Welche Effekte hatte das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2023 zum Nachtragshaushalt 2021 und damit zur Anwendung der Schuldenbremse auf die öffentlichen Investitionen in Deutschland? Dieser Beitrag zeigt, dass das Urteil nur einen moderaten negativen Effekt im Bundeshaushalt hatte, dessen geplante Investitionen um 1,2 Mrd. Euro gefallen waren. Deutlich stärker waren allerdings die Folgen im Klima- und Transformationsfonds. Noch wichtiger: Bei den Investitionen wurde anteilsmäßig mehr eingespart als bei konsumtiven Staatsausgaben. Das bedeutet: Eine „Ausgabenpriorisierung von Zukunftsinvestitionen“ hat es nicht gegeben.
Der Bedarf an öffentlichen Investitionen in Deutschland ist erheblich. Beispielsweise stellt der Sachverständigenrat in seinem letzten Jahresgutachten fest, dass die öffentlichen Ausgaben für Infrastruktur, Bildung und Verteidigung im internationalen Vergleich gering ausfallen (SVR Wirtschaft, 2024). Die für Investitionen zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel werden dabei durch drei Faktoren bestimmt: den Anteil der konsumtiven Staatsausgaben, die verfügbaren Steuereinnahmen, sowie die zulässige Neuverschuldung gemäß Schuldenbremse laut Art. 109 des Grundgesetzes. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2023 zum Nachtragshaushalt 2021 und damit zur Anwendung der Schuldenbremse hat dabei den verfügbaren fiskalischen Spielraum stark eingeschränkt (Bundesverfassungsgericht, 2023).1 Dies hatte zur Folge, dass die damalige Bundesregierung ihre Budgetpläne stark verändern musste, um die Schuldenbremse einzuhalten (Bundesregierung, 2023a). Die quantitative Relevanz des Urteils lässt sich auch daran erkennen, dass die Koalition aus SPD, Grüne und FDP im November 2024 an Fragen der Finanz- und Wirtschaftspolitik zerbrochen ist, insbesondere wegen Differenzen über die Anwendung der Notlagenregel und einer Reform der Schuldbremse.
Annahmen und Vorgehen
Wie hat sich die Reduktion des fiskalischen Spielraums durch das Urteil auf die geplanten öffentlichen Investitionen ausgewirkt? In diesem Artikel beantworten wir diese Frage anhand einer Fallstudie. Dazu vergleichen wir die geplanten öffentlichen Investitionen für 2024 vor und nach dem Urteil. Wir zeigen, dass die geplanten öffentlichen Investitionen nach dem Urteil zurückgegangen sind, insbesondere im Klima- und Transformationsfonds (KTF). In der Folge schätzen wir eine Elastizität der Investitionen bezüglich des Konsolidierungsbedarfs von 1,5. Das bedeutet, dass ein Einsparungsbedarf von 1 % der Gesamtausgaben zu einem Rückgang der öffentlichen Investitionen in Höhe von 1,5 % führt. Abschließend vergleichen wir die Plandaten mit den tatsächlichen Investitionen im Jahr 2024. Auch dieser Vergleich zeigt, dass die Investitionen deutlich niedriger ausgefallen sind als ursprünglich geplant.2 Dieses empirische Resultat deckt sich mit der theoretischen Analyse aus Janeba (2025) bzw. Hack und Janeba (2025), die vorhersagt, dass eine Erhöhung des Konsolidierungsbedarfs zu einer Reduktion der Investitionen führt.
