In der Novemberausgabe 2010 veröffentlichte der Wirtschaftsdienst ein Zeitgespräch mit dem Titel „Fiskalpolitik nach der Krise“ mit einem Beitrag von Carl Christian von Weizsäcker zur „Notwendigkeit von Staatsschulden“. Diesen Beitrag diskutieren Ernst Helmstädter und Egon Neuthinger jeweils in einer Replik. Carl Christian von Weizsäcker erläutert seine Auffassung in einer Erwiderung.
Der Konsum im Ruhestand und die temporale Kapitaltheorie
Carl Christian von Weizsäcker hat vor kurzem ein volkswirtschaftliches Rentenmodell1 vorgestellt, das zwei temporale Aspekte aufeinander bezieht: die Zeit des Erwerbs der Anwartschaft auf eine Rente im Ruhestand und die Ausreifungszeit von „Produktionsumwegen“ im Sinne Böhm-Bawerks. Über die erstgenannte Zeitphase erfolgt die Bildung von Geldkapital und über die zweite dessen investive Verwendung in der Produktion. Wenn beide Phasen die gleiche Länge haben, kommen nach Weizsäcker Sparen und Investieren zur Deckung.
Eine solche Frage lässt sich nur im Rahmen fortwährend gleicher Verhältnisse behandeln. Genau dies ist gemeint, wenn von einem Zustand des „steady state“ die Rede ist.Weizsäckers Steady-state-Modell soll hier mit einfachen Darstellungsmitteln beschrieben werden. Wir sehen eine solche Möglichkeit in der Verwendung geeigneter Zahlenbeispiele und deren graphischer Illustration. Damit sind gewisse Aspekte darzustellen, die bei einer formal-mathematischen Behandlung, die Weizsäcker vorzieht, übersehen werden können.
Eine Skizze der Fragestellung
In einem Beitrag zu einem MPG-Seminar behandelt Weizsäcker sein Rentenmodell ausführlich.2 Dabei geht es um „demand and supply of capital“ (S. 1). Er liefert zunächst eine moderne Formulierung der Marxschen Arbeitswerttheorie und der Böhm-Bawerk'schen Theorie der „Produktionsumwege“ der Arbeit.
Das Kapitalangebot ergibt sich nach Weizsäckers Modell aus der Vorsorge für den Konsum im späteren Ruhestand. Die künftigen Rentner erwerben ihre Anrechte auf die Versorgung im Ruhestand durch einen Sparprozess während ihrer Erwerbstätigkeit. Ihr Verzicht auf Teile ihres während der Erwerbstätigkeit verdienten Einkommens bestimmt das Sparvolumen, das investiv zu verwenden ist. Es erscheint plausibel zu vermuten, dass die Wartezeit der künftigen Rentner auf den Konsum im Ruhestand mit der Zeit der Ausreifung der mit ihren Ersparnissen finanzierten Produktion zu fertigen Konsumgütern etwas zu tun haben muss. Um die Zeitspanne des Wartens auf die Rente und die Zeitspanne der Ausreifung der in den „Produktionsumwegen“ steckenden Arbeitsleistung geht es in Weizsäckers temporalem Modell.
Weizsäckers Modell des Spar-Dreiecks
Zunächst stellt Weizsäcker in seinem Beitrag im Wirtschaftsdienst ein Gedankenexperiment mit Hilfe eines Spar-Dreiecks vor. Seine Darstellung verwenden wir hier zur Beschreibung einer von jedermann einzeln zu bewältigenden Transformation von Gegenwartskonsum in Zukunftskonsum mittels der Bildung eines eigenen Konsumgütervorrats (vgl. Abbildung 1). Das Bild des Dreiecks ergibt sich aus dem Auf- und Abbau des Vorrats an Konsumgütern. Anschließend an diese individuell betriebene Konsumtransformation betrachten wir drei verschiedene Formen der temporalen Konsumtransformation durch soziale Interaktion.
Abbildung 1
Weizsäckers Dreiecks-Modell
In Abbildung 1 wird gemäß Weizsäckers Vorgehen unterstellt, dass der Konsum über die Phase der Erwerbstätigkeit und des Ruhestands gleichmäßig verteilt sein soll. Bezüglich der Höhe des Konsums wird eine Normierung auf 1 über die gesamte betrachtete Zeit angenommen. Dann müsste über die a = 40 Jahre der Erwerbstätigkeit bei einem Einkommen des 1,5-Fachen des Jahreskonsums ein halber Jahreskonsum auf Vorrat genommen werden. Nach 40 Jahren hat sich dann ein Konsumgütervorrat angesammelt, der für die Ruhestandsphase von b = 20 Jahren ausreicht.
Der Punkt A liegt in der Mitte der Phase der Erwerbstätigkeit, C in der Mitte der Phase des Ruhestands und B in der Mitte beider Phasen zusammen. Diese Punkte dienen später zur Definition der Sparperiode.
Dass die in Abbildung 1 beschriebene Vorratshaltung wirklichkeitsfremd ist, leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich vorstellt, dass der betreffende Konsument über einen Lager- und Kühlraum verfügen müsste, der das Zwanzigfache seines Jahreskonsums aufzunehmen in der Lage wäre. Außerdem dürfte die Brauchbarkeit der Konsumgüter über Jahrzehnte hin keine Einbußen erleiden. Solche Eigenschaften der Konsumgüter anzunehmen, ist gleichwohl unter dem Gesichtspunkt des Steady-state-Charakters des Gedankenexperiments zulässig. Hier dient das Verfahren lediglich dazu, eine erste Beschreibung der temporalen Transformation von gegenwärtig möglichem Konsum auf die spätere Ruhestandszeit zu liefern.
Die Konsumgüterversorgung im Ruhestand durch soziale Interaktion
Nun gibt es drei unterschiedliche Verfahren, durch soziale Interaktion im Rahmen der Gesellschaft institutionelle Verabredungen zu treffen, die es ermöglichen, die gerade angenommene Vorratshaltung von Konsumgütern dadurch überflüssig zu machen, dass die Rentenbezieher den Zugriff auf die in der Zeit ihres Ruhestands aktuell produzierten Konsumgüter erhalten. Wir unterscheiden die drei folgenden Verfahren:
- das Kapitaldeckungsverfahren,
- die Beteiligung an der Konsumgüterproduktion (in Weizsäckers Modell) und
- das Umlageverfahren.
Das Kapitaldeckungsverfahren
Dieses Verfahren basiert darauf, dass jedermann während der Erwerbstätigkeit die Beteiligung an Unternehmen, etwa in der Form von Aktien, erwirbt und damit einen Vermögensstamm bildet, der im Ruhestand sukzessive zur Finanzierung des Konsums wieder abgebaut wird. Unter Steady-state-Bedingungen gilt hier die Stabilität aller Preise einschließlich der Kurse der gehaltenen Wertpapiere. Am Kapitalmarkt bieten die Ruhestandsgenerationen Teile ihres Wertpapierbesitzes an, der von den Sparern der aktiven Generationen aus ihrem laufenden Einkommen erworben wird. Die Rentner erlangen also im Ruhestand durch Wertpapierveräußerungen an jüngere Erwerbspersonen den Zugriff auf die Konsumgüter der laufenden Produktion.
Das Kapitaldeckungsverfahren ist sehr flexibel zu handhaben. Es obliegt jeder Erwerbsperson nach Maßgabe ihrer Versorgungswünsche im Ruhestand und gemäß ihren Sparmöglichkeiten in der Erwerbszeit entsprechend vorzusorgen. Unter Steady-state-Bedingungen ergeben sich keinerlei Risiken bei der Realisierung dieses Verfahrens der Altersvorsorge.
Die direkte Beteiligung an der Konsumgüterproduktion
Weizsäcker verbindet in einer anderen Form der Kapitaldeckung die Altersvorsorge mit der Böhm-Bawerk'schen Theorie der „Produktionsumwege“. Wir betrachten zunächst Böhm-Bawerks Zahlenbeispiel zur Berechnung der mittleren Produktionsperiode:3 „Kostet z.B. die Herstellung eines Genußgutes insgesamt 100 Arbeitstage … und ist davon ein Arbeitstag vor 10 Jahren, je ein weiterer vor 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2 und einem Jahre und alle übrigen 90 Arbeitstage unmittelbar vor der Werkvollendung aufgewendet worden, so lohnt sich der erste Arbeitstag nach 10, der zweite nach 9, der dritte nach 8 Jahren usf., während die letzten 90 sich sofort lohnen; und durchschnittlich lohnen sich alle 100 Arbeitstage nach
d. i. schon nach einem halben Jahre.“
Wir fragen uns nun, in welcher Weise die konsumtive Altersversorgung eines Rentners mittels dieses Verfahrens zu gewährleisten ist. Dabei passen wir die Ausreifungszeiten der Produktionsprozesse den Gegebenheiten der Abbildung 1 an.
Abbildung 2
20 Teilprozesse der Produktion, die in der Ruhephase ausreifen
Die Abbildung 2 enthält 20 Produktionsprozesse mit unterschiedlichen Ausreifungszeiten. Sie werden in der Phase der Erwerbstätigkeit nacheinander in Gang gesetzt, indem die Ersparnis von zwei Arbeitsjahren in einen Produktionsprozess investiert wird. Diese 20 Produktionsprozesse reifen der Reihe nach in den Jahren des Ruhestands in Fertiggütern aus, die jeweils einen Jahreskonsum decken.
Die mit der Ersparnis der Jahre 1 und 2 in Gang kommende Produktion von Konsumgütern lässt diese im ersten Jahr des Ruhestands, d.h. im Jahr 41, ausreifen. Die Konsumgüter der mit der Ersparnis der Jahre 39 und 40 auf den Weg gebrachten Produktion reifen im Jahre 60 aus. Der zeitlich am längsten dauernde Produktionsprozess erstreckt sich über 40 Jahre, der kürzeste über 20 Jahre. Die durchschnittliche Ausreifungszeit oder mit Böhm-Bawerk: die durchschnittliche Produktionsperiode beträgt somit 30 Jahre. Dies entspricht der Wartezeit, die vergeht zwischen der Ersparnis und deren Auszahlung als Rente: Die Ersparnis der ersten beiden Jahre zahlt sich nach 40 Jahren und die der letzten beiden Jahre nach 20 Jahren aus. Man muss also im Durchschnitt 30 Jahre lang auf die Auszahlung der Rente warten. Diese durchschnittliche Sparperiode deckt sich mit der durchschnittlichen Produktionsperiode.
