Obwohl die Politik stets beteuert, keine Schulden machen zu wollen, bekommen die meisten Staaten ihr Verschuldungsproblem nicht in den Griff. Ein Vergleich mit individuellen Problemen der Selbstkontrolle, etwa bei Übergewichtigen oder Rauchern, bietet sich hier an. Würden die Staaten den Schuldenabbau tatsächlich wollen, gäbe es funktionierende Lösungskonzepte.
Staatsschulden gehören zu den großen ungelösten Problemen der Finanzpolitik. Außerhalb und innerhalb Europas, vor, während und nach der Finanzkrise, auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene – überall steigen die Schulden als Anteil des Bruttoinlandsprodukts. Es gibt Ausnahmen, doch sie sind begrenzt. Die USA haben zurzeit eine Schuldenquote von 105% des BIP, Japan sogar 248%, die EU 85%, (das abtrünnige Großbritannien 89%). Innerhalb der Eurozone, die insgesamt mit einer Schuldenquote von 91% etwas schlechter als Europa insgesamt dasteht, sind Griechenland (176%), Italien (132%) und Portugal (129%) die Ausreißer nach oben. Deutschland ist mit 71% besser als der Durchschnitt, reißt aber das 60%-Schuldenkriterium des Maastricht-Vertrags deutlich. Innerhalb Deutschlands sind es vor allem die Stadtstaaten Bremen und Berlin sowie das Saarland, die mit hohen Verbindlichkeiten kämpfen. Auf kommunaler Ebene konzentrieren sich die Problemfälle in Nordrhein-Westfalen.
Hohe Schuldenstände allein würden noch kein Problem darstellen, wenn sie nur eine Folge einmaliger Ausgabenschübe wären, also etwa auf das beherzte Eingreifen des Staates in der Finanzkrise zurückzuführen wären. Doch die Verbindlichkeiten waren überwiegend schon vor der Krise auf ein bedenkliches Niveau gestiegen. Selbst am Ende des langen Vorkrisen-Booms erfüllten nur elf der 19 Eurostaaten die selbstgesteckten Schuldenziele des Maastricht-Vertrags (zurzeit sind es mit Luxemburg, der Slowakei und den baltischen Staaten nur noch fünf kleine Länder).
Wer daran gezweifelt hat, dass Staatsschulden ein Problem darstellen, obwohl der Staat souverän über die Höhe seiner Einnahmen und Ausgaben entscheiden kann, der wurde spätestens durch die seit 2009 andauernde Eurokrise eines Besseren belehrt. Schulden haben die Krise auf zweierlei Weise verschärft. Zum einen haben internationale Investoren angesichts der hohen Verbindlichkeiten in einigen Ländern das Vertrauen verloren, ihr Kapital abgezogen und damit auch wirtschaftlich gesunde Strukturen innerhalb dieser Länder zerstört. Zum anderen haben Schulden die Stabilisierungsfunktion des Staates beeinträchtigt, weil im Abschwung keine Ressourcen mehr übrig waren und folglich Ausgabensenkungen notwendig wurden, die auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage durchschlugen. Jetzt, nach der Krise, behindern die übermäßigen Schuldenquoten einiger Eurostaaten eine effektive Regulierung des Bankensystems und legen der Geldpolitik Fesseln an. So stößt der eigentlich unstrittige Vorschlag, Staatsanleihen in Bankenportfolios mit Eigenkapital zu hinterlegen, auf heftigen Widerstand der Länder, in denen ein Anstieg der staatlichen Refinanzierungskosten eine Schuldenkrise auszulösen droht. In Italien etwa kostet jeder Prozentpunkt mehr Zinsen etwa 4% der Steuereinnahmen.1 Ein kräftiger Anstieg der Anleiherenditen auf ein risikoadäquates Niveau würde unweigerlich mindestens eine politische Krise auslösen. Aus gleichem Grund sind der EZB Nebenbedingungen in der Geldpolitik gesetzt, insbesondere was das Zinsniveau angeht. Schließlich muss man zu den Konsequenzen übermäßiger Schulden auch die tiefe politische Krise in Griechenland und die hässlichen populistischen Bewegungen in den Geberländern zählen.
