Seit einigen Monaten wird in der Fachliteratur und den Medien eine teils heftige Diskussion um die sogenannten Target2-Salden geführt. Vordergründig geht es dabei um ein Verrechnungssystem der Notenbanken der Eurozone. Laut Hans-Werner Sinn, der die Debatte angestoßen hat, haben die in diesem System aufgelaufenen Salden den Charakter eines milliardenschweren Rettungsschirms, an dessen Entstehung kein Parlament mitgewirkt hat.
Angestoßen durch Beiträge von Garber1 und Sinn2 ist in den letzten Monaten eine Diskussion um das Target2 genannte Verrechnungssystem der Eurozone entbrannt.3 Wesentliche Teile dieser Debatte, die hier nicht vollständig nachgezeichnet werden soll, finden sich im jüngsten Beitrag von Sinn und Wollmershäuser.4 Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf das letztgenannte Papier. Sein Zweck besteht darin, einige zentrale Streitpunkte herauszuarbeiten und zu bewerten. Dabei stehen die volkswirtschaftlichen Wirkungen des Verrechnungssystems im Vordergrund der Analyse. Um diese möglichst klar aufzuzeigen, bleiben technische Details ebenso ausgespart wie politische oder normative Fragen.
Was ist Target2?
Das Akronym Target bedeutet „Trans-European Automated Realtime Gross Settlement Express Transfer“. Target2 repräsentiert die zweite Generation dieses von der EZB kontrollierten Verrechnungssystems der Eurozone, an dem sowohl Notenbanken als auch private Institutionen teilnehmen. Weil Target2 als reines Zahlungsverrechnungssystem angelegt ist, addieren sich die Kontostände aller Teilnehmer in jedem Zeitpunkt zu Null. Für die einzelnen Target2-Salden, also Guthaben oder Überziehungen, wurden keine Höchstgrenzen festgelegt, weil man davon ausging, auf den Konten würden nur unwesentliche Abrechnungsdifferenzen verbleiben. Diese Annahme ist durch die Realität inzwischen widerlegt worden, denn ab 2007 kletterten die Salden der nationalen Notenbanken, die in der konsolidierten Bilanz des Eurosystems nicht auftauchen, sondern den nationalen Notenbankbilanzen zu entnehmen sind, auf teils astronomische Beträge. Ende 2010 stand das Target2-Konto der Deutschen Bundesbank als Hauptgläubigerin mit 326 Mrd. Euro im Plus, während die Konten der Hauptschuldner, nämlich der Notenbanken Griechenlands, Irlands, Portugals und Spaniens ein Debet von zusammengenommen 340 Mrd. Euro aufwiesen.5 Die Salden der Notenbanken der übrigen Euroländer waren geringer, wobei Luxemburg mit 68 Mrd. Euro den zweitgrößten Gläubiger stellte und Frankreich mit 28 Mrd. Euro der nächste Schuldner nach dieser Gruppe ist. Pro Kopf der Bevölkerung beträgt das Guthaben im Fall Deutschlands knapp 4000 Euro und im Fall Luxemburgs über 125 000 Euro.6
Was bedeuten Target2-Salden volkswirtschaftlich?
Wegen der Komplexität des geldpolitischen Instrumentariums, die ökonomische Zusammenhänge leicht verdeckt, sei die Analyse der Target2-Salden mit einem stark vereinfachten Modell begonnen, das die beiden Wirtschaftssubjekte A und B und eine Bank umfasst. Im Grundfall liefert der A dem B Ware im Wert von 10 000 Euro auf Rechnung. Weitere Transaktionen finden nicht statt, und es gibt keine anderen Akteure als A, B und die Bank. Von störenden Details wie Transaktionskosten oder einer Eigenkapitalausstattung der Bank wird abstrahiert.
