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Die bedauerliche Isolierung, der Deutschland verfallen, ist zu einem guten Teil den Methoden seiner Handelspolitik zuzuschreiben.

Das isolierte Preußen hatte durch eine freiheitliche Handelspolitik nach 1815 sich Freunde zu erwerben gewußt. Der Tarif von 1818 hat in zwei schweren Krisen nach 1848 und in den 60er Jahren ihm den Vorsprung vor Österreich verschafft. Das Deutsche Reich, das anfangs diese Politik fortsetzte, schlug 1878 den entgegengesetzten Weg ein. Jetzt schien es darauf anzukommen, die gewonnene Machtstellung zu wirtschaftlichen Vorteilen auszunutzen. Vergebens warnte ein Treitschke, der die Vergiftung der Politik durch wirtschaftliche Rücksichten voraussah, vor diesem Wege. Dadurch, daß jetzt, von der Regierung begünstigt, alle nationale Energie in das Wirtschaftsleben strömte, gewann die deutsche Gesellschaft unter dem Kaiserreich eine verhängnisvolle Ähnlichkeit mit der französischen unter dem zweiten Kaiserreich.

In den 80er Jahren kam Deutschland das Bestehen von Tarifverträgen zugute, an denen es durch die Meistbegünstigung teilhaben konnte, ohne seinerseits seinen Tarif zu binden. Am Ende dieser Epoche zeigte sich aber die Kehrseite dieser einseitigen Ausnutzung einer Lage, die nur kurze Zeit aufrechterhalten werden konnte, auf die Dauer aber umso stärkere Widerstände aufrief. Die Schutzzollpolitik Frankreichs und der Vereinigten Staaten, deren kräftiges Einsetzen den Beginn der 90er Jahre kennzeichnet, war gewiß nicht nur durch die deutsche Politik bestimmt; immerhin hatte Deutschland den Weg gewiesen. Deutschlands Lage, durch seine geographische Stellung und die Entwicklung seiner Wirtschaft bestimmt, hinderte es jetzt, den genannten Staaten zu folgen. Es gelang Caprivi, Deutschland zum Mittelpunkt eines mittel- und osteuropäischen, durch gegenseitige Handelsverträge verbundenen Gebietes zu machen. Damals stand die Aufhebung der Getreidezölle in Frage. Caprivi erhielt sie aufrecht unter ihrer Herabsetzung.

Mit dem Tarif von 1902 gefährdete Deutschland diese handelspolitische Stellung. Es wurde dabei zwar das Interesse an langfristigen Handelsverträgen betont. Durch die Heraufsetzung der Tarife und ihre Bindung in den Sätzen für Getreide erschwerte aber Deutschland eine günstige Lösung auf dem Fuße der Gleichberechtigung. Den Schweizern, die den Zustand der 90er Jahre, wie viele der kleineren, Deutschland umgebenden Staaten, die für seine Handelsbilanz so wichtig waren, gern fortgeführt gesehen hätten, wurde zur Antwort: sie möchten ruhig erst ihre Tarife erhöhen, nachher könne man dann ja gegenseitig abhandeln.

Ein außerordentlicher Glücksfall kam Deutschland in dieser Lage zugute. Rußlands Druck wurde durch die japanische Verwicklung aufgehoben. Solch ein Moment muß dauernd die Beziehungen der Völker entscheiden. Bei uns wurde er nur benutzt, eine innere Schwierigkeit zu beseitigen. Rußland war auf uns angewiesen. Mit ihm, nicht mit dem befreundeten Österreich, gelang der erste Handelsvertrag. Gewiß war das für den Augenblick ein Erfolg. Es hätte sich aber nicht nur, wenn Deutschland seine Agrarzölle ermäßigt hätte, mehr erreichen lassen, z. B. für die deutsche Maschinenindustrie; vor allem aber blieb bei den Russen ein Stachel, bei dieser Gelegenheit ausgebeutet zu sein. Und dieses Gefühl hat, wie mir von russischer Seite vielfach bestätigt wurde, zur Kriegsstimmung gegen Deutschland nicht wenig beigetragen. Es ist doch nicht so, daß nur ein Mann, wie Iswolski, den Kurs eines Reiches auf eigene Hand bestimmen könnte; er muß für seine Politik Resonanz finden, und er fand sie auf Grund der russischen Mißstimmung über den Handelsvertrag mit Deutschland.