Erklärungsversuche
Angesichts dieser massiven negativen Implikationen exzessiver Staatsverschuldung stellt sich die Frage, warum die Regierungen systematisch bei der Begrenzung der Neuverschuldung versagen. Denn Verschuldung passiert nicht einfach, sie wird in Parlamenten debattiert und dann mit politischer Mehrheit beschlossen. Und sich nicht zu verschulden ist einfach: weniger ausgeben bzw. mehr einnehmen. Mit vorausschauenden Wählern und einem funktionierenden politischen System sollte man Verschuldung allenfalls als Instrument zur intertemporalen Konsumglättung2 beobachten, nicht aber in Form stetig steigender Schuldenquoten, wie sie zurzeit allerorten auftreten. Aufbauend auf der Diagnose stellt sich die Frage nach der Therapie.
Ökonomen erklären übermäßiges Schuldenmachen meistens mit Externalitäten, die in mindestens drei Varianten auftreten können. Die heute Lebenden verschulden sich, um mehr konsumieren zu können, und bürden ihren nicht wahlberechtigten Kindern und Enkeln die Finanzierung dieses Konsums auf. Eigennutzorientierte Politiker in der Regierung nutzen ihren Spielraum, um in ihrer begrenzten Amtszeit möglichst viele Ressourcen zu mobilisieren.3 Und der Staat verschuldet sich, weil über- oder nebengeordnete Ebenen im Ernstfall einspringen, z.B. das Bundesland für die in Schieflage geratene Kommune oder die Eurogruppe für Griechenland.4
Allen drei Varianten des Externalitätenarguments ist die Annahme gemein, dass die Regierenden gar keine solide Haushaltspolitik wollen, sondern die Überschuldung willentlich in Kauf nehmen. Das klingt zunächst etwas unfair, schließlich beteuert die Politik doch stets, hart an einem ausgeglichenen Haushalt zu arbeiten. Doch spiegelt dies das Prinzip der aufgedeckten Präferenzen wider: Politiker mögen behaupten, was sie wollen, ihre wahren Präferenzen lassen sich nur daran erkennen, was sie tun. Dabei spielt keine Rolle, ob der einzelne Politiker redlich ist und in aufrichtiger Weise das Beste für die Bevölkerung will; es zählt nur das tatsächliche Resultat, der Outcome des politischen Prozesses.
Wenngleich diese drei Externalitäten zweifelsfrei wichtige Bausteine zum Verständnis der Staatsschuldenproblematik sind, scheinen sie doch nicht alles erklären zu können. Das Schuldenproblem ist, erstens, mittlerweile in einigen Staaten so groß, dass es voraussichtlich nicht erst die Kinder oder Enkel betrifft. Zweitens hat spätestens die Eurokrise gezeigt, dass selbst ein explizites oder implizites Bail-out-Versprechen das eigene Land nicht vor erheblichen Wohlfahrtsverlusten schützt. Angesichts der Situation in den Euro-Südstaaten scheint es genügend Anreize für solide Haushaltspolitik selbst mit einem Bail-out-Versprechen zu geben. Drittens ist erklärungsbedürftig, warum es in fast allen Staaten und staatlichen Ebenen erhebliche Anstrengungen gibt, der Verschuldung Herr zu werden: in der Eurozone der Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 und, in seiner weiter entwickelten Form, der Europäische Fiskalpakt, in Deutschland die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse.5
Bei der Suche nach Erklärungen könnte ein genauer Blick auf die Zeitstruktur weiterhelfen. Hohe Schuldenstände entstehen nicht über Nacht oder in einer Legislaturperiode. Sie bauen sich über Jahre und Jahrzehnte auf. Jeder einzelne Jahreshaushalt trägt seinen Teil zur Überschuldung bei, keiner Entscheidung kann dabei die Hauptverantwortung zugeschrieben werden. Natürlich ist es nicht hilfreich, wenn Frankreich zurzeit immer noch ein Defizit von 3,5% hat, aber die erwartete Erhöhung der Schuldenquote von 95,4% auf 95,8% verändert die Lage auch nicht sehr. Der Staat und seine Lenker mögen an sich gutwillig und von der Notwendigkeit niedriger Schuldenstände überzeugt sein. Doch in jedem Jahr sprechen wichtige aktuelle Gründe gegen einen ausgeglichenen Haushalt. Nach einigen Jahrzehnten hat sich dann ein großer Schuldenberg aufgetürmt.
