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In der Eurokrise werden Schuldnerstaaten in ein strenges Austeritätsprogramm gedrängt. Die Autoren des Beitrags zeigen, dass die Defizite des Staates nicht unabhängig von den Finanzierungssalden der übrigen Sektoren der Volkswirtschaft sinnvoll analysiert werden können. Das systematisch auf die Verschuldung des Auslands setzende deutsche Wirtschaftsmodell trägt deshalb die Hauptverantwortung für die Eurokrise. Nur ein Schumpeterianisches Verständnis der Funktion von Krediten hilft, mit dem Thema Schulden gesamtwirtschaftlich rational umzugehen und es nicht zur Demontage des Staates zu missbrauchen.

An allen Übeln der ökonomischen Welt sind letztlich die Schuldenmacher Schuld, so die weit verbreitete Meinung. Dagegen ist das Sparen die wichtigste Tugend, ob als Abfederung des demographischen Wandels oder gegen ökonomische Krisen schlechthin.1 Auch die Krise des Euro wird als Folge zu hoher Staatsschulden interpretiert.2 Überhaupt kommt nach dieser Auffassung die Kombination von Staat und Schulden einer Quadratur des Bösen gleich.

Entsprechend wird zur Behebung der Krisen und zur Vermeidung zukünftiger Fehlentwicklungen das Sparen zur Allzweckwaffe erklärt. Da man den Privaten das Sparen nicht vorschreiben kann, ist es fast immer die öffentliche Hand, die den Gürtel enger schnallen soll. Damit schlägt man eine zweite Fliege mit der gleichen Klappe: Indem man den Staat zwingt „sparsam“ zu wirtschaften, reduziert man seinen Einfluss generell. Denn das Credo, dass der Staat besser nicht auf höhere Steuern zurückgreifen sollte, um seine Finanzierungsprobleme zu lösen, wird inzwischen dank jahrzehntelanger angebotspolitischer Indoktrination in Wissenschaft3 und Medien und gezielter Lobbyistenarbeit4 kaum noch hinterfragt.

Das sicherste Mittel gegen private wie öffentliche Schuldenkrisen wäre es offenbar, wenn sich überhaupt niemand mehr verschuldete oder zumindest Kredit für private Investitionen nur dann gegeben würde, wenn er sich unmittelbar aus der Ersparnis der Privaten speiste. Der Staat sollte nach dieser Logik tendenziell weniger ausgeben, als er an Steuermitteln einnimmt, damit er beginnen kann, seine Schuldenberge abzutragen. Verhielten sich die Wirtschaftssubjekte in allen Ländern so, gäbe es auch keine nennenswerte Verschuldung der Staaten untereinander mehr, außer ein Land wollte per Saldo sparen und ein anderes wollte sozusagen parallel dazu mehr investieren.

Sparen gut, Verschulden schlecht?

Doch wie sieht der Mechanismus aus, der dafür sorgt, dass die einen Sparpläne haben und die anderen genau die Menge an erwünschter Ersparnis investieren? Zunächst muss man sich klarmachen, was Sparen bedeutet und ob Ersparnisse Voraussetzung für das Wachstum einer Wirtschaft sind. Weil unsere arbeitsteilige monetäre Marktwirtschaft keine primitive Tauschwirtschaft ist, in der es individuelle Absprachen zwischen Sparer und Investor geben mag, sondern ein System, in dem auf anonymen Märkten Papier- und Giralgeld genutzt werden, muss es Signale vom Sparer hin zum Investor geben, die für die Umwandlung des Sparkapitals in Investitionen sorgen.

Realwirtschaftlich betrachtet kann man nur sparen, indem man etwas produziert, das man nicht selbst verbraucht, und es jemand anderem gegen das Versprechen überlässt, der andere werde einem eines Tages Güter in gleichem Wert zurückgeben, normalerweise vermehrt um Zinsen. Man lebt unter seinen Verhältnissen, weil man weniger verbraucht, als man herstellt. Findet man niemanden, der über seinen Verhältnissen leben, also mehr verbrauchen will, als er selbst hergestellt hat, gibt es kein Sparen. Dann sinkt das Einkommen, das man mit seiner Produktion erzielen will, genau um den Teil gesunken, den man sparen will, weil man ihn nicht los wird. Die Ersparnis selbst ist null.

An diesem Zusammenhang ändert sich prinzipiell nichts, wenn der gleiche Vorgang von der monetären Seite betrachtet wird. Sparen äußert sich nun darin, dass man sein erzieltes Geldeinkommen nicht vollständig ausgibt, sondern einen Teil davon als Geldvermögen z.B. auf einem Bankkonto hält oder in Wertpapieren anlegt. Diese Ersparnisse können nur dann einen Zinsertrag erbringen, wenn sich andere Wirtschaftsakteure verschulden und mit dem geliehenen Geld etwas Produktives anfangen, so dass sie am Ende der Laufzeit des Kredits in der Lage sind, neben der Tilgung auch noch Zinsen zu zahlen. Gibt es diese Verschuldung nicht, bleibt das Geld also ungenutzt auf dem Bankkonto liegen, fehlt auf dem Gütermarkt Nachfrage in exakt der Höhe des gesparten Einkommens. Dann erzielen die Unternehmen insgesamt ein geringeres Einkommen. Zusätzliche Ersparnis ist nicht zustande gekommen. In der Summe über alle Wirtschaftssubjekte hinweg sind die Ersparnisse der Volkswirtschaft exakt gleich geblieben, obwohl der Wunsch mehr zu sparen vorhanden war.

Geldschulden und Geldersparnisse sind jederzeit genau gleich, weil das Geldvermögen des einen die Geldschulden des anderen sind.5 Das liegt daran, dass in der Welt insgesamt nur verbraucht werden kann, was produziert worden ist, egal wem die Produktion gehört und wer sie verbraucht. Verbraucht jeder wertmäßig das, was er produziert hat, d.h. leben alle entsprechend ihren Verhältnissen, entstehen weder Ersparnisse noch Schulden. Lebt jemand über seine Verhältnisse, verbraucht also mehr, als er produziert hat, verschuldet er sich und muss das Mehr an Gütern von den Sparern bekommen, denjenigen, die unter ihren Verhältnissen leben wollen, also weniger verbrauchen, als sie produziert haben.6 Umgekehrt gilt das Gleiche: Niemand kann weniger verbrauchen als produzieren, sprich: sparen, wenn kein anderer mehr verbraucht als produziert, d.h. sich verschuldet.7

Daraus folgt, Sparen ohne Verschulden ist unmöglich. Außerdem kann Sparen zu einer großen Belastung für die dynamische Entwicklung einer Volkswirtschaft8 werden, wenn der Sparversuch scheitert. Ist niemand bereit sich zu verschulden, sinkt das Einkommen in Höhe des Sparversuchs, weil auf Halde produziert wurde; die Ersparnis bleibt null. Der zu den herrschenden Preisen unverkäufliche Teil der Produktion signalisiert den Produzenten einen Mangel an Nachfrage. Darauf reagieren sie mit Einschränkung der Produktion, so dass die Kapazitätsauslastung zurückgeht, und möglicherweise mit Preissenkungen. Beides, geringere Auslastung wie niedrigere Preise, dämpfen die Investitionsneigung. Jeder Sparversuch setzt demnach potenziell eine Kettenreaktion in Gang, die zu sinkendem Einkommen führt, wenn nicht genügend starke Impulse von anderer Seite den sparbedingten Rückgang der Nachfrage ausgleichen. Dass solche Impulse nicht dauerhaft aus dem Ausland kommen können, ist eine der wichtigen Lehren aus der Eurokrise. Die Geldpolitik kann solche Impulse durch Zinssenkung geben, wenn sie das als ihre Aufgabe akzeptiert.

