die Ressourcen, die wirtschaftliche Produktivität und die technologische Qualität, die mittel- und langfristig den Ausschlag geben.

Selbst diese Trümpfe stechen nicht immer. Man vergleiche den Angriff des Deutschen Reichs auf Polen 1939 („Fall Weiß“) und die erste Kriegsphase des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022. Die geostrategische Ähnlichkeit der Ausgangslage drängt sich förmlich auf. In beiden Fällen sitzt eine Exklave des Aggressors – Ostpreußen in einem Fall, die Krim im anderen – in der einen Flanke des Verteidigers. In der jeweils anderen Flanke befindet sich ein Verbündeter des Aggressors – 1939 war das die Slowakische Republik, 2022 Belarus. Beide Verteidiger werden durch ein großes Gewässer diagonal durchzogen, die Weichsel bzw. den Dnipro, und die Hauptstadt beider Verteidiger liegt exponiert in der Nähe der jeweiligen Grenze zum Aggressor. Auch bezüglich des Ressourcen- bzw. Kräfteverhältnisses beim BIP, der Bevölkerungsgröße und der Zahl von Soldaten und Waffensystemen bestehen Parallelen.

Aufgrund dieser Parallelen konnte man durchaus einen schnellen Erfolg der Russen erwarten. Warum dieser nicht eintrat, ist bereits mehrfach diskutiert worden, unter anderem bei Merkx (2023). Die angeführten Gründe befinden sich meist auf der operativen Ebene:

  • Vorbereitung und Professionalismus der ukrainischen Landstreitkräfte. Die Ukraine hatte die Ereignisse von 2014 ausgewertet, ihr Militär neu aufgestellt und auch mit Hilfe ausländischer Partner weiter professionalisiert. Die ukrainischen taktischen und operativen Leistungen in den ersten Kriegswochen sind beachtlich.
  • Missachtung des Schwerpunktprinzips. Russland verwendete für seine „militärische Spezialoperation“ nur rund 190.000 Soldaten, also weniger, als der Gegner an der Front verfügbar machen konnte. Zudem wurden sechs verschiedene operative Stoßrichtungen verfolgt. Dagegen konzentrierte sich das deutsche Oberkommando 1939 unter Entblößung der Westfront auf die beiden Spitzen der Zange, welche die polnische Armee noch vorwärts der Weichsel stellen und einschließen sollte, also auf eine einzige operative Idee.
  • Informationsüberlegenheit der ukrainischen Seite, nicht zuletzt durch Beiträge der westlichen Dienste.

Diese Aspekte machen plausibel, warum die Ukraine in der ersten Jahreshälfte 2022 nicht wie Polen im Herbst 1939 zusammenbrach. Wie alle Aspekte der Readiness sind sie aber transitorisch, und sie erklären nicht, warum die Ukraine auch im vierten Kriegsjahr noch steht. Dazu muss auf die strategische Ebene geschaut werden, und hier geben westliche Ressourcen den Ausschlag.

Die Simulationen aus Beckmann und Reimer (2014) beruhen auf der Dynamisierung eines klassischen Rent-Seeking-Modells. In dessen einstufiger Grundversion (Tullock, 1987) ringen zwei Parteien um die Summe der gemeinsamen Ressourcen, von denen sie jeweils über einen Teil disponieren. Diesen Teil können sie für den Kampf verwenden oder im zivilen Sektor belassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Partei den Krieg gewinnt, entspricht ihrem Anteil am gesamten Aufwand für Kampf.

Damit ergibt sich in einer inneren Lösung, dass beide Parteien gleich viel für den Kampf aufwenden und gleiche Erfolgsaussichten haben. Die Hälfte der verfügbaren Ressourcen wird durch die Auseinandersetzung vergeudet, da Kriegführung nicht produktiv ist. Verfügen die beiden Parteien über unterschiedliche Ressourcen, so bleibt es bei diesem Ergebnis – was bedeutet, dass die schwächere Partei relativ stärker kämpft. Dies ist das so genannte „Paradox of Power“ (Hirshleifer, 2001).