Um den Vergleich der Plandaten durchzuführen, vergleichen wir die Planung des Bundeshaushalts für das Haushaltsjahr 2024 aus der ersten Lesung im Bundestag im September 2023, mit den Daten des verabschiedeten Haushalts Anfang Februar 2024. Den aus dem Urteil folgenden Konsolidierungsbedarf entnehmen wir zwei Pressemitteilungen der Bundesregierung (Bundesregierung, 2023a, 2023b). Wir gehen darauf ein, inwiefern andere Einflussfaktoren auf die Änderung der Planung gewirkt haben. Dabei stellen wir fest, dass die Veränderung der Steuerschätzung sowie der Konjunkturkomponente zur Berechnung der zulässigen Nettokreditaufnahme unter der Schuldenbremse den fiskalischen Spielraum hier erhöht haben. Somit sind unsere Berechnungen als konservativ einzuschätzen: Bei unverändertem fiskalischem Spielraum wären die Investition möglicherweise noch stärker gesunken.
Abschließend diskutieren wir, inwiefern das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Verschärfung der Schuldenbremse interpretiert werden kann. Eine solche Interpretation ist nützlich, um die Konsequenzen der Schuldenbremse empirisch zu beleuchten. Existierende Beiträge zur deutschen Schuldenbremse beschränken sich auf deskriptive Analysen (z. B. Wirtschaftsdienst, 2019) oder Befragungen (z. B. Blesse et al., 2021) oder Korrelationen auf Bundesländerebene (Wissenschaftlicher Beirat beim BMWE, 2020). Außerdem gab es seit der Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2009 bis März 2025 keine entscheidenden Änderungen und somit auch keine Variation für eine empirische Schätzung. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellt nun eine substanzielle Änderung in der Auslegung der Schuldenbremse dar, relativ zur Rechtsauslegung der Haushaltsplanung vor dem Urteil. Eine weitere, auch den Gesetzestext der Schuldenbremse betreffende Änderung hat sich im März 2025 ergeben. Die neue Regelung erlaubt, Verteidigungsausgaben oberhalb von 1 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ebenso wie ein Sondervermögen von bis zu 500 Mrd. Euro von der Schuldenbremse auszunehmen. Die Wirkungen dieses Pakets auf die Finanzmärkte werden in Petroulakis und Saidi (2025) analysiert.
Fallstudie: Das Bundesverfassungsgerichtsurteil
Wir nutzen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Schuldenbremse vom 15. November 2023 (Bundesverfassungsgericht, 2023) und analysieren den Effekt auf die geplanten öffentlichen Investitionen im Bundeshaushalt, sowie im Klima- und Transformationsfond (KTF). Der Effekt des Urteils kann anhand der Haushaltsplanung 2024 vor und nach dem Richterspruch gemessen werden. Die Haushaltsplanung vor dem BVerfG-Urteil entnehmen wir der Planung des Bundeshaushalts im August 2023 (Deutscher Bundestag, 2023, Gruppierungsübersicht, S. 55-56). Die korrespondierenden KTF-Werte entstammen aus der Anlage Wirtschaftsplan zu der gleichnamigen Drucksache (Deutscher Bundestag, 2023, Anlage 3, S. 48).3 Den notwendigen Einsparungsbedarf im Bundeshaushalt als Folge des Urteils entnehmen wir der Pressemitteilung der Bundesregierung vom 19. Dezember 2023 (Bundesregierung, 2023a).4 Da die Pressemitteilung keine eindeutige Aufschlüsselung nach investiven und konsumtiven Ausgaben enthält, entnehmen wir die Investitionsplanung nach dem Urteil aus dem BMF Monatsbericht (BMF, 2024a), der die Planungen gemäß Haushaltsgesetz 2024 präsentiert (BGBl. Nr. 38 vom 12. Februar 2024).5 Unsere Definition der Investitionen exkludiert die „Sondereffekte“ (BMF, 2024a) durch das Generationenkapital und die Erhöhung des Eigenkapitals der Deutschen Bahn AG, da diese als finanzielle Transaktionen nicht von der Schuldenbremse betroffen sind. Die genannten Plandaten präsentieren wir in Zeilen (1) bis (4) von Tabelle 1.