Weizsäcker definiert die Sparperiode anders. Sie beläuft sich auf die Zeitstrecke zwischen den Punkten B und A der Abbildungen 1 und 2. Die betreffenden zehn Jahre geben an, um wie viele Jahre der gesamte Konsum durch das Sparen während der Erwerbstätigkeit durchschnittlich zu verlängern ist. Eine analoge Definition im Hinblick auf die Produktionsperiode vorzunehmen, hat keinen Sinn, weil die gesamte Zeit von a + b = 60 Jahren zwei ganz unterschiedliche Phasen des Produktionsgeschehens betrifft: a Jahre lang werden die Produktionsprozesse in Gang gesetzt und b Jahre lang reifen sie in Fertiggütern aus. Die 10-jährige Zeitstrecke zwischen den Punkten B und A als durchschnittliche Produktionsperiode analog zur entsprechenden Sparperiode zu definieren, ist sachlich nicht zu begründen.
Eine Bemerkung zur Vergleichbarkeit unserer Annahmen mit den Vorstellungen Böhm-Bawerks erscheint noch angebracht. Wenn wir uns vorstellen, dass die jährliche Ersparnis wie in Abbildung 1 einen halben Jahreskonsum ausmacht, so ist erst mit der Ersparnis von zwei Jahren der Jahreskonsum eines Arbeiters gedeckt. Genau genommen wäre also mit der Ersparnis in den Jahren 1 und 2 der Jahreskonsum eines Arbeiters zu bestreiten. Wenn dann erst im Jahr 2 mit diesem Prozess begonnen wird, dann beträgt seine Ausreifungszeit nicht 40, sondern nur 39 Jahre. So würde sich auch die Ausreifungszeit der übrigen Prozesse um ein Jahr verringern.
In der Darstellung der Abbildung 2 besteht der gesamte Produktionsprozess aus 20 Teilprozessen. Fassen wir diese zusammen, dann ergibt sich analog zu Böhm-Bawerks Zahlenbeispiel die durchschnittliche Ausreifungszeit wie folgt:
Jeder Produktionsprozess wird durch eine Jahresarbeit in Gang gesetzt und reift anschließend ohne weiteren Arbeitseinsatz aus. Die durchschnittliche Ausreifungszeit beträgt nach (2): 29,5 oder rund 30 Jahre. Genau 30 Jahre würden sich ergeben, wenn die im Jahr 1 aufkommende Ersparnis bereits am Ende dieses Jahres investiert würde. Um solche Genauigkeit ist es uns hier jedoch nicht zu tun.
In (2) sind die 20 Teilprozesse zu einem einzigen Produktionsprozess zusammengefasst. Für diesen Gesamtprozess gilt, wie für den Böhm-Bawerk'schen Prozess (1), ein sukzessiv erfolgender Einsatz weiterer Teilprozesse mittels jeweils einer Jahresarbeit. Ohne Zweifel haben wir es hier mit einem Prozess zu tun, wie Böhm-Bawerk sich ihn vorgestellt hat.
Wir sprachen bisher über die Versorgung eines einzelnen Rentners, der im 1. und 2. Jahr seiner Erwerbstätigkeit jeweils einen halben Jahreskonsum erspart. Dieser Betrag wird für den Jahreskonsum eines Produktionsarbeiters verwendet. Dadurch kommt Produktionsprozess Nr. 1 in Gang, der dem Sparer im Jahr 41 ein Jahresvolumen fertiger Konsumgüter beschert. Da er anschließend noch weitere 19 Produktionsprozesse auf die gleiche Weise startet, hat unser Sparer für seinen Konsum im Ruhestand ausgesorgt.
Unter Steady-state-Bedingungen tritt alle zwei Jahre eine weitere Person in die Erwerbstätigkeit ein, für die das Gleiche gilt. Doch erst wenn zugleich 20 Personen in den gesamten Prozess einbezogen sind, ist dieser Prozess voll im Gang. Dann sind 20 zusammengefasste Produktionsprozesse mit jeweils 20 Teilprozessen fortwährend aktiv. Beteiligen sich dann in einer Volkswirtschaft Z Personengruppen dieser Art an dem Verfahren, so handelt es sich jederzeit um 20 x 20 x Z in Gang befindliche Teilprozesse. Man kann sich jedoch auch anders angelegte Produktionsprozesse mit entsprechenden Fähigkeiten vorstellen: Es ist z.B. denkbar, dass nur wenige umfängliche Prozesse die über die Jahre laufend gebildeten Ersparnisse absorbieren und einen kontinuierlich fließenden Output an fertigen Konsumgütern für viele Rentner liefern können. In jedem Fall würden solche Prozesse jedoch enorme gesellschaftliche Abstimmungsleistungen für ihr Funktionieren erfordern, wenn sie tatsächlich etabliert werden sollten.
Wir haben bisher nichts dazu bemerkt, welche institutionellen Regelungen dazu führen, dass die temporalen Prozesse in der geschilderten Weise zusammenzuschalten sind. Es ist ja nicht so, dass jeder spätere Rentner die Produktion der Konsumgüter für seine Versorgung im Ruhestand selbst in die Hand nimmt. Dies geschieht durch andere Unternehmer im Rahmen sozialer Interaktion. Es geschieht auch nicht für jeden einzelnen Rentner im mikroökonomischen Rahmen, sondern in der Gesellschaft für alle insgesamt. Wie es dazu kommt, dass sich alles so einrichtet, wie es hier im Detail, ausgehend von einem individuellen Rentner, vorgeführt wurde, braucht uns hier nicht näher zu interessieren, weil ja niemand ein solches Modell zu realisieren beabsichtigt.
Das Umlageverfahren
Das Umlageverfahren der Gesetzlichen Rentenversicherung überträgt die von aktiven Lohnbeziehern erhobenen Beiträge in der gleichen Periode als Rente an die Anspruchsberechtigten Arbeitnehmer im Ruhestand. Das Verfahren regelt somit die Umverteilung eines Teils des aktuell verdienten Einkommens an berechtigte Personen, die nicht mehr im Erwerbsleben stehen. Ihnen fließt durch diese Umverteilung eine Art von Lohnersatz zu. Sie haben gemäß dem „Generationenvertrag“ im Ruhestand unmittelbar den Zugriff auf den ihnen zustehenden Teil der laufend erstellten Konsumgüter. Hiermit werden sie dafür entschädigt, dass sie in der Phase der eigenen Erwerbstätigkeit mit ihren Beiträgen die Umverteilung an die damaligen Rentner ermöglicht haben.
Im Grunde geht es beim Umlageverfahren darum, im Ruhestand Versorgungsverhältnisse zu ermöglichen, die jenen in der aktiven Erwerbstätigkeit in etwa entsprechen. Dies wird insbesondere dadurch erreicht, dass die Anspruchsrechte auf die spätere Rente durch Beitragszahlungen erworben werden, die den unterschiedlich hohen individuell verdienten Einkommen während der Erwerbstätigkeit proportional sind.
Wenn davon die Rede ist, dass das Verfahren unter Steady-state-Bedingungen problemlos funktioniert, dann ist damit außer stabilen ökonomischen Verhältnissen eine stabile Generationenstruktur der Bevölkerung gemeint. Dass dies jedoch heute – auch wegen der deutschen Wiedervereinigung – nicht zutrifft, daran krankt gegenwärtig unser Umlageverfahren. Es basiert notwendigerweise auf einer gesetzlichen Grundlage und ist insofern wenig flexibel. Im Übrigen übertrifft es jedoch durch seine institutionelle Klarheit und Einfachheit alle Formen kapitalgedeckter Rentenregelungen. Aus diesem Grund ist noch nirgendwo versucht worden, das Umlageverfahren generell abzuschaffen. Auch die Bemühungen der 90er Jahre in Deutschland waren lediglich auf gewisse Ergänzungen ausgerichtet.
Offene Fragen zu Weizsäckers Rentenmodell
Weizsäcker zieht im Anschluss an die Darstellung seines Rentenmodells eine Reihe von wirtschafts- und finanzpolitischen Schlussfolgerungen (s. hierzu den Beitrag von E. Neuthinger). Hierzu äußern wir uns in diesem Beitrag nicht.
Für uns erweisen sich die folgenden Fragen an das Weizsäcker'sche Gedankenexperiment als bisher offen stehend:
- Weshalb werden die beiden temporalen Prozesse als miteinander verzahnt dargestellt? Handelt es sich dabei lediglich um ein Gedankenexperiment oder soll diese Form der Rente wirtschaftspolitisch umgesetzt werden?
- Es ist auch zu fragen, ob die allgemeine mathematische Darstellung die institutionellen Voraussetzungen der Verzahnung des Sparprozesses mit den „Produktionsumwegen“ zureichend wiedergeben. Beide Prozesse gehen in die mathematische Betrachtung lediglich mit ihren durchschnittlichen Warteperioden ein. Diese können auch dann übereinstimmen, wenn die zeitliche Verteilung der Ersparnisse und des Outputs der Fertiggüter unterschiedlich ausfallen und damit die gleichmäßige Versorgung im Ruhestand gefährdet ist. Böhm-Bawerk4 hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass, den „Grad des Kapitalismus“ durch die „Länge der Produktionsperiode zu illustrieren“, nur dann zulässig ist, wenn die „Annahme gleichmäßig ausgefüllter Produktionsperioden zugrunde“ liegt. Die Abbildungen 1 und 2 basieren auf dieser Annahme.
- Weizsäcker definiert seine Sparperiode als die Differenz zwischen dem zeitlichen Mittelpunkt der Konsumphase (Punkt B in den Abbildungen 1 und 2) und dem zeitlichen Mittelpunkt des Sparens (Punkt A). Diese Zeitstrecke beläuft sich auf zehn Jahre. Weshalb sie so definiert wird, ist nicht nachvollziehbar. Außerdem gibt es keine Möglichkeit, die Produktionsperiode analog zu definieren.