Zahlungsbilanzen werden gewöhnlich nur für Staaten berechnet. Man kann diesen Begriff aber ebensogut auf Individuen beziehen, und tut man dies, dann erzielt A durch die Lieferung der Ware einen „Leistungsbilanzüberschuss“ in Höhe von 10 000 Euro, da er in diesem Umfang exportiert hat, ohne etwas anderes zu importieren. Spiegelbildlich hierzu nimmt die Nettoforderungsposition des A um 10 000 Euro zu, was als „Kapitalexport“ gebucht wird. Umgekehrt weist die Leistungsbilanz des B ein Defizit von 10 000 Euro auf, verbunden mit einem Kapitalimport in derselben Höhe.
Nachdem B im zweiten Schritt den Rechnungsbetrag überwiesen hat, wie in Abbildung 1 durch den gestrichelten Pfeil dargestellt, schuldet er der Bank eben diesen Betrag, während das Bankkonto des A ein entsprechendes Guthaben ausweist. Diese schuldrechtlichen Beziehungen sind als durchgezogene Pfeile in Richtung des Schuldners dargestellt. Durch den Geldtransfer ändern sich die Nettoforderungspositionen des A bzw. B nicht, und die Bank hat vorher wie nachher eine Nettoforderungsposition von Null.
Abbildung 1
Verarbeitung einer simplen Überweisung
Zweierlei sei an dieser Stelle festgehalten.
- Erstens hat A die Ware geliefert und den Betrag gespart, weil er sich später – etwa im Alter – eine korrespondierende Rücklieferung oder Dienstleistung erhofft. Verstirbt B oder fällt er aus anderen Gründen aus, dann geht die Rechnung des A nicht auf, da die Bank vermögenslos ist und das Guthaben nach Wegfall ihres Schuldners nicht auszahlen kann. Daher hat A ein virulentes Interesse daran, dass die Bank dem B das Darlehen nur gegen ausreichende Sicherheit gewährt.
- Zweitens gilt mit LB und KB als Abkürzungen für den Leistungsbilanzsaldo bzw. den Kapitalbilanzsaldo für jedes Wirtschaftssubjekt stets
LB + KB = 0.
Ein Leistungsbilanzüberschuss geht immer und unvermeidlich mit einem Kapitalbilanzdefizit, also einem Nettokapitalexport, einher. Diese Tatsache ist keiner empirischen Überprüfung und keinem theoretischen Räsonnement zugänglich, sondern eine begriffliche Identität. Für jedes einzelne Wirtschaftssubjekt addieren sich Leistungsbilanz und Kapitalbilanzsaldo immer zu Null. Dasselbe gilt für beliebige Gruppen von Wirtschaftssubjekten, etwa alle Einwohner eines Staates. Aus diesem Grund können dem obigen Modell beliebig viele weitere Akteure hinzugefügt werden, ohne dass sich an diesem zentralen Punkt etwas ändert.
Im nächsten Schritt sei unter Weitergeltung aller übrigen Modellannahmen unterstellt, dass A und B in verschiedenen Ländern der Eurozone wohnen. Außerdem sei das Modell um eine weitere Geschäftsbank, zwei nationale Notenbanken und die EZB erweitert.7 In Abbildung 2 zeigt der gestrichelte Pfeil wiederum den Geldfluss, während die durchgezogenen Pfeile die daraus resultierenden Forderungen bzw. Verbindlichkeiten symbolisieren und jeweils in Richtung der Schuldner weisen.
Abbildung 2
Verarbeitung einer Überweisung im Target2-System
Im Anschluss an die erforderlichen Umbuchungen sind A und B wie im Grundfall gestellt, und alle beteiligten Geschäfts- und Notenbanken haben ein Nettovermögen von Null. Im Target2-System weist das Konto der A-Notenbank ein Guthaben von 10 000 Euro aus und das Konto der B-Notenbank ein entsprechendes Debet. Mangels anderer Akteure zeigen die Zahlungsbilanzstatistiken einen Leistungsbilanzüberschuss für A-Land und ein korrepondierendes Defizit für B-Land. Auch in einer weiteren bedeutsamen Hinsicht ändert sich gegenüber dem Grundfall nichts: Fällt B als Schuldner aus, dann lösen sich das Geldvermögen des A und seine Hoffnung auf einen späteren realen Rücktransfer in Wohlgefallen auf.