Tabelle 1
Budgetplanung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2024
Quelle / Berechnung |
Erklärung | Haushalt (a) |
KTF (b) |
Gesamt (a+b) |
|
---|---|---|---|---|---|
in Mrd. Euro | |||||
(1) | Plandaten vor BVerfG-Urteil | Gesamtausgaben | 445,7 | 57,6 | 503,3 |
(2) | Investitionen | 54,2 | 36,7 | 90,9 | |
(3) | Plandaten nach BVerfG-Urteil | Investitionen | 53,0 | 29,9 | 82,9 |
(4) | Einsparungsbedarf | 17,0 | 12,7 | 29,7 | |
(5) | (2)-(3) | Rückgang Investitionen | 1,2 | 6,8 | 8,0 |
in % | |||||
(6) | (5)/(4) | Anteil Investitionen an Einsparungen | 7,1 | 53,5 | 26,9 |
(7) | (2)/(1) | Investitionsquote vor BVerfG-Urteil | 12,2 | 63,7 | 18,1 |
(8) | (3)/(1) | Investitionsquote nach BVerfG-Urteil | 11,9 | 51,9 | 16,5 |
in Prozentpunkten | |||||
(9) | (7)-(8) | Rückgang Investitionsquote | 0,3 | 11,8 | 1,6 |
Die Datenquellen für Zeilen (1)–(4) sind im Text dargelegt. Die Berechnung von Zeilen (5)–(9) ergibt sich aus Spalte 2. Zeile (2)–(3): Investitionsausgaben im Kernhaushalt umfassen die Gruppen 7 und 8 im Gruppierungsplan. Investitionsausgaben im KTF beziehen sich auf die Position „Ausgaben für Investitionen“. Gesamtausgaben im KTF in der Finanzplanung vor dem Urteil werden ohne die Rubrik „Besondere Finanzierungsausgaben“ berechnet, die vor allem der Rücklagenbildung dienen. Investitionen nach dem Urteil in Zeile 3 exkludieren die Sondereffekte in Höhe von 17,5 Mrd. Euro durch das Generationenkapital und die Erhöhung des Eigenkapitals der Deutschen Bahn AG, da diese als finanzielle Transaktionen nicht von der Schuldenbremse betroffen sind. Zeile (7)–(9): Die Investitionsquote hält den Nenner konstant. Eine Anpassung des Nenners nach dem Urteil gemäß Plandaten Februar 2024 würde die Reduktion der Investitionsquote noch verschärfen (siehe Diskussion im Text).
Wir beschreiben zunächst die Ergebnisse unserer Berechnungen in Zeilen (5) bis (9) von Tabelle 1. Das Urteil hat nur einen moderaten negativen Effekt auf die Investitionen im Bundeshaushalt, die um 1,2 Mrd. Euro gefallen sind, wenn man die oben genannten Sondereffekte herausrechnet. Ein deutlich stärkerer Rückgang findet sich im KTF in Höhe von 6,8 Mrd. Euro, sodass sich eine Gesamtreduktion von 8,0 Mrd. Euro ergibt. Setzt man diese Zahlen in Bezug auf die Einsparungserfordernisse, die die Bundesregierung im Dezember 2023 als Reaktion auf das Urteil bekanntgab, so beträgt die Investitionsreduktion nur 7,1 % im Haushalt, aber über 50 % im KTF. Konsolidiert man KTF und Bundeshaushalt ergibt sich ein Beitrag von über 25 %. Mit anderen Worten, ein wesentlicher Teil der Einsparung traf die Investitionen, vor allem im KTF. Dieses empirische Resultat deckt sich mit der theoretischen Analyse aus Janeba (2025) sowie Hack und Janeba (2025), die vorhersagt, dass bei Existenz eines Gegenwartsbias im politischen Budgetprozess eine Erhöhung des Einsparungsbedarfs stets zu weniger konsumtiven, aber auch zu weniger investiven Staatsausgaben führt.6
Zeilen (7) bis (9) in Tabelle 1 zeigen, dass die Investitionsquote durch das Urteil reduziert wird. Im Haushalt beträgt diese Reduktion nur 0,3, im KTF jedoch 11,8 Prozentpunkte.7 Konsolidiert ergibt sich eine Reduktion um 1,6 Prozentpunkte. Dieser Wert liegt näher an der Reduktion im Haushalt, da das Gesamtvolumen des KTF nur etwa 13 % des Bundeshaushalts entspricht. Abschließend nutzen wir die dargelegten Zahlen aus Tabelle 1, um eine Elastizität der Investitionen bezüglich des Einsparungsbedarfs zu berechnen. Die Prozentänderung der Investitionen (Haushalt und KTF) beträgt 8/90,9 x 100 = 8,8 %, während der prozentuale Einsparungsbedarf im Gesamthaushalt 29,7/500,9 x 100 = 5,9 % beträgt. Die Elastizität errechnet sich dann als 8,8/5,9 = 1,5. Ein Einsparungsbedarf von 1 % sorgt also für eine Reduktion der Investitionen um 1,5 %.