- Es erscheint widersprüchlich, wenn Weizsäcker seine empirischen Belege aus dem bestehenden Umlageverfahren entnimmt, aber auf ein nicht etabliertes temporales Kapitaldeckungsverfahren bezieht. Schlüssiger stünde die Sache da, wenn das Umlageverfahren als Quasi-Kapitaldeckung verstanden würde, insofern es mit den Rentenansprüchen Vermögenswerte schafft. Auf diese Weise greift der Staat als Garant der Funktionsfähigkeit des Umlageverfahrens in den Versicherungsmarkt ein und beschränkt damit das Tätigkeitsfeld von Banken und Versicherungen. Dass er dies auch über Verschuldung tun soll, wäre auf dieser Basis wohl besser zu begründen als auf der Basis der temporalen Kapitaltheorie.
- 1 C. C. von Weizsäcker: Die Notwendigkeit von Staatsschulden, Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 11, S. 720-723.
- 2 Derselbe: Dated Labour Analysis, Beitrag vom 19.1.2011 zu einem MPG-Seminar am 11.-13.1.2011.
- 3 E. von Böhm-Bawerk: Kapital und Kapitalzins II, Positive Theorie des Kapitales, Bd. 1, 4. Aufl. Jena 1921, S. 118.
- 4 E. von Böhm-Bawerk, a.a.O., S. 119.
Staatsverschuldung und Wirtschaftspolitik
Die folgenden Ausführungen befassen sich mit dem Beitrag von Carl Christian von Weizsäcker in der November-Ausgabe des Wirtschaftsdienst zur „Notwendigkeit von Staatsschulden“.1 Weizsäcker weist dort anhand eines einfachen Gedankenexperiments nach, dass Staatsschulden heute „notwendig“ sind, um die der Altersvorsorge dienenden Ersparnisse der privaten Haushalte (PH) zu ermöglichen. Empirisch bezieht er sich auf Deutschland und den übrigen OECD-/China-Raum. Nach seiner Analyse bildet sich bei den PH ein hoher Sparüberschuss, der von den Investitionen der privaten Unternehmen nicht ausgeschöpft werden kann. Der Staat muss durch eigene Verschuldung die überschüssigen Ersparnisse der PH absorbieren. Weizsäcker hält deshalb eine generelle Schuldenbremse für alle Länder des OECD-/China-Raums nicht für sinnvoll. Er stellt damit abweichend von der herkömmlichen Auffassung einen tragenden Ast der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in Frage. Aus seiner Argumentation ergeben sich wirtschafts- und finanzpolitische Konsequenzen, die weit über die Frage der Wirkungen der Schuldenbremse hinausgehen.
Das Modell
Weizsäcker geht von einer geschlossenen Volkswirtschaft aus. Er teilt die Bevölkerung in zwei Gruppen: Die erste Gruppe steht im aktiven Berufsalter, erzielt auf Märkten Einkommen, spart und konsumiert daraus. Die zweite Gruppe befindet sich im Ruhestand und konsumiert nur. In der Aktivzeit wird für das Alter ein Vermögen aufgebaut. Vereinfachend unterstellt er, dass der private Konsum im Ruhestand genau so hoch ist wie in der Ansparphase. Das für den Ruhestand angesparte Vermögen erreicht seinen Höchststand beim Eintritt in den Ruhestand.
Als Sparperiode definiert Weizsäcker das „Verhältnis zwischen Vermögensbestand und dem jährlichen Konsum.“ (S. 720). Und: „Die volkswirtschaftliche Sparperiode zwecks Altersvorsorge steigt ungefähr proportional mit der Dauer des Ruhestands. Der Proportionalitätsfaktor liegt in der Größenordnung von 0,5.“ Mit dem Alterungsprozess wird die Sparperiode größer. Auch wenn in der Realität der Konsum im Ruhestand geringer ist als in der Aktivzeit, und auch im Alter gespart wird (in Deutschland 4 bis 5% des Ruhegeldes)2, ändert dies nichts an den fundamentalen Zusammenhängen.
Bei der Investitionsseite beruft sich Weizsäcker auf das Konzept der Produktionsperiode, das der österreichische Nationalökonom und Kapitaltheoretiker Böhm-Bawerk Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat. Die Produktionsperiode „repräsentiert den durchschnittlichen zeitlichen Abstand zwischen dem Input der originären Produktionsfaktoren und dem Output der daraus letztlich entstehenden Konsumgüter.“ (S. 721). Weizsäcker stellt dann die Vermutung auf, dass das bei den PH geschaffene Kapitalangebot, d.h. deren Ersparnis, bei einem positiven Zinssatz „ohne Staatsverschuldung“, d.h. ohne staatliche Finanzierungsdefizite, nicht von den privaten Unternehmen für Sachinvestitionen absorbiert werden kann.
Spar- und Produktionsperiode
Weizsäcker begründet dies mit folgenden Überlegungen zur Spar-und Produktionsperiode:
Nach der neoklassischen Theorie, aber auch heute weitgehend für keynesianisch orientierte Ökonomen, ist es (zunächst) der Zinssatz, nach dem schwedischen Ökonomen Knut Wicksell der „natürliche Zins“, der die private Ersparnis und die privaten Investitionen ausgleichen soll. Ein steigendes Sparangebot lässt den Zins sinken und die Investition steigen, bis sich beide Aggregate treffen. Wenn jedoch das Sparangebot (auch aufgrund der demografischen Entwicklung) so stark ansteigt, dass es die rentablen Investitionsmöglichkeiten übersteigt, liegt der „natürliche Zins“, der S und I ausgleicht, ohne Staatsverschuldung im negativen Bereich. Ein negativer Zins bedeutet, dass den Unternehmen von den Vermögensbesitzern eine Prämie gezahlt würde, wenn jene investierten und das Sparangebot unterbrächten. Mit seiner zentralen Aussage, dass der „natürliche Zins“ zu gering sei, um einen Ausgleich von S und I zu bewerkstelligen, trifft Weizsäcker ins Herz der Neoklassik. Denn in der Neoklassik gibt es immer einen Zins, der Sparen und Investieren ausgleicht. Weizsäckers wahrscheinlich zutreffende Vermutung, der natürliche Zins liege ohne Staatsverschuldung im negativen Bereich, erinnert an das Keynes’sche Trauma, dass der Zins wegen der Liquiditätsvorliebe nicht auf einen Wert sinkt, der die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals bzw. die Sachkapitalrendite strukturell, d.h auf die Dauer und im Durchschnitt, unterschreitet.
- Sparperiode. Die Sparquote ist definiert als Ersparnis der PH bezogen auf deren verfügbares Einkommen. Weizsäcker setzt dafür eine Quote von rund ein Drittel an. Er gelangt zu diesem hohen Prozentsatz, weil er der Ersparnis im Konto der PH in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) auch die Sozialbeiträge zufügt, die nach seiner Ansicht für die Altersversorgung aufgebracht werden: den PH erwüchsen aus den Beiträgen Ansprüche auf Leistungen. Das sind – wie er es sieht – die Beiträge zur Rentenversicherung und der „Sparanteil der Beiträge zur Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung ...“ (S. 721). Für die letzten Jahre ist im VGR-Konto der PH eine Sparquote von um 11% ausgewiesen. Bezieht man neben den Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung die gesamten Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung ein, ergibt sich die genannte Sparquote von rund einem Drittel.
- Produktionsperiode. Weizsäcker verwendet dafür den Kapitalkoeffizienten, der das Verhältnis von eingesetztem Kapitalstock zur gesamtwirtschaftlichen Produktion wiedergibt. Je höher der Kapitalkoeffizient ist, desto leichter schöpft die laufende Investition die Ersparnisse aus, um eine bestimmte laufende Produktion zu erzeugen. Weizsäcker verwendet aber nicht den herkömmlichen Kapitalkoeffizienten, Kapitalstock zu gesamtwirtschaftlicher Produktion K/Y (K = Kapitalstock, Y = BIP), sondern den privaten Kapitalstock, ohne den des Staates, und diesen nur bezogen auf den privaten und staatlichen Konsum: Kpriv/Cpriv + Cst. Diese Vorgehensweise erwächst aus Weizsäckers Zielsetzung, die Spar- und Investitionstätigkeit des privaten Sektors zunächst allein einander gegenüberzustellen. Weizsäcker nennt für die OECD einen Wert von 4 bzw. eine „private Produktionsperiode“ von vier Jahren. Da er eine Sparperiode für Deutschland von 8,5 errechnet hat (S. 721), ist die Produktionsperiode also weniger als halb so lang wie die Sparperiode. Dieser Wert ergibt sich überdies bei einer seit anderthalb Jahrzehnten andauernden Niedrigzinsphase. Weizsäcker folgert daher auch für den OECD-/C-Raum: „Es kann jedenfalls keine Rede davon sein, dass sich eine Sparperiode von geschätzt zwölf Jahren bei einem risikofreien Realzins von Null auch nur annähernd durch die private Produktionsperiode absorbieren ließe.“
- Konsequenzen für die Staatsverschuldung. Vom geschlossenen OECD-/C-Raum in seiner Gesamtheit ausgehend möge ein kleiner Teil der Lücke sich „in einer positiven Nettoposition dieses Raums gegenüber der übrigen Welt wiederfinden.“ Der weitaus größere Teil der Lücke würde durch die „Staatsschuld überbrückt“ (S. 722). Weizsäcker bringt die explizite und implizite Staatsschuld ins Bild. Die explizite Staatsschuld, d.h. die in der Finanz- und Schuldenstatistik nachgewiesene, beläuft sich auf 18 Monate der Sparperiode, oder das Anderthalbfache des jährlichen privaten und staatlichen Konsums. Die implizite Staatsverschuldung ergibt sich aus den künftigen Zahlungsverpflichtungen des Staates aus den Ansprüchen der Bürger zur Altersversorgung, Gesundheit, Pflege und den Pensionsansprüchen der Beamten. Die implizite Staatsschuld daraus wird für Deutschland etwa auf das Dreieinhalb- bis Vierfache der expliziten Staatsschuld und das Drei- bis Dreieinhalbfache des BIP geschätzt. Die Staatschuld ist nach Weizsäcker etwas Zweifaches: Zum einen ist sie ein großer Teil des Vermögens der Privaten, also nicht (nur) „dead weight“ für diese. Zum zweiten ist sie nach Weizsäcker der große und notwendige Lückenbüßer für die Diskrepanz zwischen dem hohen Vermögen der PH und dem im Vergleich dazu niedrigen gesamtwirtschaftlichen Kapitalstock. Weizsäcker illustriert diese Diskrepanz anhand folgender Schätzung der Größenordnungen für die Spar- und Produktionsperiode im OECD-/C-Raum: private Sparperiode (ca. zwölf Jahre) = private Produktionsperiode (ca. vier Jahre) + explizite Staatsschuldenperiode (ca. 1,5 Jahre) + implizite Staatsschuldenperiode (ca. sechs Jahre) + Nettoposition (ca. 0,5 Jahre).