Die deutschen Reichsfinanzen waren vor dem Kriege vor allem auf dem Getreidezoll aufgebaut. Einem Manne wie Buchenberger, der die badischen Finanzen systematisch und mit so gutem Erfolge geordnet hatte, konnte unter solchen Umständen das Reichsschatzamt nicht begehrenswert erscheinen. In der Kriegsnot war das Erste, zu dem man schreiten mußte, war die Aufhebung der Getreidezölle. Unter dem famosen System der Einfuhrscheine waren noch im Juli 1914 große Mengen Getreide aus Deutschland exportiert worden. Jetzt galt es, unter allen Umständen das Land zu verproviantieren. Dabei hatte das Getreide aus einem Artikel, der dem Reiche etwas einbrachte, sich in einen verwandelt, der ihm viel kostete. Und dabei blieb es unter den Ernährungsschwierigkeiten der Nachkriegszeit.

Nur der steigende Wohlstand Deutschlands gestattete es ihm, die Getreidezölle zu ertragen. Untersuchungen über die Lebenshaltung haben gezeigt, daß der deutsche Arbeiter, um die gleiche Leistungsfähigkeit wie der englische zu erlangen, verhältnismäßig höhere Löhne brauchte. Die Industrie war gezwungen, unter harten Lohnkämpfen diese Lohnerhöhungen zu bewilligen. Während die Periode der Prosperität, die in England nach den 40er Jahren unter dem Freihandel einsetzte, zu einer Milderung der sozialen Gegensätze führte, verschärften sich diese unter dem Druck der Getreidezölle in Deutschland gerade in der Zeit der wirtschaftlichen Hochblüte im neuen Jahrhundert.

Diese Bemerkungen sollten nur andeuten, daß die deutsche Handelspolitik vor dem Kriege keineswegs einwandfrei war. Sie hing zusammen mit der ungenügenden Ordnung der Reichsfinanzen. Statt einer gerecht verteilten Steuer, die allerdings ohne Einfluß der Besteuerten auf ihre Verwendung nicht durchzuführen war, suchte man durch Sonderbegünstigung von Interessenten die nötigen Mittel zusammenzubekommen. Eine Reihe von besonders glücklichen Umständen kamen der deutschen Regierung in den 80er Jahren und in dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zugute. Unter dem Tarif von 1902 verschärften sich aber die Gegensätze. Er trug nicht unwesentlich zur Erschwerung der internationalen Lage bei.

In Versailles wurde Deutschland erst für 1925 die Freiheit, seine Handelspolitik zu regeln, wiedergegeben. Diese Aufgabe trifft uns unter durchaus veränderten Verhältnissen. Nichts kann törichter sein, als zu glauben, wir könnten einfach da wieder einsetzen, wo wir im August 1914 aufgehört haben; sondern es gilt, der vollständig veränderten Lage entgegenzukommen, sie nicht einfach wie ein Schicksal über uns ergehen zu lassen, sondern zu versuchen, mit schöpferischen Gedanken neue Grundlagen zu legen.

Die Absperrungen des Krieges haben nicht nur die Länder, sondern sogar die Landesteile in selbständige Wirtschaftsteile zerlegt. Niemand hat unter diesen Zuständen schwerer gelitten als Deutschland, dem es selbst unter dem günstigsten Stand der Kriegskarte, bei den Plänen eines seinen Einfluß über Vorderasien erstreckenden Mitteleuropa, nicht möglich war, seiner Bevölkerung eine ausreichende Ernährung zu sichern. Das beschnittene Deutschland sieht sich, ganz anders noch als früher, auf die Zufuhr von Nahrungsmitteln und Rohstoffen angewiesen.