Gewinn, Sparen und Investitionen

Trotz ihrer negativen gesamtwirtschaftlichen Wirkung stehen Sparbemühungen in hohem Ansehen, signalisieren sie doch den aus einzelwirtschaftlicher Sicht rationalen, weil vorsorglichen und risikoscheuen Umgang mit Geld. Dem gesamtwirtschaftlichen Argument, Sparen vermindere die Nachfrage und wirke so zumindest außerhalb konjunktureller Boomphasen tendenziell destabilisierend, wird entgegnet, alles gesparte Geld fließe dem Kapitalmarkt zu und riefe auf diesem Wege Zinssenkungen hervor. Die wiederum glichen den sparbedingten Nachfrageausfall mindestens aus, so dass die Investitionsdynamik nicht leide: Konsum werde durch Sparen zurückgedrängt und via Investitionen in Fortschritt und zukünftige Konsummöglichkeiten transformiert. Hinzu komme die Beschäftigung schaffende Wirkung von Investitionen. Beides zusammen, Vorsorge für die Zukunft und Senkung der Arbeitslosigkeit, seien die Früchte des Sparens, auf die eine Volkswirtschaft nicht verzichten könne.

Diese Überlegungen verkennen den saldenmechanischen Zusammenhang von Gewinnen und Sparen vollkommen. Gewinne sind unmittelbar abhängig von der Sparentscheidung der privaten Haushalte, aber nicht im positiven, sondern im negativen Sinne: Steigende Ersparnis der privaten Haushalte bedeutet sofort sinkende Gewinne.

Diese Erkenntnis haben im Gefolge der Weltwirtschaftskrise mehrere Ökonomen nahezu gleichzeitig entwickelt. Einer davon war Wilhelm Lautenbach, ein Beamter des Reichswirtschaftsministeriums während der großen Krise 1929/30.9 Er hatte in großer Klarheit gesehen, dass die damals (und heute) herrschende Lehre einen entscheidenden logischen Defekt aufwies: Sie operierte zwar mit dem sogenannten Say’s Law, dem Satz also, wonach das Angebot die Nachfrage schafft, analysierte aber die Wirtschaft zugleich auf eine Weise, die unterstellte, dass Angebot und Nachfrage nicht nur für das einzelne Unternehmen und den einzelnen Haushalt unabhängig voneinander gegeben seien, sondern auch für die Gesamtwirtschaft. Das aber konnte nicht stimmen, folgerte Lautenbach, wenn richtig war, dass das Angebot die Nachfrage schafft.

Um seinen Punkt zu zeigen, teilte Lautenbach das gesamte Einkommen der Volkswirtschaft (auf der Angebotsseite sozusagen) in Unternehmer-Einkommen und Nichtunternehmer-Einkommen auf. Auf der Verwendungsseite besteht das gesamte Volkseinkommen (einer geschlossenen Volkswirtschaft oder der Welt insgesamt) aus Konsum und Investitionen. Zieht man auf beiden Seiten das Nichtunternehmer-Einkommen ab, bleibt auf der Angebotsseite das Unternehmer-Einkommen übrig. Auf der Verwendungsseite ergibt sich Folgendes: Man stelle sich das Nichtunternehmer-Einkommen als Summe des Konsums der Nichtunternehmer und ihrer Ersparnisse vor; dann fällt durch die genannte Subtraktion auf der Verwendungsseite der Teil des Konsums weg, den die Nicht-Unternehmer bezahlen, d.h. es bleibt nur der Konsum übrig, den die Unternehmer tätigen; außerdem bleibt die Ersparnis der Nichtunternehmer als Minusposten stehen. Die Investitionen sind von der Rechenoperation unberührt. Es gilt also saldenmechanisch stets folgender Zusammenhang: Das Einkommen der Unternehmer ist gleich dem Wert des Verbrauchs der Unternehmer und der Investitionen abzüglich der Ersparnis aller Nichtunternehmer.10 Das Einkommen der Unternehmer ist aber nichts anderes als ihr Gewinn. Das bedeutet, Gewinne und Ersparnisse stehen in einem eindeutig negativen Zusammenhang.

Die Nicht-Unternehmer kann man in die privaten Haushalte, den Staat und – für eine offene Volkswirtschaft – in das Ausland aufspalten. Jede zusätzliche Ersparnis der privaten Haushalte vermindert die Unternehmensgewinne sofort. Der Zins spielt keine Rolle, weil sich die Menge des auf den Finanzmärkten zur Verfügung stehenden Kapitals (das sind die Ersparnisse und die Gewinne) durch die Sparversuche nicht ändert. Denn was hier an Ersparnissen hinzukommt, fällt dort an Gewinnen weg.11 Der gleiche negative Zusammenhang zwischen Gewinnen und Sparen gilt natürlich auch für die anderen beiden Akteure: Versucht der Staat, seinen Haushalt zu konsolidieren bzw. seine Schulden abzubauen, sinken die Unternehmensgewinne; sie tun das ebenso, wenn das Ausland vermehrt spart, also steigende Leistungsbilanzüberschüsse respektive sinkende Leistungsbilanzdefizite realisiert. Sparen zu Investitionszwecken funktioniert also nicht, weil es die Gewinne senkt. Dieser Zusammenhang ist von überragender Bedeutung für die gesamtwirtschaftliche Analyse und wird doch viel zu oft sträflich vernachlässigt.

Die saldenmechanische Logik lehrt auch, dass sich Sparversuche innerhalb eines Sektors gesamtwirtschaftlich nicht auszahlen. Senkt etwa ein Unternehmen seine Kosten für Vorleistungen und erhöht so seine Gewinne, fallen Gewinne bei einem anderen Unternehmen in gleicher Höhe weg. Daher kann es nie eine Selbststabilisierung des Systems durch reine Kostensenkung geben. Kostensenkung als Folge investitionsbedingter Produktivitätssteigerung ist etwas anderes, weil sie Investitionen und damit Ausgaben (also das Gegenteil von Sparversuchen) voraussetzt. Zu Investitionen kommt es durch Sparanstrengungen aber gerade nicht.

