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In der Diskussion über die Gesundheitspolitik werden Deutschlands vermeintlich exorbitant hohe und stetig steigende Ausgaben als ein Problem angesehen, das mit immer neuen Reformen bewältigt werden muss. Nach den Daten der OECD liegt der Anteil des Bruttoinlandsproduktes (BIP), der in Deutschland für Gesundheitsausgaben verwandt wird, international tatsächlich nach wie vor an der Spitze (vgl. Tabelle 1) – allerdings innerhalb einer Gruppe von Ländern mit ähnlich hohen Ausgaben wie etwa Frankreich, die Schweiz, die Niederlande und Dänemark. Exorbitant und einzigartig hohe Ausgaben sind nur in den USA zu verzeichnen. Im langfristigen Vergleich zeigt sich nicht, dass Gesundheitssysteme, die vor allem auf private Versicherungsträger setzen, wie beispielsweise in den USA, der Schweiz und den Niederlanden, mit einem geringen Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP verbunden sind. Das trifft eher auf Luxemburg, Schweden und Großbritannien mit ihren staatlich geprägten Gesundheitssektoren zu.

Tabelle 1
Gesundheitsausgaben: Internationaler Vergleich
in % des BIP
  1970 1980 1990 2000 2009
USA 7,1 9,0 12,4 13,7 17,4
Niederlande   7,4 8,0 8,0 12,0
Frankreich 5,4 7,0 8,4 10,1 11,8
Deutschland 6,0 8,4 8,3 10,3 11,6
Schweiz 5,5 7,4 8,2 10,2 11,6a
Dänemark   8,9 8,3 8,7 11,5
Österreich 5,2 7,4 8,3 9,9 11,0
Belgien 3,9 6,3 7,2 8,1 10,9
Portugal 2,4 5,1 5,7 9,3 10,1
Schweden 6,8 8,9 8,2 8,2 10,0
Großbritannien 4,5 5,6 5,9 7,0 9,8
Italien     7,7 8,1 9,6a
Griechenland 5,4 5,9 6,6 7,9 9,5
Spanien 3,5 5,3 6,5 7,2 9,5
Finnland 5,5 6,3 7,7 7,2 8,9a
Luxemburg 3,1 5,2 5,4 7,5 7,8
Irland 5,1 8,2 6,1 6,1  

a 2010.

Quellen: OECD: Health Data 2011 – Frequently Requested Data, www.oecd.org; eigene Berechnungen.

Ob hohe Gesundheitsausgaben nun positiv oder negativ zu bewerten sind, darüber lässt sich trefflich streiten. Zum einen wird die These vertreten, dass mit einem höheren Einkommen eine überdurchschnittlich steigende Nachfrage nach Gesundheitsgütern verbunden ist,1 d.h. die Bürger haben eine steigende Präferenz für Gesundheitsgüter. Zum anderen können hohe Gesundheitsausgaben auch einfach darauf zurückzuführen sein, dass das Gesundheitssystem ineffizient und kostenintensiv arbeitet. Wie schwierig es ist, von der Höhe der Ausgaben auf die Effizienz des Systems zu schließen, haben Gero Müller und Carmen Klement gezeigt.2 Vor allem die Idee, ein hoher Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP würde zu einer hohen Lebenserwartung der Bevölkerung des betreffenden Landes führen, halten sie für zweifelhaft.

Verschiebung im Sozialversicherungssystem

Insgesamt haben die Gesundheitsausgaben in Deutschland seit 1995 von 194 Mrd. Euro auf 278,3 Mrd. Euro und damit im Durchschnitt mit einer nominalen Rate von 2,6% p.a. zugenommen. Sie wuchsen etwas rascher als das BIP im gleichen Zeitraum. Hinter dem von der OECD gemessenen Anteil am BIP verbirgt sich eine Reihe von Ausgabenarten, die in dieser Form in der gesundheitspolitischen Diskussion nicht im Vordergrund stehen. Während die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) das fast ausschließliche Ziel des Interesses in der Öffentlichkeit ist, gibt es viele andere Ausgabenträger, die weniger Beachtung finden. Werden die Ausgaben nach Ausgabenträgern betrachtet, sind folgende Entwicklungen festzustellen (vgl. Tabelle 2):