Die Frage der Ernährungsmöglichkeit Deutschlands aus eigenen Mitteln wurde vor dem Kriege in Deutschland anläßlich der Handelsverträge eingehend erörtert. Diese Daten wurden auch auf der anderen Seite eifrig verfolgt. Aus ihnen schöpfte man die Hoffnung einer Niederringung Deutschlands. In einem Aufsatz von 1913 führte Tardieu aus, im nächsten Krieg würden die Deutschen wahrscheinlich zuerst siegen. Das sollte man ruhig ertragen. Es gälte für Frankreich nur, standzuhalten. Denn auf die Dauer würden die Versorgungsschwierigkeiten Deutschland schwächen. Dabei war allerdings damit gerechnet, daß auch die Fleischzufuhr aus Dänemark gesperrt sein würde.

In Deutschland hat man bei dieser Frage zu sehr auf die Getreideversorgung abgestellt und dabei zu wenig der Futtermittel gedacht, an denen uns für eine Milliarde Einfuhr bei Kriegsausbruch abgeschnitten wurde.

Durch die Abtretung der östlichen Überschußgebiete ist Deutschland auf die Notwendigkeit der Nahrungsmittelzufuhr in ganz anderem Maße als früher angewiesen. Das Verbraucherinteresse muß hier dem der Produzenten vorgehen.

Gewiß befindet sich nach für sie günstiger Lage die Landwirtschaft heute in schwerer Bedrängnis. Aber kann der Zoll hierfür helfen? War sie nicht genötigt, sogar unter dem Weltmarktpreis zu verkaufen? Dies zeigt, daß das Übel anderswo sitzt und mit anderen Mitteln geheilt werden muß. Der Steuerdruck bringt den Landwirt zur Verzweiflung. Eine gerechte Verteilung muß hier einsetzen. Die Kreditnot ist durch den Zusammenbruch des Hypothekenwesens, das früher in Deutschland so vorbildlich geregelt war, herbeigeführt. Es rächt sich jetzt, daß Deutschland früher andere Formen des Kredits vernachlässigt hat. Der Mobiliarkredit würde eine Beleihung der Ernte unter Verpfändung von Lagerscheinen gestatten, bei der verlustreiche Verkäufe vermieden werden könnten. Durch solch eine Einrichtung wäre der Landwirtschaft mehr geholfen, als durch den bequemer scheinenden Zoll.

Der „lückenlose“ Zolltarif konnte nur dadurch zustande kommen, daß alle Interessenten auf höhere Preise zu gewinnen hofften, auch wenn sie selbst ihrerseits höhere Preise zahlen mußten. Die deutsche Industrie, die heute nur mit relativ niedrigen Löhnen die Konkurrenz aufrecht erhalten kann, muß sich fragen, ob sie noch weiter für Getreidezölle einstehen kann, die ihr die Produktionskosten erhöhen. Für sie selbst hat die Lage sich durchaus verschoben.

Vor dem Kriege war die schwere Industrie in Deutschland ausschlaggebend. Ihre Grundlagen sind in Lothringen und Schlesien abgetreten. Wir sahen die Konzerne nach der Fertigindustrie sich ausdehnen. Heute muß die deutsche Industrie, die die Lasten der Reparation in der Hauptsache herauszuwirtschaften hat, sich vor allem auf die Fertigfabrikate einstellen. In der Krise der Kartellpolitik zeigt sich diese Veränderung. Sie muß auch in der Handelspolitik zum Ausdruck kommen. Um fremde Zollmauern nicht übermächtig werden zu lassen, muß man die eigenen nicht überhöhen.

Die Freiheit, die Deutschland im Januar 1925 erringt, ist nur eine bedingte. Mit dem Merkantilismus Frankreichs hat es dauernd als dem zurzeit entscheidenden Machtfaktor zu rechnen.