Außerdem folgt aus der Lautenbachschen Logik, dass Steuersenkungen für die Unternehmen nicht den gewünschten Erfolg bringen, wenn sie durch Einsparungen im öffentlichen Haushalt gegenfinanziert werden. Alle Hoffnungen auf Effizienzgewinne durch private anstelle staatlicher Geldverwendung werden zunichte gemacht durch das Signal, das die Märkte zuerst konkret erreicht, nämlich der Rückgang der (öffentlichen) Nachfrage; noch bevor die steuerlichen Wohltaten ihre Wirkung auf die Gewinne entfalten können, sind diese schon gesunken.

Umgekehrt schlägt eine Verringerung der Ersparnis der Nichtunternehmer unmittelbar bei den Gewinnen positiv zu Buche. Das ist z.B. der Fall, wenn der Außenhandelssaldo steigt, also die Verschuldung des Auslands zunimmt. Die Frage ist allerdings, auf welche Weise die zusätzliche Verschuldung zustande kommt und wie nachhaltig sie ist. Verschuldet sich das Ausland etwa deshalb, weil es international an preislicher Wettbewerbsfähigkeit verloren hat, kann es dem Inland nicht auf Dauer ein Plus an Nachfrage bieten. Denn irgendwann kann es seine Schulden mangels Vertrauen der Gläubiger in seine Bonität nicht mehr erhöhen, sondern muss die Schulden stabilisieren und letztlich begleichen, also selbst Leistungsbilanzüberschüsse erzielen. Ist der Verlust an preislicher Wettbewerbsfähigkeit des Auslands obendrein einer Lohndumping-Strategie des Inlands geschuldet, geht der positive Impuls aus dem Ausland automatisch mit einem inländischen Nachfragedämpfer einher. Damit ist jedoch eine stabil hohe Auslastung der Kapazitäten, auf die eine prosperierende Angebotsseite auf längere Sicht angewiesen ist, nicht gewährleistet.

Wenn weder Sparanstrengungen noch Lohnmoderation helfen, was sorgt dann auf Dauer für eine stabile, gewinnträchtige Auslastung, die Investitionen und Wachstum stimuliert und die Beschäftigung erhöht? Zwei wichtige Bausteine sind nötig. Der eine ist eine Nachfrage, die mit den Produktivitätssteigerungen der Gesamtwirtschaft Schritt hält. Sie ist nur durch ein angemessenes Wachstum der Masseneinkommen erreichbar. Das heißt für die Lohnabschlüsse konkret, dass der nominale Stundenlohn im Durchschnitt der Volkswirtschaft um die durchschnittliche Steigerung der Stundenproduktivität plus die Zielinflationsrate der Zentralbank (bei uns 2%) wachsen muss. Eine solche produktivitätsorientierte Lohnpolitik – und nur sie – garantiert, dass dem Doppelcharakter der Löhne, einerseits für die Unternehmen Kosten, andererseits für die Beschäftigten nachfragewirksames Einkommen darzustellen, so Rechnung getragen wird, dass es weder zu inflationär wirkendem Nachfragewachstum kommt noch zu deflationär wirkender Unterauslastung.

Zum Durchsetzen einer solchen produktivitätsorientierten Lohnpolitik gehört die dringend notwendige Wiederbelebung des Flächentarifvertrags. Unternehmen, die in einem solchen Rahmen von außen vorgegebenen Löhnen unterliegen, sind gezwungen, sich auf ihre eigentlichen Stärken zu konzentrieren, also den Erfindungsreichtum für neue und bessere Produkte sowie die Erhöhung ihrer Produktivität. Das dient der Wirtschaft insgesamt. Kein Raum dagegen bleibt dann mehr für diejenigen, deren Hauptaugenmerk auf der Senkung der Lohnkosten durch zähes Verhandeln auf der Ebene des Einzelbetriebs, durch Öffnungsklauseln, durch optimierte Konstruktionen unter Einsatz von Zeitarbeitsfirmen oder dergleichen liegt. Der andere wichtige Baustein sind die Kredite für Investitionen.

Das deutsche Wirtschaftsmodell setzt systematisch auf Schuldner im Ausland

In den vergangenen Jahren hat sich das deutsche Wirtschaftsmodell fundamental verändert. Abbildung 1 zeigt die Finanzierungssalden (also das Sparen oder die Verschuldung) der einzelnen Sektoren in Deutschland in jedem Jahr seit 1960 in % des Bruttonationaleinkommens (BNE).12

Abbildung 1
Sektorale Finanzierungssalden1
Flassbeck Abb-1.ai

1 Nettoschuldenposition eines Wirtschaftssektors im Verhältnis zum Bruttonationaleinkommen (BNE). Gestrichelte Linien: Daten vom Bundesfinanzministerium; durchgehende Linien: Daten aus der AMECO Datenbank. Gleitende Dreijahresdurchschnitte. Bis 1991 Westdeutschland, ab 1991 Deutschland. 1995: Umbuchung von geschätzten 100 Mrd. Euro der Schulden der Treuhandanstalt vom Staats- auf den Unternehmenssektor. 2000: Umbuchung der UMTS-Lizenzeinnahmen in Höhe von 50,8 Mrd. Euro vom Staats- auf den Unternehmenssektor.

Quellen: Bundesministerium der Finanzen, Abgrenzung teilweise abweichend von ESA95, Stand: 1991; AMECO Datenbank, Stand: Mai 2011.

In den Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders bis hin zur Mitte der achtziger Jahre war die sektorale Verteilung der Schulden und Ersparnisse eine vollkommen andere als in den letzten Jahren. Zwar sparten die privaten Haushalte in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wie heute einen nicht unerheblichen Teil ihres Einkommens. Doch die Salden sowohl des Auslandes als auch des Staates waren bis Mitte der achtziger Jahre relativ ausgeglichen. Den Gegenposten zu den Ersparnissen der privaten Haushalte bildeten damals vor allem die Unternehmen, die sich in hohem Maße verschuldeten, zugleich aber sehr dynamisch investierten (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2
Investitionsquote auf dem Rückzug
Flassbeck Abb-2.ai

1 Ausrüstungs- und Wirtschaftsbauinvestitionen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt; bis 1991 Westdeutschland, ab 1991 Deutschland.

Quelle: AMECO Datenbank, Stand: Mai 2011.