  • Auf die Ausgaben der Gesetzlichen Krankenkassen entfällt mit 57,8% der größte Anteil der Gesundheitsausgaben. Dieser Anteil ist seit 1995 konstant geblieben. Die Ausgaben der GKV sind nicht schneller gewachsen als die der übrigen Ausgabenträger. Am BIP ist der Anteil der GKV-Ausgaben von 6,1% (1995) auf 6,8% (2009) gestiegen. Er hatte aber bereits 1975 knapp 6% erreicht.3 Allerdings hat die Versichertenzahl in der GKV von 71,3 Mio. (1991) auf 69,5 Mio. (2010) abgenommen.
  • Einen zunehmenden und mittlerweile den zweitgrößten Anteil haben die privaten Haushalte und privaten Organisationen ohne Erwerbszweck mit 13,5% der Ausgaben. Hier spiegelt sich die politisch gewollte Beteiligung der Privaten an ihren Gesundheitskosten durch wachsende Zuzahlungsregelungen und die Ausgliederung einiger Leistungen aus dem Leistungskatalog der GKV wider.4
  • Deutlich von 7,5% (1995) auf 9,3% (2009) gewachsen ist auch der Anteil der Ausgaben der privaten Versicherungen. Diese Zunahme mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, dass die Privatversicherungen ihren Mitgliedern seit 1995 eine Pflegeversicherung anbieten müssen. Sie hängt aber auch damit zusammen, dass die Zahl der Personen mit einer privaten Vollversicherung in den letzten 15 Jahren von knapp 7 Mio. auf mittlerweile fast 9 Mio. Personen und 11% der Bevölkerung (2010) angestiegen ist.5
  • Eklatant ist die Entwicklung der Sozialen Pflegeversicherung, deren Leistungen vom 1.4.1995 für ambulante und ab dem 1.7.1996 für stationäre Pflege abgerufen werden konnten. Ihr Anteil an allen Gesundheitsausgaben nahm von 2,5% (1995) auf 7,3% (2009) zu.
  • Spiegelbildlich dazu sank der Anteil der öffentlichen Haushalte von 12,1% auf 4,9%, nachdem die Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege) nach der Einführung der Pflegeversicherung nur noch in geringem Umfang Pflegefälle finanzieren musste. Hier kam es zu einer erheblichen Umverteilung aus dem Staatshaushalt (und damit von den Steuerzahlern) zu den Beitragszahlern. Entlastet hat sich der Staat möglicherweise auch dadurch, dass er für Empfänger von Grundsicherung seit dem 1. April 2007 nicht mehr die Krankheitskosten direkt übernimmt, sondern für diesen Personenkreis einen Beitrag an die Gesetzliche Krankenversicherung zahlt. In dem Umfang, in dem die Leistungsempfänger größere Kosten verursachen, als es ihrem Beitrag entspricht, sind die Lasten aus dem Staatshaushalt in die Sozialversicherung gewechselt.
Tabelle 2
Gesundheitsausgaben nach Ausgabenträgern
Ausgabenträger 1995 2000 2009
  in Mrd. Euro in % in Mrd. Euro in % in Mrd. Euro in %
Öffentliche Haushalte 23,56 12,1 17,38 7,9 13,66 4,9
Gesetzliche Kranken­versicherung 112,89 58,2 124,39 56,9 160,85 57,8
Soziale Pflege­versicherung 4,92 2,5 15,64 7,2 20,31 7,3
Gesetzliche Renten­versicherung 4,72 2,4 3,94 1,8 4,01 1,4
Unfall­versicherung 3,52 1,8 3,80 1,7 4,46 1,6
Private Kranken­versicherung 14,52 7,5 17,87 8,2 25,96 9,3
Arbeitgeber 8,38 4,3 9,20 4,2 11,59 4,2
Private 21,48 11,1 26,57 12,1 37,50 13,5
Insgesamt 194,00 100,0 218,78 100,0 278,30 100,0

Quellen: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2011/2012; eigene Berechnungen.