Damit befindet sich der Staat in einer ähnlichen Lage wie das Individuum, das unter Übergewicht leidet, gern schlanker wäre, es aber nicht schafft, im Alltag seine Kalorienzufuhr zu begrenzen. Auch hier hat die Ökonomik zunächst ihre hartherzig anmutende Ansicht vertreten,6 dass der Dicke übergewichtig sein will, der Alkoholiker zu viel trinken will und der an der Klausur scheiternde Student unvorbereitet sein will – sie wollen, weil sie es tun; würden sie es nicht wollen, würden sie sich anders verhalten. Diese Perspektive ist etwas modifiziert worden, die Ökonomik hat eine gewisse Sensibilität dafür entwickelt, dass Übergewichtige, Alkoholiker und Lernunwillige unzufrieden oder unglücklich mit ihrer Situation sind. Ihnen werden Selbstkontrollprobleme zugestanden, und ihre Situation von anderen individuell optimierten Entscheidungen unterschieden. Wenn Individuen Selbstkontrollprobleme haben, könnte dies auch für Gruppen gelten und damit auch für den Staat. Trägt der Vergleich zwischen dem Schulden machenden Staat und dem Schokolade naschenden Individuum?
Staatliche Selbstkontrollprobleme
Individuelle Selbstkontrollprobleme entstehen in Situationen, in denen Konsum und Investition, angenehme und unangenehme Aktivitäten über die Zeit verteilt werden müssen. Im Hier und Jetzt muss investiert werden, d.h. auf Konsum verzichtet oder eine unangenehme Aktivität ausgeführt werden, um in der Zukunft davon zu profitieren. Dies könnte die Vorbereitung auf eine Klausur oder der Abend im Fitnessstudio sein, statt nachmittags im Café zu sitzen oder abends zu Hause vor dem Fernseher. Es betrifft das Sparen auf eine größere Anschaffung oder den Verzicht auf Süßigkeiten, schweres Essen und Alkohol. Das Individuum hat dabei eine klare Vorstellung davon, wie optimalerweise seine Aktivität in den nächsten Tagen und Wochen aussehen wird (lernen, fasten, Sport treiben). Doch an jedem einzelnen Tag scheitert es daran, diesen Plan zu verwirklichen. In jedem Hier und Jetzt erscheint es dem Individuum optimal, die unangenehme Tätigkeit in die Zukunft zu verschieben, d.h. zu prokrastinieren.7 Hier zeigen sich erstaunliche Parallelen zum Schulden machenden Staat.8 Kaum eine Regierung, die nicht am Anfang einen ausgeglichenen Haushalt oder sogar Schuldenabbau verspricht. Und in jedem Jahr kommen doch wichtige andere Anliegen dazwischen, die finanziert werden wollen. Am Ende der Legislaturperiode ist der Schuldenstand höher und das Spiel beginnt von vorn.
Die fehlende Selbstkontrolle wird für das Individuum zum Problem, weil es sich nicht selbst binden kann. Aus Sicht des Heute (und des Übermorgen) ist es für das Individuum optimal, sich zu „zwingen“, morgen zu lernen oder Sport zu treiben oder zu fasten. Doch dieses Sich-selbst-Zwingen will nicht gelingen, wenn der morgige Tag zum Heute geworden ist. Diese Unfähigkeit zur Selbstdisziplinierung ist eine Begleiterscheinung der individuellen Handlungsfreiheit; das Selbstkontrollproblem resultiert gewissermaßen aus der Abwesenheit eines Big Brothers, der dem Bürger beim Naschen auf die Finger haut. Bei Staaten entspricht dies einer weitgehenden Souveränität. Ich konzentriere mich also auf diejenigen staatlichen Einheiten, die niemand zwingen kann, also im Wesentlichen die Nationalstaaten.9 Wenn Selbstkontrollprobleme die Ursache für Überschuldung sind, dann sind Lösungskonzepte bei individuellen Selbstkontrollproblemen aufschlussreich für die Schuldenproblematik – und vielleicht auch umgekehrt.
