Die Meldung, dass die durchschnittlichen Arbeitszeiten der Beschäftigten in Deutschland zu den kürzesten aller Industrieländer zählen, hat keinen besonderen Neuigkeitswert (Schäfer, 2025). Seit Jahren informieren Daten von OECD und Eurostat über diese Tatsache. Wenn sie dennoch aktuell eine hohe Aufmerksamkeit findet und heftige öffentliche Debatten auslöst, hat das zweifellos mit dem sich in den kommenden Jahren weiter verknappenden Angebot an Arbeitskräften zu tun. Zudem ist die Problematisierung der als zu kurz angesehenen Arbeitszeit als Versuch anzusehen, die jüngst aufgekommene Diskussion über die Viertagewoche abzublocken. Welche Erkenntnisse aber können globale Durchschnittswerte liefern, und inwieweit taugen sie als informative Entscheidungsgrundlage für geeignete politische Maßnahmen, um mögliche Knappheiten an Arbeitskraft zu lindern? Der Blick auf den Durchschnittswert aller abhängig Beschäftigten verdeckt, wo relativ einfach zu mobilisierende Zeit- und Arbeitspotenziale liegen, wo außerdem längere Arbeitszeiten unerfüllte Wünsche von Beschäftigten einlösen und zu Wohlfahrtsgewinnen führen können.
Entscheidend ist, die Arbeitszeiten von Voll- und von Teilzeitbeschäftigten separat zu betrachten. Beschäftigte der ersten Gruppe arbeiteten 2024 in Deutschland trotz partieller 35-Stundenwoche durchschnittlich 40,2 Stunden pro Woche und damit fast genauso viel wie im EU-Durchschnitt (40,3 Stunden) (Eurostat, 2025). Nur unwesentlich kürzer als der EU-Durchschnitt (22,5 Stunden) arbeiteten 2023 die Teilzeitbeschäftigten mit durchschnittlich 22,1 Stunden pro Woche. Wenn die Arbeitszeiten dieser beiden Beschäftigtengruppen nah an den europäischen Durchschnittswerten liegen, wie aber sind dann die im internationalen Vergleich sehr niedrigen Durchschnittswerte aller Beschäftigten zu erklären? Zwei Faktoren sind ausschlaggebend: Zum einen ist es die überdurchschnittlich hohe Teilzeitquote von Frauen. Mit knapp 50 % wird sie in Europa lediglich in den Niederlanden und der Schweiz übertroffen und liegt in etwa gleichauf mit der Quote in Österreich. Zum anderen kommt die in Deutschland ebenfalls überdurchschnittlich hohe Frauenerwerbstätigkeit hinzu (Frauenerwerbsquote: 74,1 % gegenüber dem EU-Durchschnitt von 66,3 %). Diese beiden Faktoren drücken den Wert der durchschnittlichen Arbeitszeit.
Die Gründe, warum Frauen in hohem Maße in Teilzeit arbeiten, sind immer wieder hinreichend problematisiert worden. Gleichwohl stehen nach wie vor gravierende Hürden längeren Arbeitszeiten im Wege. Erfreulich ist lediglich, dass der Anteil der Frauen, die keine Vollzeitstelle finden können, innerhalb der letzten 10 Jahre von knapp 15 % auf gut 5 % gesunken ist. Nach wie vor aber hält das Defizit an Ganztagsbetreuungsplätzen für Kinder Frauen davon ab, länger zu arbeiten. Bei Müttern mit Kindern bis zu drei Jahren liegt die Teilzeitquote bei knapp 73 %. Im Ausbau von Ganztagsbetreuung liegt ein wirksamer Ansatz, um das Arbeitsangebot zu steigern und zugleich den Wünschen vieler Teilzeitbeschäftigter zu entsprechen und damit deren Karriere- und Einkommensperspektiven zu verbessern.
Die neue Bundesregierung will Teil- und auch Vollzeitbeschäftigte durch finanzielle Anreize bewegen, ihre Stundenzahlen aufzustocken. Im Koalitionsvertrag von 2025 ist vereinbart, Zuschläge für Mehrarbeit, die über die tariflich vereinbarte Vollzeitarbeit hinausgeht, steuerfrei zu stellen – ein fataler familien- und gesellschaftspolitischer Rückschritt. Mit diesem Vorhaben ebnet die Bundesregierung den Weg zurück zum Familienernährermodell. Denn vorrangig sind es Männer, die Überstunden leisten. Aufgrund ihrer durchschnittlich höheren Stundenlöhne dürften innerfamiliäre Entscheidungen das asymmetrische Zeitmuster bestätigen oder sogar noch verstärken. Je mehr Stunden ein Partner im Familienverbund Vollzeit arbeitet, desto größer ist der Druck auf den anderen Partner, und das ist in aller Regel die erwerbstätige Frau, die Erwerbsarbeit zu begrenzen oder gar zu reduzieren.
Auch für längere Teilzeitarbeit bietet die neue Bundesregierung Anreize. Steuerlich begünstigt sie Arbeitgeber, die eine Prämie zur Ausweitung der Arbeitszeit zahlen. Sinnvoll erscheint es, die finanziellen Anreize auch auf Minijobber:innen auszudehnen. Immerhin streben etwa 40 % dieser Beschäftigten ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit längeren Arbeitszeiten an (Schäfer, 2023), ein nicht geringes zusätzliches Arbeitspotenzial. Der Ball liegt im Feld der Arbeitgeber.
Literatur
Schäfer, H. (2023). Arbeitspotenziale bei geringfügig Beschäftigten. IW-Kurzbericht, 60/2023.
Schäfer, H. (2025, 18. Mai). Arbeitszeiten: Griechen arbeiten 135 Stunden im Jahr mehr als Deutsche. IW-Nachricht.