Soll- vs. Ist-Daten
Unsere Analyse basiert auf Planungsdaten, die mitunter stark von den realisierten Werten abweichen können. Findet sich die Anpassung der Investitionen nun auch in den Ist-Daten wieder? In Tabelle 2 zeigen wir, dass die Reduktion der Investitionen gemäß Plandaten auch in den Ist-Daten für 2024 sichtbar wird. Die Ist-Gesamtinvestitionen aus dem Bundeshaushalt und KTF fallen mit 74,5 Mrd. noch geringer aus als die geplanten Investitionen nach dem Urteil in Höhe von 82,9 Mrd. Das ist ein bemerkenswerter Rückgang, insbesondere weil in den Ist-Daten die Steuereinnahmen um 13,1 Mrd. höher ausgefallen sind als nach dem Urteil geplant. Auch die Konjunkturkomponente gemäß Ist-Daten erlaubt eine höhere Verschuldung als ursprünglich (nach dem Urteil) geplant. Aus der Konjunkturkomponente ergibt sich weiterer zusätzlicher fiskalischer Spielraum in Höhe von 12,7 Mrd., so dass der fiskalische Spielraum insgesamt um 25,8 Mrd. angestiegen ist.8 Dies legt nahe, dass die Reduktion der Planinvestitionen durch das Urteil sich plausiblerweise auch in den realisierten Investitionsausgaben widerspiegelt. Dennoch ist davon auszugehen, dass die realisierten Investitionen durch zahlreiche weitere Faktoren beeinflusst wurden.
Tabelle 2
Budgetplanung der Bundesregierung und Realisierungen für das Haushaltsjahr 2024
Quelle / Berechnung |
Erklärung | Betrag in Mrd. Euro |
|
---|---|---|---|
(1) | Plandaten vor BVerfG Urteil | Einnahmen ohne Kredite im Haushalt | 427,7 |
(2) | Konjunkturkomponente zur Berechnung der zulässigen NKA | 2,4 | |
(3) | Gesamtinvestition inkl. KTF | 90,9 | |
(4) | Plandaten nach BVerfG Urteil | Einnahmen ohne Kredite im Haushalt | 427,5 |
(5) | Konjunkturkomponente zur Berechnung der zulässigen NKA | 7,7 | |
(6) | Gesamtinvestition inkl. KTF | 82,9 | |
(7) | Ist-Daten nach BVerfG Urteil | Einnahmen ohne Kredite im Haushalt | 440,6 |
(8) | Konjunkturkomponente zur Berechnung der zulässigen NKA | 20,4 | |
(9) | Gesamtinvestition inkl. KTF | 74,5 |
Die Plandaten vor dem Urteil stammen aus Tabelle 1 und Deutscher Bundestag 2023. Die Plandaten nach dem Urteil entnehmen wir aus Tabelle 1 und dem BMF (2024a). Die Ist-Daten entstammen dem BMF (2025) (Gesamtinvestition bestehend aus 56,7 Mrd. im Kernhaushalt und 17,8 Mrd. im KTF).