Das Ergebnis bricht erst zusammen, wenn keine innere Lösung mehr erreicht wird. Also dann, wenn die schwächere Partei optimal mehr Ressourcen in den Kampf stecken wollte, als ihr zur Verfügung stehen. In einer solchen Randlösung wird die schwächere Seite erdrückt, und ihre Erfolgsaussichten schwinden deutlich. Dieses Phänomen zeigt sich nicht nur in Simulationen, sondern passt auch zur historischen Evidenz. Danach hielten westliche Transfers die Ukraine im Bereich einer inneren Lösung – wenn auch an deren Grenze –, und das Land wurde mittelfristig nicht erdrückt.

Bündnisverteidigung – ein Fall für Brinkmanship?

Kommen wir nun zur gegenwärtigen Situation und laufenden Friedensinitiativen. Die Abbildung 1 zeigt eine Möglichkeit, die gegenwärtige Situation darzustellen: Zunächst entscheidet die USA, ob sie bei ihrer Friedensinitiative die Ukraine zerschlägt oder durch Widerstand gegen die russischen Kriegsziele erhält. (Dass es zu einem Waffenstillstand kommt, wird vorausgesetzt.) Im Anschluss kann Russland entweder einen begrenzten Angriff auf das Baltikum unternehmen oder dies unterlassen. Im Falle eines begrenzten Angriffs kann der Rest der NATO (RoN) entscheiden, ob man dem Angriff militärisch Widerstand leistet oder nicht. Kommt es zum Widerstand, muss sich die USA entscheiden, ob sie den (gegebenenfalls ehemaligen) NATO-Partnern in Europa militärischen Beistand leistet oder nicht.

Abbildung 1
Spielform „Verteidigung des Baltikums“
Spielform

Quelle: eigene Darstellung.

Diese Interaktion weist insgesamt acht Endzustände aus. Man beachte, dass es sich bei dem Baum in der Abbildung nicht um die extensive Form eines Spieles handelt, weil noch keine Auszahlungen angegeben sind. Auch die Frage der asymmetrischen Information haben wir noch nicht betrachtet. Es handelt sich also um eine Spielform im Sinne von Beckmann (1998), innerhalb derer mehrere konkrete Spiele möglich sind.

Ein Ansatz könnte darin bestehen, das Verhalten der USA auf der ersten Stufe als Signal an die übrigen Spieler zu interpretieren und so asymmetrische Informationen abzubilden. Dies läge in der klassischen Tradition des „Quiche“-Spiels (Cho & Kreps, 1987; militärische Anwendung bei Beckmann & Reimer, 2014). Wir schlagen hier einen anderen Weg ein und nutzen das Konzept der Brinkmanship für unsere Analyse.

Brinkmanship (Schelling, 1960) beruht auf der Idee, durch inkrementelle Veränderungen in glaubwürdiger Weise mit einer gemeinsamen Katastrophe zu drohen. Dazu nutzt der Brinkman die Clausewitz‘sche Friktion (Watts, 2004) – z. B. die Möglichkeit von Fehlern bei der Auftragsübermittlung oder von Fehlinterpretationen – und andere externe Quellen von Unsicherheit (Reid & McDermott, 2023). Dabei kommt es darauf an, das Ergebnis für die Gegenseite schwer kalkulierbar zu halten. Voraussetzung ist, dass man als Brinkman die entstehende Ungewissheit besser ertragen kann als die Gegenseite. Diese Bedingung kann beispielsweise durch die persönlichen Eigenschaften einer Führungspersönlichkeit oder durch die Gouvernanzstruktur begünstigt werden.

Zusammenfassend enthalten Theorien der Brinkmanship (etwa Schelling, 1960; Reid & McDermott, 2023) folgende Elemente:

  • Geteiltes Risiko. Beide Seiten würden durch den Eintritt der Katastrophe erheblich geschädigt, oder spieltheoretisch: Keiner der Akteure präferiert den Eintritt dieses Ereignisses.
  • Graduelle Eskalation. Die Eintrittswahrscheinlichkeit der Katastrophe wird sukzessive gesteigert. Jeder dieser Schritte ist für sich genommen glaubwürdig.
  • Ambiguität. Um das Kalkül der Gegenseite zu erschweren, wird nicht nur das Risiko erhöht, sondern auch versucht, Ungewissheit im Sinne einer Situation mit unbekannten Eintrittswahrscheinlichkeiten bzw. einem unklaren Ereignisraum zu erzeugen.
  • „Last clear chance“. Dieser Begriff bezeichnet den Punkt, ab dem der Kontrollverlust einer Seite unvermeidlich ist. Daher wird die Gegenseite anstreben, den anderen zuerst in diese Lage zu bringen.