Demografischer Wandel?

Die Versichertenstruktur (vgl. Tabelle 3) spiegelt wider, was auch schon bei der Trägerstruktur deutlich wurde.

  • Dabei ist die Gruppe der freiwillig Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung deutlich zurückgegangen, dies nicht nur als Anteil, sondern auch in absoluten Zahlen. Ihren Höhepunkt hatte diese Gruppe mit 11,7 Mio. Personen (Mitglieder und mitversicherte Familienangehörige) 2001 erreicht. Mittlerweile sind nur noch 7,7 Mio. Personen in der GKV freiwillig versichert, davon 4,5 Mio. als Mitglieder und 3,3 Mio. als mitversicherte Angehörige – das sind inzwischen deutlich weniger als in der privaten Versicherung. Für diese Entwicklung gibt es mehrere Ursachen: zum einen wurde die Versicherungspflichtgrenze immer wieder deutlich angehoben. Wächst diese schneller als die Bemessungsgrundlage, haben weniger Personen überhaupt die Wahlfreiheit zwischen privater und gesetzlicher Versicherung. Zum anderen haben die privaten Versicherungen mit sehr günstigen Angeboten für junge Versicherte einen Wettbewerbsvorteil nutzen können. Und schließlich hat die Bundesregierung die Rückkehrmöglichkeiten für privat Versicherte in die GKV zunehmend eingeschränkt.
  • Die demografische Entwicklung ist spürbar, hat aber noch keinen gravierenden Einfluss auf die Versichertenstruktur. Der Anteil der Rentner an den gesetzlich Versicherten ist seit 1991 von 22% auf 26% (2010) gestiegen, die Zahl der Rentner in der Krankenversicherung nahm im gleichen Zeitraum um 2,1 Mio. zu.
  • Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Anzahl der beitragslos mitversicherten Familienangehörigen pro Mitglied: Bei Rentnern entfallen 2010 auf 100 Mitglieder nur sieben Angehörige, sie zahlen ihren Beitrag also fast ausschließlich selbst, während bei den freiwillig Versicherten auf 100 Mitglieder 73 Angehörige kommen, d.h. fast jeder freiwillig Beitragzahlende belastet die GKV noch mit einem beitragslos Mitversicherten. Sogar wenn man die deutlich höheren Pro-Kopf-Ausgaben der GKV für Rentner heranzieht, haben die Ausgaben für die freiwillig Versicherten ein hohes Gewicht: Angenommen deren Kosten entsprechen dem Durchschnitt der Versicherten (ohne Rentner), dann käme es bei Berücksichtigung der Mitversicherten zu Pro-Mitglied-Ausgaben von 4286 Euro p.a., während auf einen Rentner 5127 Euro p.a. entfallen.6
  • Der GKV ist langfristig die Partizipation der Frauen am Erwerbsleben zugutegekommen: Die Mitversicherung von Angehörigen hat in allen Gruppen abgenommen. Auch die geringere Kinderzahl pro Mitglied dürfte sich hier ausgewirkt haben. Die Krankenversicherung profitiert von einer „demografischen Dividende“.
Tabelle 3
Versicherte in der Gesetzlichen Krankenversicherung
Versi­cherte in % Versich­erte in Mio. Personen Mit­versicherte Familien­angehörige pro Mit­glied
Jahr Pflicht­versicherte Frei­willig Versi­cherte Rent­ner Pflicht­versicherte Frei­willig Versi­cherte Rent­ner Ins­gesamt Durch­schnitt Pflicht­versicherte Frei­willig Versich­erte Rent­ner
1970a 58,2b 15,7b 26,1b 17,8b 4,8b 8,0b 30,6b        
1980a 58,3b 12,6b 29,1b 20,6b 4,5b 10,3b 35,4b        
1991 63,7 14,2 22,2 45,4 10,1 15,8 71,3 0,459 0,501 1,029 0,144
2000 60,6 16,2 23,4 43,5 11,6 16,8 71,8 0,403 0,483 0,761 0,095
2005 61,5 12,4 25,9 43,2 8,7 18,2 70,2 0,403 0,521 0,823 0,085
2010 63,0 11,1 25,8 43,8 7,7 17,9 69,5 0,362 0,470 0,733 0,070

a Früheres Bundesgebiet.
b Ohne mitversicherte Familienangehörige.