Der Kontrast zur gegenwärtigen Situation könnte nicht größer sein. Seit 2002 ist den deutschen Unternehmen das „Kunststück“ gelungen, zu Nettosparern in Höhe von immerhin 2% des BNE zu werden. Der Gegenposten dazu ist insbesondere in der jüngsten Phase ein extrem stark gestiegenes Defizit des Auslandes (wie das auch schon in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre der Fall war, wenn auch nicht in so ausgeprägter Form). Gleichzeitig investieren die Unternehmen weniger als jemals in den letzten vierzig Jahren zuvor (vgl. Abbildung 2). Statt das erwirtschaftete Geldvermögen in Sachanlagen zu investieren und sich zu verschulden, behalten die Unternehmen es offenbar lieber und legen es als Finanzinvestitionen auf dem Kapitalmarkt an. Dieses Verhalten lässt sich rational nur damit erklären, dass die Unternehmer auf den Finanzmärkten, nämlich mutmaßlich im globalen Spielkasino des Investmentbanking, höhere Renditen erwarten und kurzfristig realisieren können, als sie durch realwirtschaftliche Unternehmeraktivitäten langfristig für erzielbar halten.13

Der Mechanismus, über den diese dramatische Saldenverschiebung gelaufen ist, war die jahrelange Lohnzurückhaltung14 und die dramatische Steuersenkung auf Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen15. Das ist ein Bruch der wirtschaftspolitischen Konzeption in einer nur historisch zu nennenden Dimension: In Deutschland wurde die Politik einer einseitigen Förderung der Unternehmensgewinne durch den Staat und durch die Tarifpartner, lange Zeit „Angebotspolitik“ genannt, offenbar so weit getrieben, dass die Unternehmen buchstäblich nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld. Diese Beggar-thy-neighbour-Strategie gegenüber dem Ausland brachte einen riesigen Gewinn an internationaler Wettbewerbsfähigkeit für die deutschen Unternehmen. Das war über zehn Jahre nur dadurch realisierbar, dass seit 1999, also seit Beginn der Europäischen Währungsunion (EWU), die den Hauptteil der deutschen Handelspartnerländer umfasst, keine Aufwertung einer deutschen Währung mehr möglich war, wie dies etwa in den 80er Jahren bei ähnlichem Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Handelspartnern immer wieder der Fall gewesen war. Die in der EWU vereinigten Länder nahmen die deutsche Wettbewerbsstrategie nicht ernst oder verstanden sie nicht und vor allem erwiderten sie sie nicht, wohl im Vertrauen auf das gemeinsam vereinbarte Inflationsziel.16

Für diese deutsche Strategie sind zwei Preise zu zahlen: Der eine in Form der Hilfsmaßnahmen für die Partnerländer in der EWU, die inzwischen als überschuldet gelten und nur zu prohibitiv hohen Zinsen Geld am Kapitalmarkt leihen können. Unter den Begriff „Hilfsmaßnahmen“ fallen dabei Gelder für Rettungsschirme genauso wie direkte Transfers oder die Entwertung von Gläubigerpositionen, egal ob freiwillig gewährt oder durch eine eskalierende Entwicklung auf den Finanzmärkten erzwungen. Der andere Preis fällt in Form einer seit Jahren lahmenden deutschen Binnenwirtschaft an: Während die Binnennachfrage in den EWU-Ländern ohne Deutschland mit 1,3% pro Jahr ungefähr im Einklang mit dem gesamten Wirtschaftswachstum zulegte (1,2% pro Jahr), hinkte sie in Deutschland auffallend hinterher. Seit 2000 ist die inländische Nachfrage, also Konsum und Investitionen, hierzulande jährlich im Durchschnitt nur um 0,3% gestiegen bei einem durchschnittlichen Wirtschaftswachstum von 0,9%. Der Anteil des Exports am Bruttoinlandsprodukt hat sich hingegen in dieser Zeit in nominaler Rechnung von 33% auf 46% erhöht, in realer Rechnung sogar auf 50%.

Es ist also genau das eingetreten, was keynesianisch ausgerichtete Ökonomen immer vorhergesagt haben: Man kann mit relativer Lohnsenkung den Handelspartnerländern Marktanteile abjagen, wenn die lohnbedingten Preisvorteile nicht durch eine Aufwertung der Währung ausgeglichen werden oder werden können (wie im Fall einer Währungsunion); doch verliert ein Land, das eine solche Strategie einschlägt, bei der Binnenkonjunktur mehr, als es beim Export gewinnen kann.

Das gesamte magere Wachstum der letzen zehn Jahre war größtenteils dem Zuwachs des Exportüberschusses zuzurechnen. Da die Unternehmen ihre enormen Gewinne fast ausschließlich im Außenhandel erzielten, die inländische Nachfrage aber nahezu stagnierte, war die Auslastung der Kapazitäten insgesamt so schwach, dass sich Steigerungen der Sachinvestitionen hierzulande und die damit verbundene Verschuldung des Unternehmenssektors nicht mehr in gleichem Maße wie früher rechneten und zurückgefahren wurden. Die jahrelang von Unternehmerseite beschworene, von Wirtschaftswissenschaftlern gestützte17 und von Wirtschaftspolitikern zur Handlungsgrundlage18 gemachte These, Unternehmen müssten zuerst und über einen längeren Zeitraum satte Gewinne machen, bevor sie zu einer verstärkten Investitionstätigkeit bereit seien, hat sich empirisch als völlig haltlos herausgestellt. Das ist kein Wunder, denn die Conditio sine qua non jeder Sachinvestition sind eine gute aktuelle Auslastung und positive Absatzaussichten. Beides ist jedoch ohne eine die Produktivität ausschöpfende Lohnpolitik auf Dauer nicht zu haben. Durch inländisches Kostendumping im Ausland erzielte Gewinne stellen langfristig niemals eine solide Nachfragebasis dar, die zur Übernahme unternehmerischer, also realwirtschaftlicher Risiken in allen Wirtschaftszweigen anregt.

Denn, auch das wussten keynesianisch inspirierte Volkswirte schon vor zwanzig Jahren, der Exporterfolg ist nicht nachhaltig, weil die Nachbarn – vor allem in einer Währungsunion – irgendwann nicht mehr bereit oder in der Lage sind, ihre außenwirtschaftlichen Defizite weiter zu erhöhen. Die Zeit der Abrechnung ist jetzt gekommen, wo selbst Deutschland drängt, die anderen müssten ihre Schulden abbauen und zu diesem Zweck ihre Löhne relativ oder sogar absolut senken. Das muss aber, hier ist die Logik unerbittlich, zulasten von Deutschlands Außenhandelsüberschüssen gehen, weil nicht der eine Marktanteile gewinnen, der andere aber seine behalten, oder der eine seine Defizite abbauen, der andere aber seine Überschüsse behalten kann.

Eine große Koalition hat inzwischen in die Verfassung geschrieben, dass sich der Staat im Normalfall nicht verschulden darf. Damit ist das deutsche Wirtschaftsmodell der letzten Jahrzehnte endgültig zum Scheitern verurteilt. Es ist vollständig von der Bereitschaft des Auslandes abhängig, sich immer weiter zu verschulden. Das Ausland, insbesondere das europäische, hat aber jetzt die Grenzen seiner Verschuldungsfähigkeit erreicht. In der G20, die immerhin mehr als drei Viertel des Weltsozialproduktes repräsentieren, steht Deutschland neben China in der Kritik. Deutschland kann noch einige Zeit versuchen, Asien als neue und einzige Quelle seines Wohlstands zu missbrauchen, bevor auch dort Grenzen erreicht sind. Dann muss es zurückfallen in Stagnation, weil es die Voraussetzungen für ein gesundes Wachstum aus eigener Kraft nicht geschaffen hat.