Die Target2-Salden verschwinden, wenn B an A Ware im Wert von 10 000 Euro liefert. Hierdurch werden die Leistungs- und Kapitalbilanzen ausgeglichen; beide Individuen haben für 10 000 Euro exportiert und importiert. Ebenso verschwinden die Target2-Salden, wenn B einen Bond im Wert von 10 000 Euro emittiert, den A zeichnet. In diesem Fall bleibt B-Lands Leistungsbilanzdefizit zwar bestehen, aber es wird durch einen privaten, marktwirtschaftlichen Kapitalimport finanziert. Im Schema der Abbildung 2 löst die Zeichnung des Bonds durch A einen Geldstrom in entgegengesetzter Richtung aus, der alle abgebildeten Forderungen zwischen Banken, Notenbanken und der EZB annulliert.
Folglich kann das Leistungsbilanzdefizit von B-Land entweder durch private Kapitalimporte finanziert werden oder durch einen Target2-Saldo. Im ersten Fall halten Private eine Forderung gegen B-Land, im zweiten die EZB. Da Notenbankforderungen von anderer Natur sind als private Forderungen, liegt es nahe, den Target2-Saldo durch folgende Neudefinition der Kapitalbilanz herauszulösen:
KB = KB* + T.
Hiernach besteht die Kapitalbilanz im weiteren Sinn (KB) aus der Kapitalbilanz im engeren Sinn (KB*), die durch diese Gleichung implizit definiert wird, und dem Saldo des Target2-Systems. T > 0 repräsentiert einen Zahlungszufluss in das betreffende Land, der mit einer Überziehung des betreffenden Target2-Kontos einhergeht. Die Kapitalbilanz im engeren Sinn mag neben privaten Kapitalbewegungen auch andere staatlich induzierte Kapitalbewegungen als die des Target2-Systems umfassen; dieser Umstand wird im Weiteren vernachlässigt. Die vorstehende Definition erinnert an die frühere – im Goldstandard und Bretton-Woods-System geläufige – Unterscheidung zwischen einer Kapitalbilanz im engeren Sinn und der Devisenbilanz. In der Tat besteht zwischen den Target2-Salden und den Devisenbewegungen in einem System fester Wechselkurse eine Analogie, freilich mit dem wichtigen Unterschied, dass Devisenreserven endlich sind, während Target2-Konten im Prinzip grenzenlos überzogen werden dürfen. Durch Einsetzen der vorigen Definition in die Definitionsgleichung der Zahlungsbilanz ergibt sich die Identität:
LB + KB* + T = 0.