Quellen: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2011/2012; eigene Berechnungen.

Fazit

Die Daten zeigen, dass Deutschlands Gesundheitssystem im internationalen Vergleich nicht so schlecht dasteht, wie häufig behauptet. Zudem hat es in der Gesetzlichen Krankenversicherung zwar Kostensteigerungen, aber keine Kostenexplosion gegeben. Die Ausgabensteigerungen haben sich über eine sehr lange Zeit an der Entwicklung des BIP orientiert. Allerdings gibt es eine ständige Verschiebung der Ausgaben zwischen den einzelnen Zweigen des Sozialversicherungssystems und dem öffentlichen Haushalt. Die jüngste Diskussion über den mittlerweile hohen Anteil des Bundeszuschusses an den Einnahmen der GKV ist auch vor diesem Hintergrund zu beurteilen. Hier gibt es zwar inzwischen eine hohe Beteiligung der Steuerzahler, mit der Einführung der Pflegeversicherung und der Umstellung der Gesundheitsversorgung von Sozialhilfeempfängern hatte sich der Staat aber zuvor deutlich entlastet.

Vorsichtig ist auch die Bedeutung der demografischen Entwicklung zu beurteilen: Zwar nimmt der Rentneranteil zu, die Ausgaben pro Mitglied der einzelnen Mitgliedergruppen unterscheiden sich jedoch weniger, als es auf den ersten Blick erscheint. Der Rückgang der Zahl der mitversicherten Familienangehörigen mag kurzfristig den Gesetzlichen Krankenkassen höhere Beiträge einbringen, aber langfristig könnte der Wettbewerbsdruck auf die GKV steigen: Zwar flüchten sich freiwillig Versicherte nach wie vor in die GKV, wenn sie zu versichernde Angehörige haben. Wenn die Mitversicherung aber zunehmend als Argument für die GKV ausfällt, werden sich viele aus dieser Gruppe gleich für die Private Krankenversicherung entscheiden.

  • 1 Ausführlich diskutiert in J. W. Henderson: Health Economics and Policy, 5. internationale Aufl., Mason 2012, S. 166 f.
  • 2 G. Müller, C. Klement: Deutsches Gesundheitssystem teuer und ineffizient – eine Fehldiagnose?, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 3, S. 202-207.
  • 3 S. Erbe: Entwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung und Reformansätze, in: Wirtschaftsdienst, 85. Jg. (2005), H. 10, S. 666.
  • 4 M. Müller, K. Böhm: Ausgaben und Finanzierung des Gesundheitswesens, Gesundheitsberichterstattung des Bundes, H. 45, Robert Koch-Institut, Berlin 2009, S. 16.
  • 5 Vgl. Verband der Privaten Krankenversicherung: Zahlenbericht der Privaten Krankenversicherung 2010/2011, Köln, November 2011, S. 27. Die Zunahme bei den Privaten wurde nicht durch die Einführung des Basistarifs 2009 verursacht. Den Basistarif nutzten 2011 nur 23 700 Personen, ebenda S. 23.
  • 6 2010: Ausgaben pro Mitglied in der Allgemeinen Krankenversicherung 2473 Euro x 1,733 = 4286 Euro, verglichen mit den Ausgaben pro Mitglied in der Kankenversicherung der Rentner von 4792 Euro x 1,07 = 5127 Euro. Berechnet nach Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2011/2012, Tabelle 55.


DOI: 10.1007/s10273-012-1398-8