Kredite ohne Ersparnisse?

Dass es Ersparnisse ohne Verschuldung nicht gibt und dass der Ausgangspunkt einer positiven ökonomischen Entwicklung niemals die Ersparnisbildung sein kann, wurde gezeigt. Kann es aber Verschuldung ohne Ersparnis geben, sozusagen aus dem Nichts?

Stellen wir uns vor, ein Unternehmer fragt bei einer Bank nach einem Kredit, um mit dem geliehenen Geld ein Investitionsgut, etwa eine neue Maschine zu kaufen. Kann die Bank dann nur so viel Kredit herausgeben, wie sie Einlagen hat? Nein, die Bank kann weit darüber hinaus Kredite vergeben, weil sie aus Erfahrung weiß, dass normalerweise nie alle Sparer zugleich ihr Geld zurückverlangen, sondern immer nur ein bestimmter Prozentsatz der Einlagen abgezogen wird, den sie als Reserve halten muss. Folglich kann die Bank Geld schaffen (schöpfen), indem sie dem Investor eine Kreditlinie über ihre Spareinlagen hinaus einräumt, die ihm erlaubt, die für seine Investitionen notwendigen Käufe zu tätigen. Der Unternehmer entfaltet dadurch wirklich zusätzliche Nachfrage.19 Hinzu kommt selbstverständlich, dass alle Notenbanken dieser Welt auch unmittelbar Wachstum finanzieren, indem sie zusätzliche Liquidität zur Verfügung stellen, die nicht auf schon vorhandenem realen Einkommen beruht, sondern auf zukünftiges reales Einkommen setzt. Der Investor gleicht also nicht nur eine durch das Sparen entfallende Nachfrage aus, sondern er erhöht darüber hinaus die Auslastung der Industrie oder der Dienstleistungswirtschaft unmittelbar. Dort entstehen entsprechend mehr Einkommen, darunter Gewinne. Nimmt der Unternehmer die neue Maschine in Betrieb und steigt die Produktivität in seinem Betrieb, erhöht das seine Erlöse und er ist in der Regel in der Lage, die verlangten Zinsen zu zahlen. Der Kredit bewirkt demnach eine Einkommenssteigerung in der Gegenwart und in der Zukunft, und zwar – abzulesen an der gestiegenen Gütermenge – eine reale.

Voraussetzung für das Funktionieren der durch Kredit geschaffenen Nachfrage ist selbstverständlich, dass die Sachinvestition ein Erfolg ist, dass sie also ein potenziell produktives Projekt darstellt und das mögliche Mehr an Produktion auch seine Abnehmer findet. Denn nur dann bringt die Sachinvestition so viel Geld in die Kassen des Investors, dass er nicht nur die ursprüngliche Kreditsumme, sondern auch noch zusätzlich Zinsen für sie bezahlen kann und obendrein per Saldo einen Gewinn macht. Mit anderen Worten: Verschuldung aus dem Nichts kann das Einkommen, mit dessen Hilfe sie verzinst und getilgt werden soll, schaffen. Auch jetzt ist der Gleichstand von Geldschulden und Geldvermögen insgesamt immer gegeben. Weil der Kredit zu zusätzlicher Nachfrage und damit zu steigenden Einkommen einschließlich steigender Gewinne führt, bleibt mehr Geldeinkommen übrig, als ausgegeben wurde. Es ist also im Nachhinein Ersparnis in Form höherer Gewinne entstanden. Geldvermögen und Geldschulden sind aber auch dann gleich, wenn die Investition misslingt. Wenn der Kredit nicht bedient werden kann, entwertet sich die Gläubigerposition der Bank oder des Besitzers der Schuldverschreibung oder des Aktionärs. Der technische Fortschritt, der sich durch Sachinvestitionen ausbreitet, ist ein Suchprozess, in dessen Verlauf auch manche Sackgasse befahren wird. Das ist kein Problem, wenn sich der Anteil der Flops an allen gewährten Krediten in Grenzen hält. Da das bei Unsicherheit niemals automatisch gewährleistet ist, ist ein funktionierendes und institutionell auf die Dienstleistungsfunktion für die Realwirtschaft begrenztes Bankensystem von großer Bedeutung.

Jede erfolgreiche Verschuldung setzt eine Kettenreaktion nach oben in Gang, denn mit der kreditbedingt steigenden Auslastung nimmt entweder die Investitionsneigung weiterer Unternehmer zu oder die steigende Nachfrage führt bei bereits hoher Auslastung der Kapazitäten zu höheren Preisen. Letztere signalisieren den Unternehmern, dass sich eine Ausdehnung der Angebotskapazitäten lohnt, was die Investitionsneigung erst recht stärkt.20

Wachstum und Kredite „aus dem Nichts“

Dass Kredite „aus dem Nichts“ für eine moderne Geldwirtschaft absolut unabdingbar sind, wird häufig nicht verstanden.21 Zweifler mögen fragen, ob es nicht gerade wegen des logisch zwingenden Ausgleichs von Schulden und Vermögen zu jedem Zeitpunkt des Wirtschaftens gleichgültig ist, ob Sachinvestitionen teilweise mit neu geschaffenem Giralgeld oder komplett mit Sparguthaben bezahlt werden. Sind nicht gar durch Sparguthaben finanzierte Investitionen irgendwie sicherer oder vertrauenswürdiger oder mit weniger Inflationsgefahren verbunden?

Unbestritten sind die Sachinvestitionen der Motor jeder funktionierenden Marktwirtschaft. Sie sind der wichtigste Träger des Produktivitätsfortschritts und damit der Wohlstandssteigerung. Ohne Sachinvestitionen bräche eine arbeitsteilig organisierte Wirtschaft in kurzer Zeit zusammen, weil viele Menschen in der Investitionsgüterindustrie arbeiten. Genau das aber, den Motor der Marktwirtschaft und das von ihm generierte gesamtwirtschaftliche Wachstum, kann es ohne Kredite „aus dem Nichts“ überhaupt nicht geben.

Einzelwirtschaftlich gesehen können aus bereits angespartem Vermögen, aus bereits erzielten Gewinnen Investitionsgüter bezahlt, also nicht auf Pump gekauft werden. Dann schichtet ein einzelner Unternehmer sein Vermögen von Geldvermögen in Richtung Sachvermögen um. Die Verschuldungssituation der Gesamtwirtschaft bleibt gleich, denn bei einem nicht durch (geschöpfte) Kredite finanzierten Kauf wechselt nur das zur Bezahlung verwendete Geldvermögen den Besitzer; die spiegelbildlich zu diesem Geldvermögen existierenden Schulden bleiben davon vollkommen unberührt.