- Wirkungen der Schuldenbremse. Bei Absenkung der expliziten Staatsverschuldung sieht Weizsäcker zwei Möglichkeiten:
- Nach herrschender Meinung, auch insbesondere für Deutschland, führt eine „Reduktion der expliziten Staatsverschuldung zu einer Anhebung der Produktionsperiode“, d.h. zu höheren Investitionen. Dahinter steht die Crowding-out-These, wonach die Staatsverschuldung private Nachfrage verdrängt. Dieses Theorem wird nach Weizsäcker unterstützt, wenn der Zins durch den Rückgang der Staatsschuld sinkt. Ist aber die untere Zinsschranke erreicht, kommt es nicht zu einer höheren Investitionstätigkeit. Ein Crowding-out ist dann gar nicht gegeben. Baut man in einem solchen Umfeld die laufende Staatsverschuldung ab, dann kann der Keynes-Fall der „Depression Economics“ entstehen.
- Um dies zu verhindern, könnte der Abbau der expliziten Staatsverschuldung abgebrochen werden, und man geht in die implizite Staatsverschuldung. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse bezieht sich nur auf die expliziten Schulden. Der der Schuldenbremse zugrunde liegende konzeptuelle Grundgedanke richtet sich aber in gleicher Weise auch gegen die implizite Verschuldung. Ein Abbau der expliziten via höhere implizite Verschuldung würde deshalb die in Deutschland geltende Schuldenbremse lediglich unterlaufen. Wäre der natürliche Zins höher als die Wachstumsrate, sollte die Staatsverschuldung national und international abgebaut werden. Ist der natürliche Zins nahe Null, kann zwar ein einziges Land mit höheren Kapitalexporten die eigene Leistungsbilanz verbessern und mehr Wachstum importieren. Den anderen Ländern wird aber die Konsolidierung schwerer gemacht. Wenn eine deutsche Schuldenbremse die Konjunktur in Europa verschlechtert, dann hat dies auch Auswirkungen auf die USA, China und Japan. Weizsäcker stellt abschließend fest: „Eine generelle Schuldenbremse für alle Länder des OECD-/C-Raums als Verfassungsvorschrift ist ein Irrweg. Sie ist damit auch für ein Land wie Deutschland höchst problematisch.“ (S. 723).
Gesamtwirtschaftliche und empirische Analyse und Überlegungen
Ein kapitaltheoretisch abgeleitetes Spar- und Investitionsmodell wie das von Weizsäcker erfordert ergänzende gesamtwirtschaftlich/empirisch gestützte Analysen. In den folgenden Abschnitten werden daher die Sparquoten und Sozialbeiträge der PH, die Selbstfinanzierungsquoten der Unternehmen, der Kapitalkoeffizient sowie die Leistungsbilanz und die Finanzierungssalden der volkswirtschaftlichen Sektoren näher betrachtet.3
Sparquoten und Sozialversicherungs-Beiträge
Zu Weizsäckers Berechnungen der Sparquote von einem Drittel und des Kapitalkoeffizienten von 4 folgende Bemerkungen: Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob überhaupt Sozialbeiträge den im VGR-Konto ausgewiesenen Ersparnissen im Zusammenhang mit der Altersvorsorge hinzugefügt werden dürfen. Weizsäcker will auf der Sparseite eine „Bruttogröße“ etablieren, um eine Aussage darüber zu ermöglichen, ob das Sparangebot der PH ergänzt durch die Sozialbeiträge zur Altersvorsorge mit Ansprüchen gegen den Staat (implizite Staatsverschuldung) durch die Investitionen der privaten Unternehmen als Gegenposten ausgeglichen werden kann.
Dazu: Die laufende Rechnung der Sozialversicherung war in den letzten Dekaden im Durchschnitt ausgeglichen. Es gab keine Überschüsse. Zu „Ersparnissen“ aufgrund der Sozialversicherung ist es gar nicht gekommen. Was an Einnahmen der Sozialversicherung aus dem Arbeitsentgelt der Arbeitnehmer aufkam, ist als Transferleistungen an die Sozialleistungsempfänger zurückgeflossen. Die aktive Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter „spart“ zwar im Modell Weizsäckers, aber im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf wird dieses Sparen durch den Konsum der „Alten“ und Bedürftigen gleich wieder absorbiert. Dies ergibt sich a priori aus dem Umlagesystem. Dem Sparen in Form von Sozialbeiträgen folgt uno actu ein Entsparen in gleicher Höhe. Die gezahlten Sozialbeiträge sind im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf schon von den PH als privater Konsum absorbiert oder zur verbleibenden Ersparnis verwendet worden. Es ist diese verbleibende laufende Ersparnis, die von den Unternehmen für laufende Investitionen in Anspruch genommen werden muss.
Für die Beurteilung des Vorgehens Weizsäckers ist auch die zeitliche Entwicklung der Sparquoten informativ. Für die Sparquote im engeren Sinne laut dem VGR-Konto der PH, die Sparquote I, zeigt sich kein Trend in den letzten vier Jahrzehnten. Die von Weizsäcker ins Sparangebot einbezogenen Sozialbeiträge, die Sparquote II, stieg von 12,6% (1960) auf 19,6% (1975) und 20,4% (1980). Seitdem ist sie nahezu stationär (vgl. Tabelle 1). Der Alterungsprozess hat sich also in den tatsächlichen Sozialbeiträgen I und II kaum niedergeschlagen. Nach dem Weizsäcker-Modell wäre die implizite Staatsverschuldung gemessen an den Beiträgen zur Altersvorsorge von Anfang der 60er bis Mitte der 70er Jahre gestiegen. Aber Ursache waren die höheren Rentenleistungen, die durch höhere Sozialbeiträge ausgeglichen wurden. Seitdem hat sich im tatsächlichen Ablauf quotenmäßig wenig geändert. Die Sozialleistungsquote lag 2008 mit 28% unter der Quote von 28,5% (1975).4 Es müssten vergleichbare Berechnungen der Sparperiode und ihrer Gegenposten, insbesondere der Rentenansprüche respektive impliziten Staatsverschuldung vorliegen, um Schlüsse zu ziehen.5
Tabelle 1
Volkswirtschaftliche Koeffizienten
Jahre | Sparquote der Privathaushalte | Selbstfinanzierungsquote der Unternehmen | Kapitalkoeffizient | ||
---|---|---|---|---|---|
SprI | SprII | SprI+II | SFQ | K/Y | |
1960 | 8,6 | 12,6 | 21,2 | 67 | 3,7 |
1970 | 13,8 | 16,0 | 29,8 | 57 | 4,2 |
1980 | 13,1 | 20,4 | 33,5 | 55 | 4,8 |
1991 | 12,9 | 19,6 | 32,5 | 65 | 4,8 |
2000 | 9,2 | 22,3 | 31,5 | 84 | 5,0 |
2008 | 11,7 | 21,5 | 33,2 | 103 | 5,2 |
Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserien VGR, verschiedene Jahrgänge; Deutsche Bundesbank: Ergebnisse der Gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung für Deutschland 1991 bis 2009, Juni 2010. Eigene Berechnungen. Wegen Gebietsänderung und Revisionen der VGR sind die Zeitreihen nicht ganz vergleichbar.
Ersparnisse der Unternehmen
Schließlich bringen die privaten Unternehmen erhebliche Ersparnisse für ihre Investitionen selbst auf. Der Unternehmenssektor ist in der Regel ein Defizit-Sektor, während der Sektor der PH stets ein Überschuss-Sektor ist. Der Staat oder die übrige Welt können je nach Lage Überschuss- oder Defizitsektoren sein. Für den Staat wird oft eine ausgeglichene Bilanz, ein Saldo von Null, gefordert. Die Ersparnisse der Unternehmen bestehen aus nicht verteilten Gewinnen und Abschreibungen. Als Anteil der Ersparnisse an den Investitionen errechnet sich die Selbstfinanzierungsquote. In Deutschland schwankte sie lange Zeit zwischen 60 und 70%. Seit Mitte der 80er Jahre driftete sie nach oben, und zuletzt finanzierten sich die Unternehmen voll aus eigenen Mitteln und erzielten zeitweilig sogar Überschüsse (vgl. Tabelle 1)6.
Kapitalkoeffizient
Analog zur Sparquote verwendet Weizsäcker für die Produktionsperiode den Kapitalstock der privaten Unternehmen, ohne den des Staates, und ersteren nur bezogen auf den privaten und staatlichen Konsum: Kpr/Cpr+Cst. Weizsäcker will dem Aggregat Spr das Aggregat Ipr zunächst allein gegenüberstellen. Der staatliche Konsum ist zu berücksichtigen, weil der private Kapitalstock auch für diesen eingesetzt wird. Dieser Kapitalstock wird aber auch für die Erzeugung von Investitionsgütern benutzt. Außerdem dient auch der staatliche Kapitalstock dem privaten und staatlichen Konsum. Es gibt daher Einwände.
Der Kapitalkoeffizient wird von der amtlichen Statistik seit der Revision der VGR durch das ESVG nicht mehr veröffentlicht, sondern nur noch der Kapitalstock. In Tabelle 1 ist aus den genannten Gründen der herkömmliche Kapitalkoeffizient K/Y basierend auf dem Bruttoanlagevermögen zu Grunde gelegt. Danach hat sich der Kapitalkoeffizient von 3,7 (1960) über 4,8 (1980) auf über 5 zuletzt erhöht. Die Produktionsperiode würde für Deutschland nicht vier, sondern über fünf Jahre betragen, was allerdings das geschilderte Absorptionsdilemma nicht beseitigt.