Aus unseren Berechnungen ziehen wir die folgenden Schlussfolgerungen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sind die Investitionen in Plan- und Ist-Daten stark gefallen. Eine Fokussierung auf eine „Ausgabenpriorisierung von Zukunftsinvestitionen“ (BMF, 2024b) durch eine striktere Auslegung der Schuldenbremse lässt sich anhand unserer empirischen Untersuchung nicht belegen.
Interpretation der Fallstudie
Wir gehen zunächst darauf ein, unter welchen Annahmen der Urteilsspruch als ursächlich für die Änderung der Investitionen einzustufen ist. Danach diskutieren wir, inwiefern unsere Ergebnisse auch Aussagekraft für die kausalen Effekte von Fiskalregeln wie der Schuldenbremse haben.
Damit das BVerfG-Urteil als ursächlich für die Reduktion der Planinvestitionen gesehen werden kann, sind drei Schlüsselannahmen erforderlich. Erstens muss der erforderliche Einsparungsbedarf (Zeile (4) in Tabelle 1) allein durch das BVerfG-Urteil begründet sein. Diese Annahme ist vertretbar, da die Bundesregierung den kausalen Bezug zum Urteil explizit in der Pressemitteilung aufgreift: „Zu Beginn der Beratungen über die Folgen des Urteils auf den Bundeshaushalt 2024 bestand […] ein Anpassungsbedarf für den Bundeshaushalt und für den Wirtschaftsplan des Klima- und Transformationsfonds von fast 30 Milliarden Euro.“ (Bundesregierung, 2023a).
Die zweite Annahme verlangt, dass die Änderung der Investitionsplanung zwischen August 2023 und Februar 2024 ausschließlich auf das Urteil des BVerfG zurückzuführen ist. Wir argumentieren, dass diese Annahme vertretbar ist, da das Urteil für den Großteil der Planungsänderung ursächlich sein dürfte. Das relativ große Zeitfenster zwischen August und Februar lässt sich damit erklären, dass die Nachverhandlungen der Koalitionspartner viel Zeit in Anspruch genommen haben. Nichtsdestotrotz gibt es im selben Zeitfenster zwei relevante Faktoren, die den fiskalischen Spielraum beeinflusst haben. Zum einen erlaubt die Konjunkturkomponente, die in die Berechnung der zulässigen Nettokreditaufnahme nach Art. 115 GG einfließt, im Februar 2024 eine höhere Verschuldung (siehe Tabelle 2). Zum anderen könnten sich die geplanten Einnahmen des Bundes ohne Kredite für 2024 zwischen den beiden Daten verändert haben. Aus Tabelle 2 wird aber ersichtlich, dass die Einnahmenänderung nur 0,2 Mrd. Euro beträgt und deshalb als vernachlässigbar anzusehen ist. Zusammen sorgen die beiden Faktoren für mehr fiskalischen Spielraum und es ist möglich, dass die Investitionen weniger stark reduziert werden mussten, weil der effektive Einsparungsbedarf gesunken ist. Entsprechend ist die von uns festgestellte Reduktion der Investitionen als konservativ zu betrachten: Bei unverändertem fiskalischem Spielraum wären die Investition möglicherweise noch stärker gesunken.