Kaufen alle Wirtschaftsakteure nur mit ihrem vorhandenen Geldvermögen, kann nichts Zusätzliches entstehen, weil die Wirtschaftssubjekte immer nur untereinander Geldvermögen und bereits vorhandene Sachanlagen (oder auch Konsumgüter), tauschen. Damit entsteht niemals ein neues (Investitions-)Gut und keine zusätzliche Produktivität. Nur wenn ein Gut mit Hilfe von neu geschaffenem Kredit gekauft wird, kann zusätzliche Nachfrage entstehen.22

Nun mag man einwenden, dass die Inbetriebnahme eines bereits vorhandenen Investitionsguts, das nicht auf Pump gekauft wurde (also der einfache Tausch von Geld- gegen Sachvermögen), die Produktivität genau so gut steigern kann wie ein noch nicht produziertes. Das ist richtig. Nur fehlt der anfängliche Effekt der zusätzlichen Nachfrage durch den Kredit. Und der ist entscheidend, wenn es um die gesamtwirtschaftliche Auslastung und das Wachstum geht. Bleibt die Auslastung gleich, gibt es keinen Grund für eine Ausdehnung der Produktion insgesamt. Dem in Betrieb genommenen Investitionsgut (oder gesamtwirtschaftlich gesehen irgendeiner anderen Sachanlage) fehlt es dann an zusätzlicher Nachfrage, um aus der potenziellen Produktivitätszunahme eine tatsächliche werden zu lassen.23

Eine arbeitsteilig organisierte Geldwirtschaft kann wachsende Kapazitäten nur dann stabil auslasten – ohne auf eine dauernde Verschuldung des Auslands zu bauen –, wenn die Wirtschaftspolitik dafür sorgt, dass Kredite „aus dem Nichts“ und damit Nachfrage „aus dem Nichts“ jederzeit gewährt werden können. Eine Marktwirtschaft ohne Investitionsgütersektor braucht solche Kredite nicht, aber sie kann auch nicht wachsen.

Kredite für Wetten?

Kredite „aus dem Nichts“ sind also notwendig für das Wachstum einer monetären Marktwirtschaft. Werden Kredite jedoch für Aktivitäten gewährt, die definitionsgemäß keinerlei Produktivitätssteigerung und damit auf längere Sicht keinen gesamtwirtschaftlich zählbaren Ertrag mit sich bringen können, dann wird der Sinn und die Glaubwürdigkeit des Kreditwesens ad absurdum geführt. Unter solche Aktivitäten fallen z.B. alle Spekulationsgeschäfte mit Aktien, Währungen, Immobilien oder Rohstoffen24 oder die daraus abgeleiteten Wetten mit Derivaten oder Zertifikaten, wie sie dank der Liberalisierung der Finanzmärkte in den letzten zehn Jahren erheblich zugenommen haben. Nimmt diese Art von Finanzgeschäften gemessen an allen vergebenen Krediten einen immer größeren Teil ein, werden einerseits die Preise für Rohstoffe, Währungen und andere Güter, die Grundlage von Sachinvestitionsentscheidungen sind, verzerrt, was erfolgreiche Sachinvestitionsentscheidungen erschwert. Andererseits werden die Renditeerwartungen allgemein während des Aufbaus solcher spekulativer Preisblasen in unrealistische Höhen geschraubt, was dazu führt, dass produktive Sachinvestitionen von unproduktiven Schneeballspielen verdrängt werden. Solange Unternehmen Wettgewinne machen können, weil Kasinoaktivitäten auf den weltweiten Finanzmärkten institutionell nicht unterbunden werden, sind sie nicht gezwungen, in Sachanlagen zu investieren, um Gewinne zu erzielen.

Schließlich fühlt sich gar die Geldpolitik aufgerufen, den spekulativen Übertreibungen bei den Preisen mit Zinsanhebungen Einhalt zu gebieten, was aber nicht nur die Kasinogeschäfte oder zumindest diese nicht zuerst trifft, sondern vor allem die Sachinvestitionen. Die können nämlich steigende Zinskosten nie so leicht verkraften wie von Herden betriebene Spekulationsgeschäfte, deren kurzfristige (Schein-)Rendite ein Vielfaches der langfristigen Sachinvestitionsrenditen betragen kann.

Schlägt die Stimmung bei der Mehrheit der Herde der Spekulanten schließlich um, etwa weil offensichtlich wird, dass die Realwirtschaft die Folgen des Finanzkasinos nicht mehr verkraften kann, platzen die Preisblasen und das gesamte Kreditwesen gerät in eine Schieflage. Jeder Schuldner, gleichgültig ob Spekulant oder Sachinvestor, versucht sich zu entschulden und keiner will sich neu verschulden. Diese gleichzeitigen Sparbemühungen setzen eine starke Abwärtsspirale in Gang, die Zentralbanken und Regierungen zwingt, den Zusammenbruch des Kreditwesens und damit der Volkswirtschaften durch Bereitstellung riesiger Liquiditätsmengen, durch die Übernahme von Wettschulden des Finanzkasinos und durch das Auflegen großer Nachfrageprogramme auf der Basis von Krediten „aus dem Nichts“ zu verhindern.

Die Verschuldung der öffentlichen Hand steigt auf diesem Weg rasant an, und die Bilanzen der Zentralbanken werden enorm aufgebläht. Genau dann entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, Schulden und vor allem solche der öffentlichen Hand seien generell die Sargnägel einer Marktwirtschaft. Dass der Staat nur eingestiegen ist, um die Folgen übermäßiger privater Wettschulden abzufedern, wird nicht mehr zur Kenntnis genommen. Im Gegenteil: die Anti-Staat-Ideologen nutzen die Gelegenheit sofort, um von einer „Schuldenkrise“ zu reden, die natürlich dem Staat in die Schuhe geschoben wird. Dass die Staatsschulden zur Rettung ganzer durch Spekulation in die Krise getriebener Volkswirtschaften aufgenommen wurden, wird durch das Schüren einer allgemeinen Staatsschuldenphobie überdeckt. Dass es mit dieser Ideologie gar gelungen ist, eine extreme Einschränkung staatlicher Schuldenaufnahme durch den deutschen Gesetzgeber in die Verfassung zu schreiben (Stichwort Schuldenbremse), wird als Bankrotterklärung rationaler Wirtschaftspolitik in die Geschichte eingehen.

Vier Maßnahmenbereiche für das magische Viereck

Statt eine Schuldenbremse einzuführen, hätte längst die Vergabe von Krediten für Kasinoaktivitäten unterbunden werden müssen, um das öffentliche Gut „Glaubwürdigkeit des Geld- und Kreditwesens“ zu schützen. Manche Wirtschaftspolitiker scheinen zu glauben, die Zentralbanken könnten durch Anwendung ihrer geldpolitischen Instrumente erreichen, was nur institutionelle Rahmenbedingungen leisten können: die Wiederherstellung des Geldmonopols der Zentralbanken, das durch die Liberalisierung der Finanzmärkte beschädigt wurde. Wir brauchen eine durchgreifende Finanzmarktregulierung, am besten eine auf internationaler Ebene koordinierte, die das Finanzwesen wieder in den Dienst der Realwirtschaft stellt. Der Aufbau eines weltweiten Währungssystems spielt dabei eine zentrale Rolle ebenso wie die Eindämmung der Rohstoffspekulation. Nationale Bemühungen mit dem Hinweis auf mangelnde internationale Einmütigkeit immer wieder hinauszuschieben, ist auf jeden Fall ein großer Fehler, weil so die Fiskal- und die Geldpolitik weiter durch die Finanzmarktakteure erpressbar bleiben. Die Finanzmarktregulierung ist die Grundlage, ohne die die drei Bereiche Lohn-, Geld- und Fiskalpolitik machtlos sind, das berühmte magische Viereck des angemessenen und stetigen Wachstums bei hohem Beschäftigungsstand, stabilem Preisniveau und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht zu erreichen.