Die Beteiligten versuchen, die Gegenseite über deren Toleranzschwelle zu schieben, ohne selbst die Kontrolle zu verlieren (Haun & O‘Hara, 2022; Yamamoto, 2024). Zur Abbildung eines solchen „strategischen Tanzes“ haben Rapoport und Chammah (1966) das bekannte „Chicken“-Spiel entwickelt.

Donald J. Trump hat schon in den Abgrund geblickt (Trump, 1991). Zu Beginn der 1990er Jahre litt seine Firma unter erheblichen Schuldenbergen, seine Casinos machten sich in Atlantic City gegenseitig Konkurrenz, und einige Banken forderten Schuldentilgung. In der Folge geriet Trump nahe an den persönlichen Bankrott. Die Verhandlungen Trumps mit den Banken in dieser Zeit weisen typische Merkmale von Brinkmanship auf: Dadurch, dass mit dem Untergang der Marke „Trump“ der Wert der fraglichen Vermögensgegenstände noch weiter erodiert wäre, entstand ein gemeinsames Risiko. Durch Zahlungsverweigerung sowie die Drohung mit der Aufgabe einzelner Assets und mit Klagen vermochte Trump dieses Risiko kleinschrittig zu steigern und zugleich eine gewisse Unberechenbarkeit zu generieren. Die Glaubwürdigkeit der Drohung resultierte schlicht aus dem Umstand, dass Trump mit dem Rücken zur Wand stand. Und am Ende verblieb den Banken die Chance, noch Teile ihres Engagements zu retten. Freilich darf man diese Parallele nicht übertreiben oder gar zu einem Psychogramm des 47. (und 45.) US-amerikanischen Präsidenten stilisieren.

Immerhin kann man aber festhalten, dass Trump früher eine gewisse Vertrautheit mit den Strategemen der Brinkmanship gezeigt hat und ihnen einen großen Erfolg in seiner geschäftlichen Karriere verdankt.

Kehren wir zurück zur Spielform aus der Abbildung 1 und betrachten die letzten beiden Stufen, also diejenigen „Teilspiele“, die mit dem Zug von RoN beginnen. Dabei drängen sich zwei Fragen auf:

  • Können sich die Verbündeten so gut allein verteidigen, dass sie dies auf sich nehmen, statt klein beizugeben?
  • Ziehen die USA eine Situation, in der sie aus der Nachhand die Verbündeten stützen, einer Situation vor, in der die Verbündeten auf sich allein gestellt sind?

Die erste Frage hat mit der Kriegstüchtigkeit der Verbündeten zu tun, die zweite zusätzlich mit der Höhe der Opportunitätskosten einer Unterstützung seitens der USA. Das führt zu zwei idealtypischen Szenarien: Erstens dem Fall eines schwachen RoN. Die Kräfte der USA für sich genommen genügen, den Angriff abzuwehren, die des RoN nicht.

Abbildung 2 zeigt das resultierende Stufenspiel am Ende der Spielform mit plausiblen ordinalen Payoffs.

Abbildung 2
Stufenspiel mit schwachem Europa
Stufenspiel mit schwachem Europa

Quelle: eigene Darstellung.

Hier verfügt der RoN über eine dominante Strategie, nämlich Nicht unterstützen (N), und die USA ebenfalls, nämlich Unterstützen (U). Im Ergebnis wehren die USA eine allfällige Attacke allein ab.

Zweitens haben wir den Fall des starken RoN (Abbildung 3). Dabei reichen sowohl die Kräfte der USA als auch die des RoN einzeln aus, den Angriff abzuwehren, aber man teilt sich bei gemeinsamer Verteidigung die Kosten des Krieges.

Abbildung 3
Stufenspiel mit starkem Europa
Stufenspiel mit starkem Europa

Quelle: eigene Darstellung.

Diese Variante läuft auf die gemeinsame Bereitstellung eines öffentlichen Guts kombiniert mit einem Verteilungskonflikt über die Kosten hinaus. Oder, anders gewendet: ein gemeinsames Risiko (dass keine Lösung gefunden wird) kombiniert mit einem Verteilungskonflikt. Die resultierende 2x2-Grundform ist das „Chicken“-Spiel, welches wir schon vorhin mit Brinkmanship in Verbindung gebracht haben.