Im Lichte dieser Größenordnungen der Sparquoten und Kapitalkoeffizienten lässt sich feststellen: Mit den Sozialbeiträgen für die Altersvorsorge erwerben die PH Vermögensansprüche gegen den Staat. In der amtlichen Statistik sind diese Beiträge nicht als Ersparnis ausgewiesen. Da die Beiträge Vermögensansprüche an den Staat begründen, stellen sie implizite Staatsschulden dar. In ökonomischer Logik müssten die Ansprüche als Ersparnis der PH und als implizite Staatsschuld verbucht werden. Die Statistischen Ämter haben deshalb im Rahmen der Revision des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG) vereinbart, diese Vermögensansprüche der PH in einer Zusatztabelle zur VGR ab 2014 auszuweisen. Die Vertreter der Konsolidierungsstrategie sind der Auffassung, diese implizite Staatsverschuldung müsste zusammen mit der expliziten abgebaut werden.
Weizsäcker tritt dem mit dem Argument entgegen, dass diese Ersparnisse dann kapitalgedeckt, d.h. über einen privaten Kapitalstock ausgeglichen werden müssten. Weizsäcker befürchtet, dass bei einer Kapitaldeckung der kumulierten Ersparnisse der PH der notwendige private Kapitalstock zu hoch, weil nicht rentabel wäre. Die „steady state capital theory“, an der Weizsäcker führend mitgewirkt hat, kam schon Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zum Ergebnis, dass es ein Optimum der Kapitalakkumulation gibt (Stichwort: Golden Rule). Wenn die von den PH präferierten kumulierten Ersparnisse höher als der optimale Kapitalstock sind, ist es ökonomisch rational, die Lücke über explizite oder implizite Staatsverschuldung zu schließen. Eine über die Schuldenbremse verhinderte Staatsverschuldung würde einen ineffizient hohen privaten Kapitalstock erfordern. Ist ein negativer Zins nicht durchsetzbar, wird der Kapitalstock ex ante nicht rentabel. Es wird gar nicht erst investiert, und es kann zur Dauerstagnation oder -depression kommen.7
Bleibt man im Rahmen des Weizsäcker-Raisonnements, so würde seine Ansicht durch die gegenwärtigen Vermögens- und Schuldenstände gestützt:
Das Nettovermögen der PH beläuft sich auf 7 Billionen Euro. Es setzt sich wie folgt zusammen: explizites Nettogeldvermögen = 3 Billionen Euro, Sachvermögen (insbesondere Immobilienbesitz) = 4 Billionen Euro. Der private Kapitalstock (Nettoanlagevermögen zu Wiederbeschaffungspreisen) beläuft sich ebenfalls auf 7 Billionen Euro. Diese Vermögensbilanz würde verändert, wenn man die künftigen Vermögensansprüche der PH aus der Altersvorsorge von 7 bis 8 Billionen Euro einbezieht. Es ergäbe sich ein Vermögen der PH von 14 bis 15 Billionen Euro; der gegenwärtige private Kapitalstock würde bei weitem übertroffen. Dieser müsste in den nächsten Dekaden alleine aufgrund der Altersstruktur doppelt so hoch werden wie jetzt, was Weizsäcker für unwahrscheinlich hält. Die Weizsäcker’sche Sparperiode und ihre Gegenposten würden damit in ihren Größenordnungen bestätigt. Die vorstehenden Angaben sind allerdings grob und tentativ und müssten durch eine detaillierte gesamtwirtschaftliche Vermögensrechnung nach Arten und Sektoren überprüft werden.
Bei dieser Deutung der Weizsäcker’schen Gedanken kann man aber nicht anhalten. Wie vorne im Zusammenhang mit der Wirkungsweise des Umlagesystems diskutiert, ist einzufügen, dass die Renten – respektive die Vermögensansprüche der PH im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf – realisiert werden, und auf welchem Wege das geschieht. Dieser Vorgang erfolgt nicht über explizite Staatsverschuldung, sondern über die Sozialbeiträge der aktiven Erwerbstätigen. Reichen jene je nach der Einkommensentwicklung nicht aus, so stünde der Wirtschaftspolitik die Möglichkeit offen, die Rentenansprüche zu kürzen oder die Lebensarbeitszeit zu erhöhen. Das alles ist bekannt und Gegenstand wirtschaftspolitischer Diskussionen. Mit dieser „Abdeckung“ der Vermögensansprüche wird aber der erforderliche private Kapitalstock reduziert. Man kann Weizsäcker wohl nicht vorwerfen, er würde diese Zusammenhänge nicht kennen. Er besteht auf seiner vorne zitierten Spar- und Produktionsperiode, weil und indem er das grundsätzliche Problem aufzeigen und angesichts der Größenordnung der impliziten Staatsverschuldung und der Zinsschranke nach unten die „Notwendigkeit“ von Staatsschulden betonen will. Das könnte Anlass für eine intensivere Debatte sein.8
Damit ist man bei der Empirie angelangt. Auch von dieser Seite her ist die Weizsäcker-These zu stützen. Seit Ende der 60er Jahre ist die Staatsverschuldung auf 2 Billionen Euro gestiegen. Bei einer situationsgerechteren Budgetpolitik hätte sie etwas weniger stark sein können, aber sie ganz zu stoppen, wäre vermessen. Darauf verweisen auch die folgenden Abschnitte insbesondere zur Entwicklung der Finanzierungssalden.
Leistungsbilanzüberschüsse
Die Annahme einer geschlossenen Volkswirtschaft und eines geschlossenen OECD/C-Raums ist in dem Modell schlüssig, weil eine höhere Absorption überschüssiger Ersparnisse nicht durch die verbleibende übrige Welt erhofft werden kann. Die historische Wirklichkeit ist aber durch enorme Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb dieses Raums gekennzeichnet. Was Deutschland anbetrifft, so haben die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse die strukturellen Sparüberschüsse des deutschen privaten Sektors über dessen Investitionen über weite Strecken weit mehr absorbiert als dies die staatlichen Finanzierungsdefizite taten (vgl. Tabelle 2). Deutschland wies gegen Ende der 80er Jahre sowie vor der letzten Finanzkrise Leistungsbilanzüberschüsse von teilweise über 6% des BIP aus, während die staatlichen Defizite deutlich niedriger waren. Man kann argumentieren, dass die öffentlichen Defizite gerade deshalb so niedrig sein konnten, weil die Leistungsbilanzüberschüsse so hoch waren, aber auch umgekehrt. Deutschland ist seit 1950 ein strukturelles Exportüberschussland mit zuletzt den höchsten Leistungsbilanzüberschüssen unter den großen entwickelten Volkswirtschaften.
Tabelle 2
Finanzierungssalden
Jahre | Privathaushalte | Unternehmen | Privateinsgesamt | Staat | Übrige Welt |
---|---|---|---|---|---|
FSph | FSu | FSph+u | FSst | FSüw | |
1960/64 | 5,9 | -7,4 | -1,4 | 1,8 | 0,3 |
1965/69 | 7,2 | -5,9 | 1,2 | -0,4 | 0,8 |
1970/74 | 8,1 | -6,7 | 1,4 | -1,2 | 0,3 |
1975/79 | 7,5 | -3,7 | 3,8 | -3,3 | 0,5 |
1980/84 | 6,9 | -4,3 | 2,7 | -2,9 | -0,2 |
1985/89 | 6,5 | -1,4 | 5,1 | -1,2 | 3,8 |
1991/94 | 4,3 | -2,9 | 1,4 | -2,7 | -1,3 |
1995/99 | 3,3 | -1,6 | 1,6 | -2,6 | -0,9 |
2000/04 | 5,0 | -0,4 | 4,6 | -3,1 | -1,5 |
2005/09 | 6,0 | 1,9 | 7,9 | -1,6 | 6,3 |
Differenzen in den Summen durch Runden der Zahlen.
Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserien VGR, verschiedene Jahrgänge; Deutsche Bundesbank; Ergebnisse der Gesamtwirtschaftlichen Finanzierungsrechnung für Deutschland 1991 bis 2009, Juni 2010; eigene Berechnungen. Wegen Gebietsänderung und Revisionen der VGR sind die Zeitreihen nicht ganz vergleichbar.
Die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse ziehen sich wie ein roter Faden durch die deutsche Wirtschaftsgeschichte.9 Die interne Absorption war schon immer niedrig. Eine wesentliche Ursache dafür war das deutsche monetäre Regime, die auf strikte Preisstabilität ausgerichtete deutsche Geldpolitik. Die davon ausgehende gesamtwirtschaftliche Budgetrestriktion dominierte die beiden anderen Politikbereiche und beeinflusste die spezifische deutsche Produktionsstruktur. Es gelang der Geldpolitik, eine tendenzielle Unterbewertung der Währung zu erhalten, gestützt zunächst durch das Bretton-Woods-System, dann durch die Währungsschlange und das EWS. Seit der Gründung der Europäischen Währungsunion (EWU) sind es die Löhne, die die Unterbewertung absicherten. Es überzeugt deshalb wenig, wenn argumentiert wird, dass die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung eine wesentliche Ursache für Kapitalexporte ist. Denn der Alterungsprozess hat auch die anderen Länder des OECD-Raums erfasst. Diese müssten dann ebenfalls ihr Heil in außenwirtschaftlichen Überschüssen suchen.10 Letztere hängen von der Wettbewerbsfähigkeit ab, die von der nicht-preislichen (Angebotsstruktur, forschungsintensive und High-Tech-Güter) und der preislichen und somit erheblich von der lohnlichen Wettbewerbsfähigkeit bestimmt wird. Je mehr die Wirtschaftspolitik die internationale Wettbewerbsfähigkeit für den Standort Deutschland betont und sie zu einem wirtschaftspolitischen Hauptziel erklärt, umso mehr resultiert daraus ein Klima, das einen Lohndruck von den industriellen Kernen bis zu den niederen Dienstleistungen bewirkt.