Zudem braucht Deutschland ein Wirtschaftsmodell, das sich nicht auf die Verschuldung des inner- und außereuropäischen Auslands stützt. Das heißt, Deutschland muss sich von seinem Wirtschaftsmodell, bei dem die Unternehmer die Taschen voller Gewinne ohne realistische Nachfrageperspektive haben, verabschieden und zu einem Wirtschaftsmodell zurückkehren, bei dem sich die Unternehmer verschulden, weil sie in der Erwartung kräftig steigender Nachfrage Gewinne erhoffen. Das allerdings erfordert, dass in Deutschland die Löhne, genauer gesagt: die Lohnstückkosten stärker als die der Handelspartner in der EWU steigen müssen und zwar nicht nur für ein Jahr, sondern über viele Jahre, nämlich bis die anderen Länder ihre unhaltbare Situation überwunden haben. Da die oben genannte produktivitätsorientierte Lohnregel seit zehn Jahren unterlaufen wird, genügt ein Wiedereinschwenken auf diese Regel keineswegs mehr, um die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte zurückzuführen. Das ist aber notwendig, soll weiterer Schaden vom deutschen Steuerzahler, der europäischen Wirtschaft, ihrem Geldwesen und nicht zuletzt dem Frieden in Europa abgewendet werden.

Für die EWU ist zudem eine Neuausrichtung der europäischen Geldpolitik unverzichtbar: Die institutionellen Grundlagen der Europäischen Zentralbank müssen so gestaltet werden, dass sie – unterstützt durch die nationale Lohnpolitik jedes Mitgliedslandes – verpflichtet ist, in der EWU für ein einigermaßen stabiles und in Hinblick auf die Arbeitslosigkeit hinreichend großes Wachstum durch ihre Zinspolitik zu sorgen.

Reicht die Zinssenkung durch die Zentralbank nicht aus, eine sich verschlechternde Konjunktur zu stabilisieren, muss die Fiskalpolitik aushelfen, weil der Privatsektor selbst nichts ausrichten kann. Der Staat muss also in einer auf Arbeitsteilung beruhenden modernen Geldwirtschaft, die wachsen soll,25 eine aktive Rolle einnehmen. Die Hoffnung der Liberalen und der Ordoliberalen, Laissez-faire in Fragen der konkreten Entwicklung der nationalen Wirtschaft und ihrer Einbindung in internationale Zusammenhänge sei eine Option, war unbegründet. Der Staat (einschließlich der Zentralbank) ist weder Nachtwächter noch lediglich Rahmensetzter oder Schiedsrichter. Der Staat ist, sozusagen Tag für Tag, der Schaffer der konkreten Bedingungen, die eine funktionierende Marktwirtschaft erst ermöglichen. Nur wer die komplexen gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge von Investieren und Sparen in einer von Unsicherheit über die Zukunft geprägten Welt vollständig ignoriert,26 kann zu dem Schluss kommen, es gehe mit einem Minimalstaat, den man durch permanenten Steuersenkungsdruck und Schuldenbremsen herbeizwingt und klein hält.

In Deutschland muss das Umsteuern bald kommen. Nicht nur der Euroraum und die Europäische Union sind konkret gefährdet, sondern auch die internationale Arbeitsteilung. Notorische Überschussländer sind nicht nur in einer Währungsunion, sondern auch bei anderen Währungsverhältnissen eine für die Defizitländer nicht hinnehmbare Bürde für einen freien internationalen Handel, der allen Beteiligten nützt und deshalb von allen akzeptiert wird. Wenn Überschussländer und mit der Problematik befasste internationale Organisationen die Defizitländer obendrein noch durch „Konditionalität“ bei der Gewährung neuer Kredite wirtschaftlich strangulieren und politisch demütigen, richten sie Schaden an, der weit über wirtschaftliche Fragen hinausgeht und sowohl die Demokratie als auch das friedliche internationale Zusammenleben in Frage stellt.