Die dritte Schlüsselannahme verlangt, dass das Urteil von der Bundesregierung nicht antizipiert wurde und die Planungen vom August unter der Überzeugung stattfanden, dass diese rechtskonform sind. Wir halten diese Annahme für plausibel. Hätten die Beteiligten, insbesondere die FDP, dies nicht für wahrscheinlich gehalten, dann hätten sie dem Kompromiss vermutlich nicht zugestimmt.9
Wir schätzen alle drei diskutierten Schlüsselannahmen als plausibel ein. Deshalb schlussfolgern wir, dass unsere Fallstudie unter vertretbaren Annahmen den kausalen Effekt des zusätzlichen Konsolidierungsbedarfs auf die öffentlichen Investitionen misst. Da das BVerfG explizit über die Auslegung der Schuldenbremse entschieden hat, stellt sich die Frage, ob unsere Analyse auch als kausaler Effekt einer Schuldenbremsenverschärfung interpretiert werden kann. Eine solche Interpretation erfordert, dass die geplanten Investitionen nach dem Urteil (Zeile 3 aus Tabelle 1) den kontrafaktischen Planinvestitionen im August entsprechen, wenn die Bundesregierung bereits im August 2023 von der Rechtsauslegung des BVerfG gemäß dem Urteil vom 15. November 2023 ausgegangen wäre. Dagegen spricht gegebenenfalls, dass die Planungsänderungen nach dem Urteil unter erheblichem Zeitdruck standen. Gleichzeitig haben sich die Koalitionspartner knapp drei Monate zeitgelassen, bis der überarbeitete Haushaltsentwurf zur Abstimmung im Bundestag kam. Deshalb halten wir es für plausibel, dass die Planinvestitionen nach dem Urteil das relevante kontrafaktische Szenario zufriedenstellend abbilden. Gleichzeitig sehen wir keinen überzeugenden Grund, warum ein ex-ante Antizipieren der Rechtsauslegung des Gerichts zu einer anderen Investitionsplanung führen sollte als ein ex-post Adjustieren der Planung.
Diskussion
Wir vergleichen unsere Ergebnisse mit der einschlägigen Literatur zur Wirkung von Fiskalregeln und arbeiten den Mehrwert unserer Fallstudie heraus.
Eine Vielzahl an empirischen Untersuchungen belegen, dass Fiskalregeln Haushaltsdefizite und Verschuldung reduzieren. Eine gute Übersicht der Literatur bietet Potrafke (2025) und Heinemann et al. (2018) liefert eine korrespondierende Metastudie. Geht man davon aus, dass der politische Prozess einem Gegenwartsbias unterliegt und daher der staatliche Konsum in der laufenden Periode durch Verschuldung im Vergleich zu einer Welt ohne Gegenwartsbias erhöht wird, dann beinhaltet die Rückführung der Verschuldung einen positiven Wohlfahrtseffekt einer besseren intertemporalen Allokation. Die empirische Literatur liefert somit indirekt Evidenz dafür, dass Fiskalregeln ceteris paribus die Wohlfahrt erhöhen.
Allerdings geht eine Einschränkung des finanziellen Spielraums durch Fiskalregeln aus theoretischer Perspektive auch mit verringerten öffentlichen Investitionen einher (Hack & Janeba, 2025): Politiker, die konsumtive Staatsausgaben als Wahlgeschenke mit übermäßigen Schulden finanzieren, neigen auch dazu, Wahlgeschenke gegenüber Zukunftsinvestitionen zu priorisieren. Dieser Effekt wirkt für sich wohlfahrtsmindernd. Der Gesamteffekt einer Fiskalregel, der sich aus dem positiven und negativen Effekt ergibt, ist daher uneindeutig.
Die Anzahl der empirischen Studien, welche die Effekte von Fiskalregeln auf öffentliche Investitionen messen, ist deutlich geringer als die oben diskutierte Literatur zu Fiskalregeln im Allgemeinen. Eine Zusammenfassung der Literatur zeigt, dass empirisch kein klarer Zusammenhang zwischen Fiskalregeln und Investitionen besteht (Blesse et al., 2023). Somit liefert die empirische Literatur keine Evidenz, die es erlaubt einen negativen Effekt auszuschließen.