Lösungskonzepte
Diätpläne und Schuldenregeln
Nach dem Gang auf die Waage entscheidet sich das Individuum dazu, sein Leben zu ändern, von nun an mehr Sport zu treiben und auf die Ernährung zu achten. Angesichts hoher Schulden verordnet sich die Politik eine Regel, nach der das Defizit nicht mehr als einen bestimmten Anteil des BIP betragen darf. Doch beides funktioniert nicht. Das Individuum ist autonom, der Staat souverän – es gibt niemanden, der sie zwingen kann, und beim nächtlichen Gang zum Kühlschrank ist das Ich, das tagsüber noch so diätentschlossen war, nicht mehr anwesend. Paradoxerweise werden sowohl von Individuen als auch Staaten bei Selbstkontrollproblemen genau die Lösungskonzepte am häufigsten versucht, die aufgrund eben jener Selbstkontrollprobleme am wenigsten helfen.
Heirats- und Kreditmärkte
Sei es der auf sein Gewicht achtende Erwachsene oder der um Solidität bemühte Staat – beide Akteure können nicht nur durch ihr intrinsisches Interesse, sondern auch dadurch motiviert werden, dass sie sich dem Wettbewerb stellen müssen. Staaten konkurrieren mit anderen Kreditnehmern um Kapital, hohe Schulden treiben die Risikoprämien in die Höhe oder schrecken Investoren gleich völlig ab. Menschen konkurrieren mit anderen Menschen in der Partnerwahl, auf dem Karriereweg, um Aufmerksamkeit oder Zuneigung durch andere. Sich selbst in Form zu halten, in Körper, Bildung und Karriere zu investieren, ist dabei hilfreich, wenn diese Tugenden den Präferenzen der Zielgruppe entsprechen. Soweit die Theorie, doch in der Praxis greifen die Marktmechanismen häufig nicht. Weil es Selbstkontrollprobleme bei beiden Geschlechtern gibt (und überdies natürlich Diversität in den Präfenzen), findet der Übergewichtige eine Partnerin gleicher Kleidergröße und die Raucherin einen Raucher. Weil auch die Banken nicht vollständig den Marktkräften ausgesetzt sind (too big to fail), geben sie „ihren“ Staaten Kredite zu Konditionen, die andernorts nicht vorstellbar wären. Im Kern geht es dabei darum, ob der (im weitesten Sinne verstandene) Preismechanismus funktioniert oder nicht. Ein Kilo abzunehmen hat ökonomisch gesehen einen relativen Preis:10 man verzichtet auf aktuellen Konsumgenuss und erlangt höhere Wertschätzung durch den Partner. Wenn letztere unabhängig vom Gewicht ist, bietet der Preismechanismus keinen Anreiz abzunehmen. In ähnlicher Weise bietet 1 Mrd. mehr Schulden Gestaltungsmöglichkeiten in der Gegenwart, erhöht aber die Zinszahlungen in Zukunft. Sind diese Zinsen nach unten verzerrt, verliert auch hier der Preismechanismus seine Wirkungskraft.
Zumindest in Bezug auf die staatlichen Schuldenprobleme gehen folglich auch viele Vorschläge in die Richtung, den Preismechanismus zu entzerren und die Marktkräfte zu stärken, wo es geht.11 Die bereits geleisteten Fortschritte in der Bankenregulierung in der Eurozone (unter anderem der gemeinsame Abwicklungsmechanismus) und die Vorschläge zur Eigenkapitalunterlegung von Staatsanleihen sowie die Vereinbarungen zur Beteiligung der Gläubiger im Fall eines Zahlungsausfalls haben risikoadäquate Preise für die Neuverschuldung zum Ziel. Je höher der Schuldenberg, desto unattraktiver die weitere Verschuldung. Solche Reformen werden aber zurzeit blockiert von eben jenen Staaten, die der Markt mit höheren Zinsen bestrafen würde. Bevor sich jetzt der Blick wieder gen Süden der Eurozone richtet: Auch in den deutschen Bundesländern gibt es eine breite Ablehnung eines Insolvenzregimes für überschuldete Länder.12
Stärkung der Verantwortung (Ownership) und Peer Pressure
Menschen scheinen eher bereit, sich für eine Sache zu engagieren, die sie selbst gewählt haben, als für eine, die ihnen aufgezwungen wurde. Die Entscheidung aus freien Stücken für einen Diätplan oder für einen Konsolidierungskurs führt dazu, dass sich die Akteure mit diesen Zielen identifizieren und Verantwortung (im IWF-Slang heißt das Ownership) für Erfolg oder Misserfolg übernehmen. Voraussetzung ist dabei, dass es eine Peer Group gibt, eine Gruppe von Akteuren, die sich in ähnlicher Situation befinden, die den Erfolg anerkennen und den Misserfolg registrieren können. Das Weight-Watchers-Konzept ist auf diesem Prinzip aufgebaut. Das übergewichtige Individuum verpflichtet sich freiwillig auf ein Ziel für die Gewichtsabnahme. In der Gruppe wird dieses Ziel kundgetan, werden Fort- und Rückschritte besprochen und Erfolge gefeiert.