Deutschland hat unterstützt durch den Rat ökonomischer Experten über lange Jahre eine Politik der Lohnzurückhaltung nach der Gleichung „Zuwachs des Produktreallohns < Zuwachs der Produktivität“ forciert. Dies hat zu hohen Leistungsbilanzüberschüssen beigetragen, die die internationalen Ungleichgewichte auch insbesondere in Europa und der EWU verstärkten. Die Kehrseite war in Deutschland eine ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung und eine schwache inländische Konsumnachfrage. Vom Zuwachs des Volkseinkommens von 1991 bis 2008 entfielen 55,5% auf das Arbeitsentgelt und 44,5% auf die Unternehmens- und Vermögenseinkommen.11
Es fragt sich, ob sich diese Verschiebung beschäftigungs- und einkommenspolitisch rechtfertigen lässt. Außenwirtschaftliche Ungleichgewichte – zumindest wenn sie länger anhalten – sind immer auch die Gegenposten zu binnenwirtschaftlichen Ungleichgewichten. Es läge daher im eigenen deutschen Interesse, diese Grundkonstellation zu ändern, die Ungleichgewichtssituation zumindest offen anzusprechen und bewusst zu machen. Die deutsche Wirtschaftspolitik ist sich implizit dieser Fehlentwicklungen bewusst und will sich gegen den Vorwurf einer Beggar-thy-neighbour-policy abschirmen, wenn sie mit dem Slogan „deutsche Konjunkturlokomotive“ und mit den wieder etwas steigenden Löhnen argumentiert. Es mag Einwände gegen eine quantifizierte Begrenzung der Exportüberschüsse geben, aber es sollte ein explizites Ziel der Wirtschaftspolitik sein, die Binnennachfrage zu stärken und die Exportlastigkeit zu vermindern. Wesentliche Bedingung für einen Abbau ist eine wirklich gesamtwirtschaftlich zentralisierte, produktivitätsorientierte Lohnpolitik.
Stagnative Strukturen?
Eine strukturelle Diskrepanz Spr>Ipr bedeutet, dass die Volkswirtschaften ohne staatliche Verschuldung und/oder ohne Absorption durch die Auslandsnachfrage in eine Keynes’sche Depression Economics fallen würde. Ein Counterfactual Scenario, wie die Entwicklung ohne Staatverschuldung verlaufen wäre, ist uns verwehrt. Wir können nicht empirisch nachprüfen, ob ein solcher Keynes-Fall eingetreten wäre. Tatsächlich gab es seit den 70er Jahren fast überall öffentliche Defizite und in Deutschland und anderswo außenwirtschaftliche Überschüsse. Ein Keynes-Fall, der ein permanentes kompensatorisches Deficit Spending gerechtfertigt hätte, wurde in Deutschland überwiegend verneint. Es habe vielmehr im ganzen ein stabiler neoklassischer Korridor bestanden. Die Ökonomien seien „gleichgewichtsfähig“12 gewesen; sie hätten nach Abweichungen alsbald zu einem befriedigenden Zustand zurückgefunden. Darauf berufen sich die Konsolidierer, der Sachverständigenrat in seiner Mehrheit, die Institute, der akademische Mainstream, die maßgeblichen internen Berater der Bundesregierung.
Inwieweit im hier diskutierten Zusammenhang für Deutschland oder für andere Volkswirtschaften das Signum einer Stagnation gelten könnte, auf welche Länder die strukturelle Diskrepanz S > I passt, wird hier nicht erörtert.13 Für die westlichen Volkwirtschaften gibt es zwar die gemeinsame Klammer der alternden Bevölkerungen, aber die wirtschaftlichen Strukturen sind im einzelnen verschieden. Folgendes kann bei den OECD-Ländern festgestellt werden: unterschiedliche Entwicklungen der Bevölkerung, des Wirtschaftswachstums, der Spar- und Investitionsquoten des privaten Sektors, der Lohnstückkosten und realen Wechselkurse, zwar hohe, aber doch unterschiedliche öffentliche Defizite und Schuldenstände sowie voneinander abweichende Zinsraten.
Entwicklung der Finanzierungssalden
Soll die Schuldenbremse durchgesetzt werden, müsste der staatliche Saldo FSst Null oder sogar überschüssig werden. Außerdem sollte sich der Leistungsbilanzsaldo FSüw vermindern. Die Umschichtung müsste eine Größenordnung von 7 bis 8 Prozentpunkten des BIP erreichen, damit beide Salden Null würden. Dazu stellen sich folgende Fragen:
- Wie müssten sich die Salden der PH FSph und der Unternehmen FSu verändern?
- Wie kann man den Saldo gegenüber der übrigen Welt FSüw abbauen, wenn sich die deutsche Lohnpolitik fortsetzt?
- Unter welchen Umständen könnte sich die Saldenstruktur verändern?
- Sollte überhaupt die Leistungsbilanz im wirtschaftspolitischen Zielkatalog stehen?
Die in Tabelle 2 gezeigte Saldenstruktur und ihre Veränderungen erlauben einige für das Thema wichtige Feststellungen:
- Der Sektor PH war ständig in mehr oder weniger großem Überschuss. Die auffallendste Entwicklung wies der Unternehmenssektor auf. Er befand sich bis Mitte der letzten Dekade im Defizit. Aber seine Defizitposition ging seit Mitte der 70er Jahre tendenziell zurück, um zuletzt in einen Überschuss einzumünden (vgl. auch vorne: Selbstfinanzierungsquoten der Unternehmen).
- Die Gegenposition zu den Unternehmen nahm die anhaltende Defizitposition des Staates und in der zweiten Hälfte der 80er Jahre sowie der letzten Dekade die Leistungsbilanzüberschüsse ein. Die längerfristig entscheidenden Gegenpositionen in den Salden lassen sich aber in denen des Unternehmens- und des staatlichen Sektors ausmachen: Weizsäckers Bestands-Strom-Grundgleichung: S = D + I. Sind diese Gegenpositionen antagonistisch oder komplementär? Dazu gibt es die zwei unterschiedlichen Erklärungen:
- Nach der einen hätte der vom Staat selbst ausgelöste Übergang in seine Defizitposition die unternehmerischen Investitionsmöglichkeiten geschädigt, die vorne erwähnte Crowding-out-These. Dies ist der Hintergrund der Konsolidierungsstrategie. Der Staat muss danach seine Ausgaben, Abgaben und Defizite vermindern, damit die private Wirtschaft, insbesondere der Unternehmenssektor, wieder „besser atmen“ kann. Staatliches Fehlverhalten ist die Ursache der Malaise.
- Nach der anderen Erklärung fungieren der Staat und die übrige Welt als „Absorbierer“ der hohen privaten Ersparnisse. Der Staat und das Ausland sichern danach die Unternehmensgewinne und -bilanzen. Ohne diese beiden kompensierenden Sektoren würden die Unternehmen und die Volkswirtschaft in eine größere stagnative Entwicklung einmünden.14
Welche Wirtschaftspolitik?
Dies führt zur Frage des wirtschaftspolitischen Assignment, ob und wie die großen wirtschaftspolitischen Ziele den wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern zugeordnet werden. Dazu gibt es zwei differierende Ansichten:
- Das heute (noch?) vorherrschende neoklassische Assignment, bei dem den drei wirtschaftspolitischen Entscheidungsträgern jeweils eines der großen wirtschaftspolitischen Ziele zugewiesen wird: Der Geldpolitik die Preisstabilität, der Lohnpolitik die Beschäftigung, der Finanzpolitik ein in Normaljahren ausgeglichenes und konjunkturneutrales Budget und eine effiziente, den Marktprozess fördernde Allokation der volkswirtschaftlichen Ressourcen. Unter den drei Politikbereichen hat die Geldpolitik die Dominanz. Sie gibt mit ihren geldpolitischen Instrumenten die gesamtwirtschaftliche Budgetrestriktion vor, die die „Ansprüche“ an das BIP begrenzt. In diese Budgetrestriktion müssen sich die Lohnpolitik und die Finanzpolitik einordnen. Dieses Assignment beherrscht überwiegend die grundsätzliche „Anlage“ und „Vorformulierung“ der deutschen Wirtschaftspolitik. Sie ist die Grundlage der Maastricht-Philosophie und -Kriterien und des Paktes für Wettbewerbsfähigkeit zur haushalts- und wirtschaftspolitischen Koordinierung in der EU. Das neoklassische Assignment fußt auf der Vorstellung von der Stabilität des privaten Sektors. Die Brüchigkeit und Aufweichung dieses Assignment sollte aber nicht zuletzt durch die jüngsten Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise offensichtlich geworden sein.
- Das andere Assignment ist die keynesianische kooperative Lösung. Herbert Giersch hat es als das des „keynesianischen sozialen demokratischen Konsensus’“ definiert.15 In Deutschland stand dieses kooperative Konzept hinter Schiller/Arndts Globalsteuerung und Konzertierter Aktion. Das Konzept ist angesichts der Erfahrungen und der Turbulenzen der 70er Jahre aufgegeben worden. Insbesondere nach der Finanz- und Wirtschaftskrise lebt die Debatte wieder auf. In einer Reihe von populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen16 werden Überlegungen zum kooperativen Assignment, zur Rolle des Staates und zum Entwurf einer breiter angelegten Wirtschaftspolitik vorgetragen.
Vieles spricht mit Weizsäcker dafür, dass wir auch künftig nicht ohne öffentliche Defizite auskommen. Angesichts der hohen Schuldenstände ergäben sich daraus unangenehme Konsequenzen. Bei traditioneller Finanzierung der öffentlichen Haushalte über die Anleihemärkte müsste sicher sein, dass dies zu Zinsbedingungen ohne spekulative Blasen möglich wird. Die Finanzmärkte müssen Risiken übernehmen und die finanziellen Ressourcen allokativ effizient verteilen. Treten aber vom Finanzsektor ausgelöste Krisen wie die letzte auf, dann muss der Allokationsaspekt weichen, selbst wenn es kurzfristig Wachstum und Beschäftigung kostete. Auch Verbote sind notwendig. Ob die Beteiligung der Gläubiger an Bankverlusten wirksam ist, hängt von den Machtpositionen in den Instituten ab. Sichere tragbare Finanzmärkte haben jedenfalls Priorität. Sonst stünden wesentliche Pfeiler des Wirtschaftssystems auf dem Spiel: Die „outright“ Finanzierung der öffentlichen Defizite durch Offenmarktpolitik oder die Direktfinanzierung des Staates durch die Notenbanken, Kapitalverkehrskontrollen und Verstaatlichungen würden wahrscheinlich. Fungiert der Staat als Lückenbüßer für eine fehlende Investitionsnachfrage, sind die haushaltswirtschaftlichen Prioritäten sorgfältiger als bisher zu setzen. Schließlich gilt das Haavelmo-Theorem, nach dem steuerfinanzierte Staatsausgaben bei sorgfältig ausgewählten Strukturen Wachstumseffekte haben.