Diese Gleichung führt auf den volkswirtschaftlichen Kern des Problems, nämlich auf eine Aussage, die aus rein logischen Gründen wahr ist: Ohne Target2, also im Fall T = 0, müssen Leistungsbilanzdefizite (LB < 0) durch private Kapitalimporte (KB* > 0) finanziert werden. Weigert sich der Markt, einem Land weiteren Kredit zur Verfügung zu stellen, dann kann das betroffene Land kein Leistungsbilanzdefizit unterhalten, sondern nur so viel importieren, wie es exportiert. Im Gegensatz hierzu ermöglicht Target2 die Finanzierung von Leistungsbilanzdefiziten selbst nach vollständiger Kreditrationierung (KB* = 0), und zwar durch Überziehung des bei der EZB geführten Kontos der jeweiligen nationalen Notenbank, also durch T > 0. Sinn hat empirisch gezeigt, dass dieses Szenario auf Griechenland und Portugal zutrifft: Beide Länder konnten ihre Leistungsbilanzdefizite nach Ausbruch der Finanzkrise nicht mehr durch private Kapitalimporte decken, da die Kreditgeber misstrauisch geworden waren. Stattdessen wurden (und werden) die Importüberschüsse über Target2 finanziert. Wie lange dieser Prozess anhalten wird, ist unklar, er wird jedenfalls weder durch Preissignale noch durch endliche Gold- oder Devisenreserven gestoppt.8
Target2 erlaubt aber nicht nur eine prinzipiell unbegrenzte Finanzierung von Leistungsbilanzdefiziten, sondern hat einen weiteren Anwendungsfall, nämlich die Finanzierung von Kapitalflucht (KB* < 0) bei ausgeglichener Leistungsbilanz (LB = 0). Dieses Szenario passt auf Spanien und erst recht auf Irland.9 In beiden Fällen haben sich private Gläubiger aus dem Staub gemacht, und die EZB ist an ihre Stelle getreten. Ökonomisch kam es damit zu heimlichen Bailouts in bisher unbekanntem Ausmaß. Da die Addition der drei Größen LB, KB und T stets Null ergibt, sind Hypothesen, wonach Änderungen von T kausal durch LB bzw. KB verursacht wurden, logisch nicht wasserdicht. Die Grundeinsicht, dass zunehmende Target2-Schulden stets mit Leistungsbilanzdefiziten oder Kapitalbilanzdefiziten oder Kombinationen dieser beiden einhergehen, bleibt davon unberührt. Diese These wurde vorstehend durch zwei Extremfälle illustriert.
Zusammengefasst reflektieren Target2-Salden realwirtschaftliche Forderungen oder Verbindlichkeiten. Ein Target2-Guthaben repräsentiert eine Nettoforderungsposition des betreffenden Landes, hinter der Ansprüche privater Sparer stehen. Umgekehrt repräsentiert eine Target2-Verbindlichkeit entsprechende Schulden des betreffenden Landes, sei es des Staates selbst oder seiner Einwohner und Unternehmen. Anders als Nettoforderungspositionen aufgrund privater Transaktionen sind Guthaben und Schulden im Target2-System ökonomisch nicht koscher, weil sie nicht auf Markttests und harten Kreditwürdigkeitsprüfungen beruhen, sondern auf der Usance des Eurosystems, alle Papiere zu akzeptieren, deren Rating oberhalb von D liegt. Es ist doch ganz einfach: Reagieren private Investoren elastisch auf Risiken, während das Eurosystem aus politischen Gründen unelastisch reagiert, dann findet im Markt eine Reallokation statt, an deren Ende alle schlechten Risiken beim Eurosystem liegen. Genau dies ist in den vergangenen Jahren geschehen.
Welches Risiko besteht für Deutschland?
Wie eingangs geschildert, betrug das Target2-Guthaben der Deutschen Bundesbank Ende des vorigen Jahres rund 326 Mrd. Euro, während Griechenland, Irland, Portugal und Spanien mit zusammen 340 Mrd. Euro im Debet standen. Welches Risiko die Salden für Deutschland bedeuten, hängt vom Szenario ab, das man aufmacht. Betrachtet sei zunächst eine Rückkehr Griechenlands zur Drachme. Kann oder will Griechenland den auf dem Target2-Konto verbleibenden Eurosaldo nicht tilgen, erleidet die EZB einen entsprechenden Verlust. Diesen Verlust haben die nationalen Notenbanken der verbleibenden Euroländer entsprechend ihrem Kapitalanteil zu tragen, wobei auf die Deutsche Bundesbank 27% entfallen. Je nach Höhe des Betrags ist die Deutsche Bundesbank vom Steuerzahler zu rekapitalisieren, hierdurch wird der Verlust aufgedeckt. Den Umstand, dass Deutschland „nur“ 27% der Verluste trägt, halten manche für beruhigend. In Wirklichkeit ist die Quote aber endogen und steigt, je nachdem, wie viele Staaten die Eurozone verlassen, im Extremfall bis auf 100%.