Anders als Deutschland hat Frankreich seine Wirtschaft durchaus in den Dienst der Politik gestellt. Die französischen Ersparnisse wanderten nach dem Osten, damit in Rußland und Serbien Kanonen und Flinten gegen Deutschland gerichtet werden könnten. Der Erfolg dieser Politik führt dazu, weiter die Politik in den Dienst der Wirtschaft zu stellen. Es scheint, daß die Franzosen sich nicht stark genug fühlen, auf wirtschaftlichem Wege die gegenwärtige Lage auszunutzen. Das Comité des Forges möchte weiter politische Sicherungen. Dabei ist Frankreich an dem deutschen Markte doch auch stark interessiert. Es erstrebt einen Handelsvertrag, wie ihn Friedrich der Große Polen, Napoleon dem Rheinland aufzwang, so daß Deutschland die französischen Waren aufnehmen soll ohne Gegengewähr. Auf die Dauer muß dies zur Krise führen, wie 1811. Hier aber ist der Punkt, wo wir einsetzen können.

Der französischen Machtpolitik können wir nicht die gleichen Mittel entgegensetzen. Es ist vielleicht gut so, weil wir dadurch gezwungen sind, uns auf den eigentlichen Beruf des Staates zu besinnen. Nicht nur die Mächtigen haben etwas erreicht. Ihre Macht konnte sie zum Mißbrauch ihrer Macht, die anderen zur Angst vor dieser Macht und zum Widerstand gegen sie verleiten. Die Kleinen haben den Vorzug, daß ihre Diplomatie sich auf die Gleichberechtigung der Völker berufen kann. Gegen ihre Unterdrückung finden sie den Widerstand anderer. Dadurch wurde die Lage Belgiens trotz der Okkupation so stark. Wir sehen England und Amerika gegen eine einseitige Ausbeutung Deutschlands durch Frankreich sich erheben.

Vielleicht haben wir vor dem Kriege die Bedeutung internationaler Solidarität zu wenig gewürdigt. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir sie nach dem Kriege nicht finden. Wir sind aber, heute mehr als andere, berufen, diesen Gedanken zu vertreten, und müssen dem vor allem in unserer Handelspolitik Rechnung tragen.

Der prinzipielle Grundsatz freiheitlicher Gestaltung der internationalen Handelsverhältnisse muß bei uns feststehen. Mit ihm müssen wir, wie Preußen in der Zollvereinszeit, aufrücken. Das bedeutet nicht einen Verzicht auf die Mittel der Handelspolitik. Wurde doch der gemäßigte Tarif von 1818 von Deutschen wie von Polen noch als ein Einschnitt empfunden. Die prinzipiell freihändlerische Schweiz konnte mit ihrem Finanztarif in den 70er Jahren Bismarck zum Muster dienen und in den 90er Jahren einen erfolgreichen Zollkrieg gegen das mächtige Frankreich bestehen. Wir haben zu bedenken, daß es bei dem neuen Zolltarif nicht nur gilt, deutsche Interessen auszugleichen, sondern daß die Welt auf uns sieht, wir also trotz aller Schwierigkeiten etwas Grundlegendes liefern müssen.

Gewiß geht heute eine Welle nationaler Abschließung durch die Welt. Kein Wunder, daß dieser Gedanke auch bei uns Anklang findet. Wir können es uns aber nicht mehr leisten, das, was das Ausland bringt, unter einem schönen Schlagwort als nationale Forderung aufzustellen. Die Not der Stunde zwingt uns, selbständig zu verfahren. Der Drang unserer wirtschaftlichen Entwicklung weist uns auf den Freihandel hin, mit dem wir ein allgemein menschliches Ziel aufstellen können.

Es muß Aufgabe der Untersuchung sein, diesen Gedanken kritisch zu verfolgen bei der Betrachtung des Aufbaus der einzelnen deutschen Interessen sowie unseres Verhältnisses zu den einzelnen Ländern.

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