Schlussbemerkung
Die vorstehenden Überlegungen sprechen dagegen, dass der Staat nur seine eigenen Parameter in Richtung Abbau der Defizite zu setzen braucht, um Investoren und Konsumenten stabile und wachstumsfördernde gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen zu bieten. Dass das nicht so funktioniert, hat die Wirklichkeit gezeigt. Damit ist der Bogen zum anfänglichen theoretischen Weizsäcker-Ansatz zurückgespannt. Der von Weizsäcker hergestellte Zusammenhang von privatem Sparen und temporaler Kapitaltheorie wird von der vorstehenden Analyse gestützt. Eine andere Frage ist, ob Weizsäcker die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen im neoklassisch/keynesianischen Kontext teilt, die sich aber aus seinen eigenen Überlegungen und den hier vorgetragenen ergeben.
Die Marktwirtschaft hat sich trotz (oder gerade wegen?) einer hohen Staatsquote als robust erwiesen. Die Politik erfuhr aber immer häufiger, dass der Staat einspringen muss: Bei den Banken, konjunkturell, bei der Umverteilung, wachstumspolitisch. Die Wirtschaftspolitik sollte das explizit in ihre Programmatik aufnehmen. Eine breitere Debatte über die Wirtschaftspolitik und ihre theoretischen Grundlagen ist dringend notwendig. Die vermögenstheoretischen Ableitungen Weizsäckers sind ein Beitrag. Eine Änderung des wirtschaftspolitischen Klimas wird von der Fachwelt ausgehen und von ihr argumentativ vorformuliert werden müssen.
Anmerkung: Für wertvolle Hinweise dankt der Autor Volker Hallwirth, Ullrich Heilemann und Ernst Helmstädter. Fehler und Fehlinterpretationen gehen zu Lasten des Autors.
- 1 Zeitgespräch zum Thema „Fiskalpolitik nach der Krise“ mit Beiträgen von Friederike Spiecker, Clemens Fuest, Philipp Rother, Ludger Schuknecht, Jürgen Stark, Carl Christian von Weizsäcker und Heiner Flassbeck, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 11, S. 711-727.
- 2 Vgl. A. A. Weber: Volkswirtschaftliche Perspektiven für die Kapitalmärkte, Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 53, 21.12.2010, S. 3.
- 3 Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich in E. Neuthinger: Anatomie eines Wachstumspfades – Zur wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1983 – Rückschauende Analyse, Ausblick und wirtschaftspolitische Bewertung, in: Konjunkturpolitik, 34. Jg. (1988), H. 4.
- 4 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Statistisches Taschenbuch 2010, Ziffer 7.2.
- 5 Zum Weizsäcker- Konzept der Spar- und Produktionsperiode aus theoretischer Sicht vgl. E. Helmstädter: Der Konsum im Ruhestand und die temporale Kapitaltheorie, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 7, S. 481-485.
- 6 Es gab selbstverständlich unter den einzelnen Unternehmensgruppen erhebliche Unterschiede im Selbstfinanzierungs- und Verschuldungsgrad (Spreizeffekt).
- 7 Weizsäckers Überlegungen lassen sich trefflich gegen das Kapitaldeckungssystem wenden; er hat den Einwänden gegen dieses System einen wichtigen neuen hinzu gefügt. Wenn er die künftigen Ansprüche der PH gegen den Staat als deren Vermögen ansieht, bejaht er die Barro’sche Frage: Are Government Bonds Net Wealth?, vgl. R. Barro: Are Government Bonds Net Wealth?, in: Journal of Political Economy, 82. Jg., November/Dezember 1974.
- 8 Schon vor über zwei Dekaden gab es eine Debatte um einen ökonomisch sinnvollen Nachweis staatlicher und privater Transaktionen, die auf die intertemporalen und intergenerationalen Auswirkungen der Fiskalpolitik abstellte. Nach dem Nettowert-Konzept von Buiter sind die Bestände an Vermögenswerten und Verbindlichkeiten sowie die künftigen Einnahmen und Belastungen zu berücksichtigen. Kotlikoff entwickelte das Konzept des ökonomischen Defizits. Er plädierte für ein Transaktionsprinzip auf der Basis langfristig wirkender staatlicher Entscheidungen. Vgl. dazu W. H. Buiter: Measuring Aspects of Fiscal and Financial Policy, CEPR Discussion Paper, Nr. 13, London 1984; sowie L. J. Kotlikoff: From Deficit Delusion to the Fiscal Balance Rule: Looking for an Economically Meaningful Way to Assess Fiscal Policy, National Bureau of Economic Research, Washington DC 1988; und E. Neuthinger: Budgetkonzepte und Budgetindikatoren im Wandel, in: Empirische Wirtschaftsforschung und wirtschaftspolitische Beratung, Willi Lamberts zum 60. Geburtstag, in: U. Heilemann, P. Klemmer, K. Löbbe (Hrsg.): Untersuchungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, RWI Essen, H. 8, Essen 1993.
- 9 Zur außenwirtschaftlichen Bilanz vgl. W. Stützel: Ist die schleichende Inflation durch monetäre Maßnahmen zu beeinflussen?, in: Beihefte zur Konjunkturpolitik, Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung, H. 7, 1960; H. Riese: Geldpolitik als Grundlage der ökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, in: W. Fischer (Hrsg.): Währung und Soziale Marktwirtschaft, Erfahrungen und Perspektiven nach 40 Jahren, Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF. Bd. 190, 1989; E. Neuthinger: Germany’s Enduring Current Account Surplus, in: Intereconomics, 24. Jg. (1989), H. 3. Schon früh hat Preiser visionär die deutsche außenwirtschaftliche Entwicklung vorweg genommen, vgl. E. Preiser: Kapitalexport und Vollbeschäftigung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 162, 1950. Preiser unterschied zwischen dem sustentativen, beschäftigungs- und wachstumsstützenden, und dem amplificativen, renditeerhöhenden Kapitalexport.
- 10 Nach dem Sustainability Report der EU- Kommission lag die Lebenserwartung in Deutschland bei den Frauen 2008 mit 82,6 Jahren, bei den Männern mit 77,3 Jahren auf dem Durchschnitt der EU-27-Länder, vgl. European Commission: Sustainability Report 2009, European Economy, Nr. 9, 2009.
- 11 Zum Zusammenhang zwischen Leistungsbilanzüberschüssen und Einkommensverteilung vgl. auch A. Oberhauser: Internationale Kapitalbewegungen, Änderungen der Leistungsbilanzsalden und Einkommensverteilung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. (Vol.) 206/4-5, 1989.
- 12 Der Begriff stammt von E. Helmstädter: Internationale Ungleichgewichte – gestörte Anpassungsprozesse, Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik, Januar 1989. Ludwig-Ehrhard-Stiftung, Symposium XXVI, Geld- und Währungspolitik, Stabilität nach innen und außen.
- 13 Die Antwort hängt auch von der Definition einer Stagnation ab. Harrod hat vor über 60 Jahren vermutet, dass die entwickelten westlichen Volkswirtschaften früher oder später vor dem Problem der Stagnation stehen würden, vgl. R. F. Harrod: Towards a Dynamic Economics, Vorwort, London 1949, S. VI.
- 14 Jedenfalls muss in einer offenen Wirtschaft die obige Gleichung von Weizsäcker: S = D + I durch: S = D + LBÜ + I ergänzt werden. Auch der Leistungsbilanzüberschuss LBÜ gerät wie das staatliche Defizit in die Rolle des „life-saver“, wie es Machlup einmal formulierte, zitiert nach E. Preiser, a.a.O., S. 326.
- 15 „In this sense Keynes can be regarded as the godfather of a worldwide social democratic consensus“, H. Giersch: Economic Policies in the Age of Schumpeter, Papers and Proceedings of the First Annual Congress of the European Economic Association, in: European Economic Review, 31. Jg. (1987).
- 16 So G. A. Akerlof, R. J. Shiller: animal spirits, wie Wirtschaft funktioniert, Frankfurt/New York 2009; S. Dullien, H. J. Herr, C. Kellermann: Der gute Kapitalismus – und was sich dafür nach der Krise ändern müsste, Bielefeld 2009; R. Skidelsky: Die Rückkehr des Meisters. Keynes für das 21. Jahrhundert, München 2010; H. Flassbeck, F. Spiecker: Das Ende der Massenarbeitslosigkeit, Mit richtiger Wirtschaftspolitik die Zukunft gewinnen, Frankfurt/Main 2007; S. Schulmeister: Mitten in der großen Krise. Ein „New Deal“ für Europa, Wiener Vorlesungen, 2. Aufl., Wien 2010; European Trade Institue (etui): After the crisis: towards a sustainable growth model, in: A. Watt, A. Botsch (Hrsg.), Belgien 2010.
Antworten an Helmstädter und Neuthinger
Zu Ernst Helmstädter:
Helmstädter nennt drei „Verfahren der Konsumgüterversorgung im Ruhestand durch soziale Interaktion.“ Die mittlere Variante einer „Beteiligung an der Produktion (in Weizsäckers Modell)“ beruht auf einer Fehlinterpretation meines kapitaltheoretischen Ansatzes. Ich gehe auf diese Ausführungen von Helmstädter nicht weiter ein. Mein eigener kapitaltheoretischer Ansatz ist in meinem (vergriffenen) Buch „Steady State Capital Theory“ aus dem Jahre 1971 niedergelegt. Eine neue Darstellung und Weiterführung für aktuelle Zwecke ist niedergelegt in meinem Aufsatz „Public Debt Requirements in a Regime of Price Stability“1. Die beiden anderen „Verfahren“, die Helmstädter nennt, sind das Kapitaldeckungsverfahren und das Umlageverfahren. In meiner Sicht ist das Kapitaldeckungsverfahren jenes, das versucht, ohne implizite Staatsverschuldung auszukommen. Das Umlageverfahren kann dann als ein Kapitaldeckungsverfahren mit daran gekoppelter gleichzeitiger Staatsverschuldung in der Höhe des nach dem Kapitaldeckungsverfahren erforderlichen Deckungsstocks verstanden werden. Meine These ist, dass Preisstabilität nur funktioniert, wenn es eine erhebliche Staatsschuld gibt. Als Variante meiner Hauptthese kann man auch formulieren: Das Kapitaldeckungsverfahren bei der gesetzlichen Rentenversicherung ist nicht kompatibel mit dem Ziel der Preisstabilität – es sei denn, die explizite Staatsschuld wird erheblich erhöht.