Anders verhält es sich, wenn nicht andere Länder die Eurozone verlassen, sondern Deutschland selbst. In diesem Fall kommt es nicht auf die Verbindlichkeiten der Problemstaaten an, sondern auf das Guthaben Deutschlands, denn die Zurückbleibenden werden sich schwerlich bereitfinden, das deutsche Target2-Guthaben in Gold oder Ähnlichem auszuzahlen und gleichzeitig das volle Risiko gegenüber den Problemstaaten zu übernehmen. Ende 2010 standen insofern für Deutschland 326 Mrd. Euro auf dem Spiel.
Nebenkriegsschauplätze
Gegen die vorstehenden Ausführungen wird niemand viel einwenden können, da es sich um simples Lehrbuchwissen handelt. Die laufende Debatte dreht sich auch nicht um diese Kernpunkte, sondern findet auf Nebenkriegsschauplätzen statt. Nur zur Vervollständigung des Arguments seien hiervon zwei herausgegriffen.
- Erstens implizieren die obigen Überlegungen in keiner Weise, durch Target2 würden deutsche Exporte nach Griechenland finanziert. Dies mag zwar zufällig so sein, ist aber weder zwingend noch von Bedeutung, denn es kommt nicht auf bilaterale Zahlungsbilanzen an, sondern auf die jeweiligen gesamten Zahlungsbilanzen. Der volkswirtschaftliche Effekt ist unabhängig davon, ob Deutschland nach Griechenland exportiert oder Deutschland nach Belgien, Belgien nach Irland und Irland nach Griechenland.
- Zweitens beschränkt das Target2-System keineswegs notwendig die Möglichkeit Deutschlands zur Geldschöpfung und Kreditversorgung seiner Wirtschaft – selbst dann nicht, wenn man eine konstante Zentralbankgeldmenge in der Eurozone unterstellt. Um dies zu zeigen und zugleich die obige Saldenmechanik zu vertiefen, sei ein griechischer Vermögensbesitzer betrachtet, der bei einer griechischen Bank ein Guthaben von 1 Mio. Euro unterhält; die Bank habe diese Einlage zum Erwerb griechischer Staatsanleihen verwendet. Löst der Vermögensbesitzer sein Sparkonto auf und lässt das Guthaben auf ein neu eröffnetes Konto in Deutschland transferieren, dann fließt Zentralbankgeld in Griechenland ab und in Deutschland zu. Diese Ab- und Zuflüsse werden sodann über Target2 neutralisiert, wobei sich die griechische Bank durch Verpfändung von Staatsanleihen bei der griechischen Notenbank refinanziert, während die deutsche Bank ihre Refinanzierung bei der Deutschen Bundesbank reduziert. Im Anschluss an die Neutralisierung haben die nationalen Zentralbankgeldmengen denselben Umfang wie vor der betrachteten Kapitalflucht. An der Möglichkeit deutscher Banken zur Kreditversorgung ändert sich nichts. Die deutschen Banken finanzieren sich lediglich verstärkt über Einlagen und weniger über Notenbankkredit. Allerdings wandert das Risiko vom griechischen Vermögensbesitzer zum deutschen Steuerzahler.
Target2, Eurobonds und der Europäische Stabilitätsmechanismus
Im vorigen Jahr haben die Mitgliedstaaten der Eurozone ausführlich über die Einführung sogenannter Eurobonds debattiert, also über Wertpapiere, für die sie im Verhältnis ihrer EZB-Anteile haften (in einer anderen Definition haften die Staaten sogar gesamtschuldnerisch). Aufgrund des Widerstands vor allem in Deutschland gegen eine derartige Haftungsunion wurde der Plan verworfen. Interessant ist nun, dass die Target2-Salden ökonomisch nichts anderes sind als Eurobonds, denn auch für die Schulden im Target2-System haben alle Mitgliedstaaten im Verhältnis ihrer EZB-Anteile einzustehen. Dieser Aspekt ist außerordentlich wichtig und zugleich beunruhigend, weil die demokratisch legitimierten Volksvertreter Eurobonds abgelehnt haben, während diese auf der Hinterbühne bereits in riesigem Umfang existierten.