  • 1 Vgl. Deutsche Bundesbank: Monatsbericht Mai 2011, S. 10-11.
  • 2 Vgl. J. Weidmann: Keine weiteren Risiken!, Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung vom 14.6.2011.
  • 3 Vgl. etwa Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR): Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen, Jahresgutachten 2009/2010, Ziffern 271 und 275; oder ders.: Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum, Jahresgutachten 2002/2003, Ziffern 606, 607.
  • 4 Vgl. Bundesverband der Deutschen Industrie: BDI-Investitionsagenda, www.bdi.eu, April 2011.
  • 5 Werden Geldersparnisse auf einem Konto nicht für Kredite „genutzt“, ist immer noch die Bank der Schuldner des Kontobesitzers.
  • 6 Die Welt insgesamt kann deshalb nicht „über ihre Verhältnisse“ leben, auch wenn dies gelegentlich behauptet wird, z.B. in der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 31.12.2008.
  • 7 Natürlich gibt es noch die Möglichkeit, produzierte und nicht abgesetzte, d.h. nicht verbrauchte Güter zu lagern. Finden diese Güter auf Dauer keinen Käufer, wandern sie auf den Müll. Wieder zeigt sich, dass ein erfolgloser Sparversuch das Einkommen insgesamt senkt.
  • 8 Es geht also um eine Wirtschaft, die nicht neoklassisch ohne Wachstum oder mit unerklärtem, exogen vorausgesetztem Wachstum in jederzeitiger Vollbeschäftigung verharrt, sondern um eine, in der Schwankungen der Kapazitätsauslastung an der Tagesordnung sind und deren Einkommensentwicklung endogen erklärbar ist.
  • 9 Wolfgang Stützel hat im Jahr 1952 die gesammelten Werke Lautenbachs in einem Band herausgegeben: W. Lautenbach: Zins/Kredit und Produktion, Tübingen 1952.
  • 10 Vgl. W. Lautenbach, a.a.O., S. 26; und H. Flassbeck: Gesamtwirtschaftliche Paradoxa und moderne Wirtschaftspolitik – Wolfgang Stützels Beitrag zu einer rationalen Ökonomie, in: W. Stützel: Moderne Konzepte für Finanzmärkte, Beschäftigung und Wirtschaftsverfassung, hrsg. von H. Schmidt, E. Ketzel, S. Prigge, Tübingen 2001, S. 409 ff. In Gleichungsform: EU + ENU = I + CU + CNU. Da ENU = CNU + SNU, gilt: EU = I + CU – SNU, wobei E für Einkommen, I für Investitionen, C für Konsum, S für Ersparnis und U für Unternehmer und NU für Nicht-Unternehmer stehen.
  • 11 Alle Theorien, die im Zinssatz das Ausgleichsinstrument zwischen Ersparnis und Investitionen sehen, basieren auf Modellen, in denen es keine Unternehmergewinne im eigentlichen Sinne des Wortes, nämlich jenseits von Zinszahlungen und Unternehmerlohn, gibt. Ihnen liegen Annahmen zugrunde, die mit einer monetären, sich dynamisch entwickelnden Marktwirtschaft nichts zu tun haben. Vgl. H. Flassbeck, F. Spiecker: Das Ende der Massenarbeitslosigkeit, Frankfurt/Main 2007, S. 233 ff.
  • 12 Um die Vergleichbarkeit der historischen Daten des Bundesfinanzministeriums, die bis 1960 zurückgehen und sich auf das Bruttonationaleinkommen (BNE) stützen, mit den aktuelleren aus der AMECO Datenbank, die höchstens bis in die siebziger Jahre zurückreichen, zu verbessern, wurde als Bezugsbasis nicht das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP), sondern das nominale BNE (früher Bruttosozialprodukt) verwendet. Die Unterschiede sind jedoch gering.
  • 13 Vgl. H. Flassbeck: Investoren oder Zocker, in: Wirtschaft und Markt, Mai 2010.
  • 14 Die realen Stundenlöhne (auf Preisbasis des BIP) blieben in Deutschland von Beginn der EWU 1999 bis 2010 hinter der Stundenproduktivität um jährlich 0,3 Prozentpunkte zurück; im Zeitraum 1999 bis 2007 (also ohne krisenbedingtes Kurzarbeitergeld) sogar um 0,8 Prozentpunkte.
  • 15 Vgl. Eurostat: Pressemitteilung vom 28.6.2010, http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=STAT/10/95&format=HTML&aged=0&language=de&guiLanguage=de.
  • 16 Vgl. H. Flassbeck, F. Spiecker: Monetarismus und „Wettbewerb der Nationen“ sind die Totengräber des Euro, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 6, S. 377-381.
  • 17 Der SVR hat seine Empfehlung zur Lohnzurückhaltung jahrelang mit der Notwendigkeit der Pflege der Gewinne und Gewinnerwartungen begründet. Vgl. etwa SVR: Wirtschaftspolitik unter Reformdruck, Jahresgutachten 1999/2000, Ziffer 337; und ders.: Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland, Jahresgutachten 2004/2005, Ziffer 701 ff.
  • 18 Und zwar zur Handlungsgrundlage insbesondere bei der Steuerpolitik, aber auch bei Veränderungen der Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes zu Lasten der abhängig Beschäftigten (Stichwort Hartz IV) sowie bei der Beeinflussung der Lohnpolitik durch die politische Unterstützung von Tariföffnungsklauseln und durch die jahrelange Blockade eines Mindestlohns – übrigens wiederum alles vom SVR befürwortete Maßnahmen.
  • 19 Vgl. dazu J. A. Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, unveränderter Nachdruck, 9. Aufl., Berlin 1997; sowie C. Binswanger: Die Wachstumsspirale: Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses, 3. Aufl., Marburg 2009.
  • 20 Diese für das Wachstum einer Wirtschaft entscheidende Funktion steigender Preise wird von Vertretern des Monetarismus wie der neoklassischen Theorie regelmäßig ausgeblendet. Nach diesen Theorien sind steigende Preise generell schädlich, was an dem bereits erwähnten Fehlen „echter“ Gewinne und dem daraus folgenden Defizit an endogener Erklärung des Wachstumsprozesses einer Wirtschaft in den entsprechenden Modellen liegt.
  • 21 Die Kontroverse zwischen G. Horn, F. Lindner einer- und H.-W. Sinn andererseits (vgl. Financial Times Deutschland vom 23.5.2011 „Die Mär vom deutschen Kapitalabfluss“ und vom 30.5.2011 „Das Märchen vom Kredit aus dem Nichts“) fördert in großer Klarheit zu Tage, dass die neoklassische Theorie bei der Erklärung einer monetären Markwirtschaft versagt. Wer sich mit seinen Überlegungen wie Hans-Werner Sinn nur auf eine Wirtschaft mit voll ausgelasteten Kapazitäten und ohne endogenes Wachstum bezieht, sollte sich wirtschaftspolitischer Empfehlungen für eine unterausgelastete Wirtschaft, die auf Wachstum setzt, enthalten. Es ist erschreckend, dass Joseph Schumpeters genau 100 Jahre alte Erklärung der Dynamik marktwirtschaftlicher Systeme einschließlich der überragenden Bedeutung des „Kredits aus dem Nichts“ von Hans-Werner Sinn, der zudem ein großes, zur wirtschaftspolitischen Beratung gegründetes Institut leitet, ausgeblendet wird.
  • 22 22 Vgl. dazu J. A. Schumpeter, a.a.O., S. 140 ff. Auf eine Veränderung der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes zu setzen, führt wirtschaftspolitisch nicht weiter, weil sie nicht systematisch steuerbar ist wie etwa der Zinssatz durch die Zentralbank.
  • 23 Die Alternative, den realen Nachfragezuwachs durch Preissenkung zu ermöglichen, ist keine realistische, weil Deflation immer investitionshemmend wirkt.
  • 24 Vgl. dazu etwa für den Bereich der Rohstoffspekulation UNCTAD: Price formation in financialized commodity markets: the role of information, New York, Genf, Juni 2011; oder für den Bereich der Währungsspekulation UNCTAD: Building a global monetary system: the door opens for new ideas, UNCTAD Policy Briefs, Nr. 17, 09.11.2010.
  • 25 Wobei Wachstum natürlich nicht in jedem Fall das Wachstum des bisherigen Konsums bedeuten muss, sondern eine weitgehende ökologische Umstellung der Wirtschaftsweise einschließen kann und sollte. Vgl. dazu ausführlich H. Flassbeck: Wachstum und Ökologie, in: Agora 42, 2009; und H. Flassbeck: Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 2010, S. 216-223.
  • 26 Verdrängung der Zusammenhänge zeigt sich z.B. in Sätzen wie: „Bei den kurzfristigen, konjunkturellen Wirtschaftszyklen bestimmen die Güterströme häufig die Kapitalströme. Im längerfristigen Trend ist es umgekehrt.“ (H.-W. Sinn, a.a.O.) Warum das so ist, wie die Umkehrung der Kausalität im Zeitablauf zustande kommen soll, erfährt man nicht. Das ist auch in der Tat unerklärbar, denn das neoklassische Modell ist vollkommen zeitlos und das kausalitätslose Gleichgewicht mit „längerfristigem Trend“ zu bezeichnen, erhöht die Stichhaltigkeit der Argumentation keineswegs.


DOI: 10.1007/s10273-011-1250-6