Die in Blesse et al. (2023) untersuchten Studien verwenden dabei meist moderne statistische Verfahren, um kausale Effekte zu isolieren. Allerdings bleibt unklar, inwiefern diese Untersuchungen auf den deutschen Kontext übertragbar sind, da die Studien auf Daten aus Italien, Schweiz und Kolumbien oder auf einem Querschnitt an Nationalstaaten („cross-country panel“) basieren.10 Beiträge zur deutschen Schuldenbremse beschränken sich auf deskriptive Analysen (z. B. Wirtschaftsdienst, 2019) oder Befragungen (z. B. Blesse et al., 2021) oder Korrelationen auf Bundesländerebene (Wissenschaftlicher Beirat beim BMWE, 2020). Unsere Fallstudie stellt deshalb eine wichtige Ergänzung der Literatur dar. Wir präsentieren Evidenz aus dem deutschen Kontext, die unter plausiblen Annahmen als kausal interpretiert werden kann. Dem gegenüber steht der Nachteil, dass wir eine Fallstudie präsentieren und somit eine einzige Beobachtung auswerten.11 Deshalb erachten wir unsere Arbeit als komplementär zur existierenden Literatur.
- 1 Das Urteil betraf Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Mrd. Euro, die als Reaktion auf die Coronapandemie im Jahr 2021 vorgesehen waren, aber dann in einem späteren Haushaltsjahr für andere Zwecke verausgabt werden sollten.
- 2 Dieser Vergleich zeigt, dass sich das Urteil nicht nur in den Planungen niedergeschlagen hat, sondern dass auch ein Effekt auf die tatsächlich realisierten Investitionen zu erwarten ist. Gleichwohl gibt es zahlreiche weitere Einflussfaktoren, welche die realisierten Investitionen beeinflusst haben könnten.
- 3 Gesamtausgaben im KTF in der Finanzplanung von 2023 werden ohne die Rubrik „Besondere Finanzierungsausgaben“ berechnet, die vor allem der Rücklagenbildung dienen.
- 4 In einer zweiten Presseerklärung (Bundesregierung, 2023b) werden Anpassungen im KTF als Folge des Urteils näher beschrieben. Der Einsparungsbetrag für 2024 wird mit „über 12 Mrd. Euro“ ausgewiesen und korrespondiert mit dem Wert in Tabelle 1.
- 5 Die Pressemitteilung listet Einsparungen in verschiedenen Ausgabenbereichen auf, die sich aber nicht eindeutig den Investitionen zuordnen lassen. Nimmt man an, dass die in der Pressemitteilung genannten Ausgabenkürzungen im Bereich Digitales und Verkehr (380 Mio.), Regionalisierungsmittel für den Ausbau des ÖPNV durch die Länder (350 Mio.) und Bildung und Forschung (200 Mio.) Investitionscharakter haben (und plausiblerweise nur diese), summieren sich diese auf 930 Mio. Euro. Diese Summe deckt sich näherungsweise mit der in Zeile (5) von Tabelle 1 ermittelten Zahl im Haushalt von 1,2 Mrd. Euro.
- 6 Die einzige Schlüsselannahme für dieses Resultat ist, dass die Bürgerinnen und Bürger strikt konkaven Nutzen aus der Bereitstellung öffentlicher Konsum- und Investitionsgüter erhalten. In einem solchen Rahmen ist es für den Staat stets optimal, die benötigten Ausgabenkürzungen über alle Ausgabenarten (Konsum und Investitionen) zu verteilen.
- 7 Bei der Berechnung der Investitionsquote halten wir den Nenner, die Gesamtausgaben, konstant und verwenden den Wert gemäß Planung August 2023. Aufgrund von erhöhtem (erwartetem) Steueraufkommen und höherer zulässiger Verschuldung gemäß der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse liegen die Planausgaben im Februar 2024 sogar noch höher. Somit ist unser Ansatz konservativ, da wir die Investitionsquote nach dem Urteil überschätzen.
- 8 Abschlussdaten für den KTF im Jahr 2024 liegen uns aktuell noch nicht vor. Eine Abschätzung der Entwicklung der KTF-Einnahmen lässt sich jedoch durch einen Vergleich der Verwaltungseinnahmen von Februar 2024 und August 2024 (basierend auf der Haushaltplanung für 2025, siehe Deutscher Bundestag, 2024) herstellen. Die Verwaltungseinnahmen umfassen vor allem die Einnahmen aus der CO2 Bepreisung und dem Emissionshandel und sind praktisch konstant (19,1 Mrd. Euro im Februar vs. 18,8 Mrd. im August 2024).