Ähnliches gilt für den Europäischen Stabilitätsmechanismus. Dieser „permanente Krisenbewältigungsmechanismus“, ist ebenfalls ökonomisch äquivalent zu Eurobonds: Als Zweckvermögen vergibt der Europäische Stabilitätsmechanismus Kredite an Problemstaaten, für die alle Mitglieder der Eurozone im Verhältnis ihrer EZB-Anteile einstehen müssen. Über die formale Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus soll erst demnächst abgestimmt werden; de facto existiert er längst.
Erst die Erkenntnis der Äquivalenz von Target2, Eurobonds und Europäischen Stabilitätsmechanismus erlaubt es, die jüngeren Konflikte zwischen den Regierungen der Eurozone auf der einen Seite und der EZB auf der anderen zu deuten: Die EZB stützt das Vorhaben eines Europäischen Stabilitätsmechanismus, weil sie insgeheim hofft, ihr Target2-Problem dorthin abzuschieben; sie will diese Schulden nicht am Hals haben. Ihre Hoffnung wird sich aber nicht erfüllen, denn die Regierungen sind ihrerseits nicht daran interessiert, die Target2-Schulden in ihren Einflussbereich zu übernehmen und dadurch gegenüber dem Steuerzahler sichtbar zu machen. Die Regierungen wollen vielmehr mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus einen parallelen, über das Target2-System hinausgehenden Haftungsverbund schaffen, der ihr wichtigstes Recht, das Recht zur ungehemmten Verschuldung, auf lange Zeit stabilisiert.
Lösungsmöglichkeiten?
Die beschriebenen Fehlentwicklungen hätten vermieden werden können, wenn man verlangt hätte, dass Target2-Salden periodisch ausgeglichen oder zumindest durch vollwertige Sicherheiten unterlegt werden müssen. Dies hat man aber – bewusst oder unbewusst – unterlassen. Im Nachhinein ist nicht mehr viel zu machen. Eine Glattstellung der Salden würde Leistungsbilanzüberschüsse bzw. Kapitalimporte der Problemstaaten in dreistelliger Milliardenhöhe voraussetzen. Auch die Forderung, das Eurosystem im Allgemeinen und das Target2-System im Besonderen dürften künftig nur noch vollwertige Sicherheiten akzeptieren, führt nicht weiter, denn welche Sicherheiten könnten griechische oder irische Banken und Notenbanken denn beibringen? Doch nur jene, die sie selbst akzeptiert haben, also Papiere jeder Bonität oberhalb bereits eingetretener Insolvenz. Dass das Eurosystem Ramschanleihen als Sicherheit nimmt, ist nicht nur ein eminenter geldpolitischer Sündenfall, der dieses System zutiefst korrumpiert hat, sondern auch der Kern des Target2-Problems: Salden in dieser Größenordnung wären beim Bestehen auf besten Sicherheiten nicht aufgelaufen.
So wie im obigen Beispiel der A auf seiner Forderung sitzenbleibt, wenn B als Schuldner ausfällt, werden auch deutsche Sparer, Riester-Rentner und Lebensversicherte alsbald erkennen müssen, dass Teile ihres Vermögens auf purer Illusion beruhen. Insofern erinnert der Aufbau von Scheinguthaben im Target2-System an die geräuschlose Kriegsfinanzierung im Deutschland der 1930er Jahre und während des Zweiten Weltkriegs.