Helmstädter stellt zum Schluss vier Fragen: Die beiden ersten Fragen ergeben sich aus seiner Interpretation meines kapitaltheoretischen Ansatzes. Ich gehe hierauf im Detail nicht ein, weil ich diese Interpretation für verfehlt halte. Grundsätzlich kann ich aber auf mein Theorem des Kapitalmarktgleichgewichtes verweisen: „Im Gleichgewicht müssen durchschnittliche Produktionsperiode und durchschnittliche Sparperiode gleich groß sein.“ Details sind enthalten in meinem oben genannten Papier „Public Debt Requirements in a Regime of Price Stability“, dort insbesondere Abschnitt VII. Dies beantwortet auch die dritte Frage von Helmstädter: Die Sparperiode ist als zeitlicher Abstand zwischen dem zeitlichen Schwerpunkt des Konsums und dem zeitlichen Schwerpunkt des Lohnerwerbs definiert, weil sie dem Pro-Kopf-Bestand des Vermögens einer gleichmäßig verteilten Bevölkerung entspricht, wenn man dieses Vermögen durch den alljährlichen Pro-Kopf- Konsum teilt. Zur Veranschaulichung: Die Wassermenge eines Sees ist das Produkt aus dem täglichen Zufluss an Wasser und dem durchschnittlichen zeitlichen Vorlauf des Zuflusses vor dem Abfluss. Das ist die einfache Arithmetik des Zusammenhangs zwischen stationären Strömungsgrößen und Bestandsgrößen. In der letzten Frage stimmt Helmstädter im Kern meiner oben gemachten Aussage zu: Das Umlageverfahren ist die Verkoppelung des Kapitaldeckungsverfahrens mit gleichzeitiger Staatsverschuldung in Höhe des Kapitaldeckungsstocks. Der Zusammenhang dieses Gedankens mit der Kapitaltheorie ergibt sich daraus, dass es die Kapitaltheorie erlaubt, mithilfe der Sparperiode die Höhe des hypothetischen Kapitaldeckungsstocks abzuschätzen.
Zu Egon Neuthinger:
Angesichts der sehr kompetenten Wiedergabe und Weiterführung meiner Gedanken kann ich hier auf eine Detailkritik der Ausführungen von Neuthinger verzichten. Ich verweise nur auf seine Tabelle 2: Finanzierungssalden. Diese beziehen sich auf Deutschland. Im Jahrfünft 2005/2009 haben im Wesentlichen die Finanzierungsüberschüsse der Unternehmen die staatlichen Defizite finanziert, während die Ersparnisse der privaten Haushalte vollständig ins Ausland abgeflossen sind. Für die Banken in Deutschland bestand deshalb eine Art „Anlagenotstand“. Die heimische private Wirtschaft brauchte im Saldo keine zusätzlichen Kredite. Kein Wunder, dass viele Banken auf dumme Gedanken kamen und in Verkennung der Risiken scheinbar gut rentierende, aber problematische Wertpapiere kauften. Wären die Steuern niedriger und die heimische Staatsverschuldung höher gewesen, hätte die deutsche Volkswirtschaft vermutlich die aus diesem Anlagenotstand entstandenen zwölfstelligen Wertberichtigungen ihres Bankensektors vermieden. Der Schuldenstand des deutschen Fiskus wäre vermutlich nicht einmal höher gewesen als er nun tatsächlich ist, weil man die aus den Banken-Rettungs-Aktionen resultierenden, zusätzlichen, tatsächlichen Staatsausgaben (explizite Staatsschulden) und virtuellen Staatsausgaben (implizite Staatsverschuldung) in Form von De-facto-Garantien für die Solvenz der Banken vermieden hätte. Vielleicht wäre dann auch der Europäische Rettungsschirm nicht erforderlich gewesen, weil wegen der zusätzlichen Nachfrage aus Deutschland die Leistungsbilanzen der mediterranen Länder besser ausgesehen hätten.
Neuthinger plädiert zur Behebung des „Ungleichgewichts“ für eine Stimulierung der heimischen Nachfrage durch Lohnerhöhungen. Ich halte dieses Rezept für problematisch. In der globalisierten Weltwirtschaft steht einfache, wenig qualifizierte Arbeit unter Wettbewerbsdruck seitens der Schwellenländer, in denen die Löhne wesentlich geringer sind. Demgegenüber ist hoch qualifizierte Arbeit ein Engpassfaktor des weltwirtschaftlichen Wachstums. Durch Migration verliert Deutschland im Saldo hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Die richtige Antwort wäre eine Absenkung der Steuerlast insbesondere der gut qualifizierten Arbeitskräfte unter Tolerierung der dadurch entstehenden zusätzlichen staatlichen Defizite.
Zugleich sollte die öffentliche Infrastruktur, insbesondere die Verkehrsinfrastruktur mit höheren Investitionsmitteln dotiert werden. Die Staatsschuldenproblematik in den Peripherieländern des Euro kann nur dann aufgelöst werden, wenn der Europäische Wirtschaftsraum ein kräftiges Wachstum aufweist. Dies aber muss quasi zwangsläufig zu Verstopfungseffekten bei der deutschen Verkehrsinfrastruktur führen – es sei denn, es wird in der allernächsten Zeit kräftig in diese Infrastruktur investiert. Eine zusätzliche Staatsverschuldung durch zusätzliche Investitionen in die Verkehrswege Deutschlands mag damit der Beitrag für eine Lösung der Schuldenprobleme von Griechenland, Portugal, Irland und möglicherweise Spanien und Italien sein. Auch die neuen Mitgliedstaaten Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, die baltischen Staaten würden von einem wachstumsorientierten Ausbau der deutschen Verkehrsinfrastruktur erheblich profitieren.
Wie in meinem Aufsatz dargelegt, spricht im Falle eines niedrigen risikobereinigten Realzinssatzes vieles dafür, dass die Staatsverschuldung in der Staatengemeinschaft insgesamt eher erhöht als gesenkt werden sollte. Die Pflicht von Problemstaaten wie Griechenland oder Portugal zur Einschränkung der Staatsverschuldung bleibt davon unberührt. Indessen sollte die Anpassungslast nicht allein bei den Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten liegen, deren Anpassungsleistung in einer Reduktion der Staatsschulden liegt. Denn, wenn insgesamt die Staatsschulden nicht gesenkt, sondern erhöht werden sollen, dann sollten die Leistungsbilanz-Überschussländer ihre Staatsverschuldung erhöhen.
Dabei kann eine solche Pflicht nicht alleine auf China abgewälzt werden, von dem die westlichen Länder die Einführung einer gesetzlichen Rentenversicherung nach dem Umlageverfahren verlangen. Dies entspricht ja einer massiven Erhöhung der impliziten Staatsverschuldung, von der man sich eine starke Absenkung der privaten Spartätigkeit in China erwartet. Wollten sich andere Länder einer Pflicht zur Erhöhung der Staatsverschuldung entziehen, so käme diese Forderung an China dem folgenden Appell gleich: „China, erhöhe deine Staatsschulden, damit wir unsere Staatsverschuldung senken können.“ Einen solchen Appell aus dem Lande Kants und damit des kategorischen Imperativs zu hören, wäre nicht sehr glaubwürdig.
Ein besonders eklatantes Beispiel für die Verdrehtheit der Argumentation zum Schuldenabbau ist das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Es besteht Einigkeit darüber, dass die Einspeisungspflicht der Netzbetreiber für Wind- und Solarstrom, sowie für Bioenergie zu nicht konkurrenzfähigen Preisen einer Subvention gleichkommt, die an die Betreiber solcher Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen bezahlt wird. Sie wird durch eine Umlage auf alle verbrauchten Kilowattstunden aufgebracht, die wie eine Stromsteuer wirkt. Das EEG löst nun hohe Investitionen in solche Anlagen aus, die, soweit die Anlagenlieferanten im Inland herstellen, hier auch Arbeitsplätze schaffen. Auf diesen Arbeitsplatzeffekt wird von den Befürwortern des EEG mit Stolz verwiesen.
Wenn man aber genauer hinschaut, ist dieser Arbeitsplatzeffekt einer impliziten Staatsverschuldung zu verdanken. Denn die Anlagenbetreiber finanzieren ihre Investitionen in der Erwartung vor, dass sie dann über eine Zeit von zwanzig Jahren die Einspeisevergütung erhalten, die durch die „Stromsteuer“ aufgebracht wird. Der Nachfrage-Entzug durch diese Stromsteuer wird über zwanzig Jahre gestreckt, während der Nachfrage-Zugewinn durch die subventionierte Investition jeweils am Anfang der zwanzig Jahre steht. Der Staat baut damit gegenüber diesen Anlagenbetreibern eine zwanzigjährige Verpflichtung auf, die wie eine Staatsschuld zu sehen ist. Die zusätzliche Beschäftigung beruht somit auf einem durch Staatsschulden finanzierten Vorzieh-Effekt, der nun im Verlauf der kommenden zwanzig Jahre durch entsprechende Beschäftigungs-Entzugseffekte kompensiert wird, denen die allmähliche Amortisation der hier entstandenen impliziten Staatsschuld entspricht.
Dies ist ein Beispiel für die Falschrechnungen, die allenthalben aufgemacht werden, wenn man den Abbau von expliziten Staatsschulden begrüßt, dabei aber den damit einhergehenden massiven Aufbau impliziter Staatsverschuldung vergisst.
- 1 Abrufbar unter http://www.coll.mpg.de/team/page/carl-christian_von-weizsaecker.