- 9 Nach dem Urteil gab es vermehrt Stimmen, dass das Urteil absehbar war. Dies entkräftet aber nicht unser Argument, da solche ex-post Aussagen keine Information über die ex-ante Einschätzung der Bundesregierung liefern.
- 10 Die Metastudie von Blesse et al. (2023) untersucht 20 Studien zu Fiskalregeln. Davon verwenden 9 Studien regionale Variation in Italien und jeweils eine Studie regionale Variation aus der Schweiz und aus Kolumbien. Die übrigen Studien nutzen Paneldaten auf Nationalstaatenebene.
- 11 Entsprechend können wir die Schätzunsicherheit im Rahmen unserer Fallstudie nicht quantifizieren. Zukünftige Forschung könnte die Auswirkung des BVerfG-Urteils beispielsweise auf Länderebene auswerten und damit auch die Schätzunsicherheit messen.
Literatur
Blesse, S., Heinemann, F., Janeba, E. & Nover, J. (2021). Die Zukunft der Schuldenbremse nach der Pandemie: Einsichten aus einer Befragung aller 16 Landesparlamente. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 70(1), 81–97.
Blesse, S., Dorn, F. & Lay, M. (2023). Do fiscal rules undermine public investments? A review of empirical evidence. ifo Working Paper, Nr. 393.
BMF – Bundesministerium der Finanzen. (2024a, Februar). Sollbericht 2024: Ausgaben und Einnahmen des Bundeshaushalts. Monatsbericht.
BMF – Bundesministerium der Finanzen. (2024b, April). Schuldenbremse - Mythos und Realität. Monatsbericht.
BMF – Bundesministerium der Finanzen. (2025, Januar). Vorläufiger Abschluss des Bundeshaushalts 2024. Monatsbericht.
Bundesregierung. (2023a, 19. Dezember). Zum Haushalt 2024 [Pressemitteilung 280].
Bundesregierung. (2023b, 21. Dezember). Der Klima- und Transformationsfonds 2024: Entlastung schaffen, Zukunftsinvestitionen sichern, Transformation gestalten.
Bundesverfassungsgericht. (2023, 15. November). Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ist nichtig [Pressemitteilung Nr. 101/2023].
Deutscher Bundestag. (2023). Drucksache 20/7800.
Deutscher Bundestag. (2024). Drucksache 20/12400.
Hack, L. & Janeba, E. (2025). Ist die Schuldenbremse eine Investitionsbremse? Perspektiven der Wirtschaftspolitik (vorbehaltlich angenommen).
Heinemann, F., Moessinger, M. D. & Yeter, M. (2018). Do fiscal rules constrain fiscal policy? A meta-regression-analysis. European Journal of Political Economy, 51, 69–92.
Janeba, E. (2025). The effect of fiscal rules on public investment: Theory and Application to the German Debt Brake. Mimeo.
Petroulakis, F. & Saidi, F. (2025). In Merz We Truss: Financial Market Reaction to Germany’s Fiscal Package. Kiel Policy Brief, Nr. 185.
Potrafke, N. (2025). The economic consequences of fiscal rules. Journal of International Money and Finance, 153, 103286.
SVR Wirtschaft – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2024). Versäumnisse angehen, entschlossen modernisieren. Jahresgutachten 2024-25.
Wirtschaftsdienst. (2019). Zeitgespräch: Schuldenbremse – Investitionshemmnis oder Vorbild für Europa? Wirtschaftsdienst, 99(5), 307–329.
Wissenschaftlicher Beirat beim BMWE – Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. (2020). Öffentliche Infrastruktur in Deutschland: Probleme und Reformbedarf.