Fazit
Der Hinweis Hans-Werner Sinns auf die Gefahren, die sich im Target2-System zusammenbrauen, ist voll und ganz berechtigt. Volkswirtschaftlich sind die Target2-Salden äquivalent zu den (abgelehnten) Eurobonds und auch äquivalent zum (derzeit diskutierten) Europäischen Stabilitätsmechanismus. Indem das Eurosystem Ramschanleihen als Sicherheit akzeptiert, hat es die Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus vorweggenommen, einen gigantischen Haftungsverbund geschaffen und gegen die Grundregel guter Notenbankpolitik verstoßen, wonach geldpolitische Maßnahmen keine Umverteilungswirkungen haben sollten und von finanzpolitischen Maßnahmen streng zu trennen sind. Dass der Chefvolkswirt der EZB mit Blick auf Sinns zutreffende Thesen meint, in der akademischen Welt gingen einige das Risiko ein, ihren guten Ruf zu verlieren,10 ist nicht nur abstrus, sondern erinnert abermals an den Krieg, in dem die Wahrheit bekanntlich zuerst stirbt.
- 1 Dazu P. Garber: The Mechanics of Intra Euro Capital Flight in: Economic Special Report der Deutschen Bank vom 10.12.2010; http://fincake.ru/stock/reviews/56090/download/54478. Dieses Papier ist eine neuere Fassung einer Arbeit von 2003 von Garber, die den Titel “The target mechanism: Will it propagate or stifle a stage III crisis?” trug und erstmals bereits 1998 veröffentlicht wurde.
- 2 H.-W. Sinn: The ECB’s stealth bailout, 1.6.2011; http://www.voxeu.org/index.php?q=node/6599; H.-W. Sinn: Neue Abgründe, in: Wirtschaftswoche, Nr. 8, 21.2.2011.
- 3 Z.B. W. Buiter, E. Rahbari, J. Michels: TARGETing the wrong villain: Target2 and intra-Eurosystem imbalances in credit flows, in: Global Economics View vom 9.6.2011; bei http://www.nber.org/~wbuiter/originalsinn.pdf.
- 4 Vgl. H.-W. Sinn, T. Wollmershäuser: Target-Kredite, Leistungsbilanzen und Kapitalverkehr: Der Rettungsschirm der EZB, ifo Working Paper, Nr. 105, 24.6.2011, http://www.cesifo-group.de/portal/pls/portal/docs/1/1207364.PDF.
- 5 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, März 2011, S. 35.
- 6 Der Target2-Saldo ist online unter www.bundesbank.de/statistik als Zeitreihe EU8148 abrufbar, die gesamte Auslandsposition der Deutschen Bundesbank in der Europäischen Währungszone als Zeitreihe EU8141. Mittlerweile (per 30.6.2011) ist das deutsche Target2-Guthaben auf 337 Mrd. Euro gewachsen.
- 7 Die Zwischenschaltung der beiden Notenbanken ist überflüssig, soweit die Geschäftsbanken selbst an Target2 teilnehmen.
- 8 Bei unbegrenzt wachsenden Target2-Salden könnte die Bundesbank schließlich Schuldnerin gegenüber den inländischen Geschäftsbanken werden, siehe J. M. Abad, A. Loeffler, H. Zemanek: TARGET2 Unlimited: Monetary Policy Implications of Asymmetric Liquidity Manangement within the Euro Area, MPRA Paper, Nr. 31937, 2.7.2011. Dies erscheint zwar ungewöhnlich, ist aber nicht unmöglich.
- 9 Im Ergebnis ähnlich W. Buiter, E. Rahbari, J. Michel, a.a.O.; sowie U. Bindseil, P. J. König: The Economics of TARGET2 Balances, SFB 469 Discussion Paper, 2011-35. Die beckmesserische Kritik all dieser Autoren an Sinn ist nicht recht verständlich.
- 10 Siehe http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ezb-chefvolkswirt-stark-teilt-ordentlich-aus/4275716.html.