Klar sollte sein, dass bei einem „wörtlichen“ Verständnis der Spielform in der Abbildung 1 – also bei sequentiellen Zügen – der RoN sich als erste auf Nicht unterstützen (N) festlegen würde und damit die USA Unterstützen (U) wählten. Dies entspricht aber gerade nicht der Idee eines Trippelns in Richtung Abgrund.

Jedoch sind spieltheoretische Modelle keine getreuen Abbildungen der Realität, sondern abstrakte Vehikel, um eine Vorstellung von strategischen Mechanismen zu gewinnen. Unsere bisherige Argumentation ist also so zu verstehen, dass es in der vorliegenden Situation erheblichen Spielraum für die Anwendung der Brinkmanship gibt, und dass mindestens eine der beteiligten Personen einen entsprechenden Hintergrund aufweist.

Die Spielform veranschaulicht aber auch die Bedeutung der Frage, wie jetzt auf dem Weg zu einem Waffenstillstand mit der Ukraine umgegangen wird. Eine unabhängige und kampfkräftige Ukraine wird auch dann russische Kräfte binden, wenn die Waffen ruhen. Einer durch Ressourcen-Deals oder anderweitig geschwächten Ukraine wird das nicht in gleicher Weise gelingen, von einer zerschlagenen Ukraine ganz zu schweigen. Damit wird klar, dass die Entscheidung der USA im ersten Zug einen Einfluss darauf haben kann, ob am Ende des Spielbaums die Kräfte des RoN ausreichen werden, einen russischen „Versuchsballon“ abzuwehren – also, welches Teilspiel aus dem letzten Abschnitt tatsächlich relevant wird.

Ausblick

In diesem Beitrag haben wir einfache Elemente strategischer Analysen des Beginns und des Endes von Kriegen vorgestellt und auf den aktuellen Konflikt um die Ukraine angewendet. Dabei wurde insbesondere das Konzept der Brinkmanship betont, weil dessen Anwendung durch die zunehmende Ambiguität des strategischen Umfelds begünstig wird. Unsere Überlegungen lassen erwarten, dass sich ein Vorgehen, wie wir es gegenwärtig bei der Trump-Administration beobachten, zukünftig häufiger auf der internationalen Bühne finden wird.

Literatur

Beckmann, K. B. (1998). Analytische Grundlagen einer Finanzverfassung. Peter Lang.

Beckmann, K. B. (2024). Krieg und Ökonomie. Eine Analyse. Ukraine-Dossier des ZMSBw.

Beckmann, K. B. & Reimer, L. (2014). Dynamics of Military Conflict: An Economics Perspective. Review of Economics, 65, 265–285.

Bild. (2025, 23. März). Interview mit Sönke Neitzel: Wehrpflicht? Es fehlen Kasernen!

Cho, I.-K. & Kreps, D. M. (1987). Signaling Games and Stable Equilibria. Quarterly Journal of Economics, 102(2), 179–222.

Haun, P. & O‘Hara, M. (2022). The brinkmanship game: Bargaining under the mutual risk of escalation. Journal of Political Science Education, 18(3), 379–389.

Hirshleifer, J. (2001). The Dark Side of the Force. Cambridge University Press.

Merkx, G. W. (2023). Russia‘s war in Ukraine: two decisive factors. Journal of Advanced Military Studies, 14(2).

Pauly, R. B. C. & McDermott, R. (2023). The psychology of nuclear brinkmanship. International Security, 47(3), 9–51.

Rapoport, A. & Chammah, A. M. (1966). The game of chicken. American Behavioral Scientist, 10(3).

Schelling, T. C. (1960). The Strategy of Conflict. Cambridge. Harvard University Press.

Trump, D. J. (1991). The art of survival. Warner Books.

Tullock, G. (1987). Rent seeking. In The New Palgrave. Macmillan.

Watts, B. D. (2004). Clausewitzian Friction and Future War (2. Aufl.). McNair Paper, Nr. 68. Institute for National Strategic Studies.

Yamamoto, K. (2024). A new formal model analysis of deterrent to brinkmanship and the causes of the armament dilemma. Journal of Theoretical Politics, 36(2), 132–155.

Title:War and Peace in Europe: A Role for Brinkmanship?

Abstract:This article analyses aspects of the conflict between Russia and Ukraine in its international context from a game theory perspective, with particular attention to the possible use of the brinkmanship strategy by US President Donald Trump.

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© Der/die Autor:in 2025

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DOI: 10.2478/wd-2025-0071