Auch das aktuelle System der Schuldenkontrolle in der Eurozone folgt diesem Prinzip. Die Staaten haben sich erst im Stabilitäts- und Wachstumspakt, dann im Europäischen Fiskalpakt auf einen ausgeglichenen Haushalt (bzw. auf ein Defizit von höchstens 0,5% des BIP) verständigt. Abweichungen werden mit einer Art institutionalisierter hochgezogener Augenbraue geahndet. Um sich nicht der Lächerlichkeit preiszugeben, werden formell zwar auch Sanktionen vorgesehen, doch diese kommen selbst bei glasklaren Verstößen gegen die Paktregeln nicht zur Anwendung. Der EU-Kommission kommt dabei eine ähnliche Rolle wie dem Weight-Watchers-Coach zu. Sie rügt die Schuldensünder in liebevollem Ton, macht aber im gleichen Atemzug klar, dass sie fest von der baldigen Rückkehr auf den Tugendpfad überzeugt ist.13
Verantwortlichkeit bzw. Ownership lässt sich innerhalb einer Regierung durch einen starken Finanzminister befördern. Eine etablierte, respektierte Kraft, die ihr politisches Schicksal mit dem Erfolg bei der Haushaltskonsolidierung verquickt, ist ein effektives Mittel zur Schuldenbegrenzung. Doch zumindest im deutschen System sind auch hier die Grenzen eng gesteckt, weil es auf die Rückendeckung des jeweiligen Kanzlers ankommt. Dies haben Waigl unter Kohl sowie Eichel unter Schröder irgendwann schmerzlich erfahren müssen. Ob und wie lange Schäuble die schwarze Null unter Merkel halten kann, wenn die Konjunktur einmal schwächer wird, bleibt abzuwarten.
Auch hier sind viele Möglichkeiten ungenutzt geblieben, die Verantwortlichkeit der Akteure zu stärken. Wenn eine Regierung es ernst meint mit der Schuldenkontrolle, kann sie sich z.B. selbst binden, indem sie ihre Gehälter und zukünftigen Pensionen im Nominalwert eigener Staatsanleihen auszahlen lässt. So wären Politiker und Staatsbeamte unmittelbar von der Verschlechterung der Bonität betroffen. Es ist nicht riskant zu prognostizieren, dass sich in diesen Fällen die Staatsfinanzen relativ schnell konsolidieren würden.
Fat Camp und Schuldenrat
Wenn alle Diäten versagt haben, kann der Übergewichtige in die Kur gehen, wo ihm die Kontrolle über seinen Speiseplan abgenommen wird. In ähnlicher Weise begibt sich der Alkoholkranke in die Entziehungskur. Solche Maßnahmen sind drastisch, weil sie mit einer weitgehenden Aufgabe der Selbstbestimmung einhergehen. Daneben gibt es niedrigschwellige Maßnahmen, wie sie beispielsweise moderaten Alkoholikern empfohlen werden: Gesellige Abendveranstaltungen zu meiden und darauf zu achten, dass kein Alkohol im Haus ist.
Im Kontext der Staatsschulden könnte die Regierung einer technokratischen Institution die Befugnis übergeben, die Höhe der Staatsausgaben festzulegen. Ein solcher Schulenrat würde in Krisenzeiten Defizite zulassen, bei normaler Konjunktur einen leichten Überschuss vorgeben, um das Deficit Spending in der Krise gegenzufinanzieren. Zurzeit tritt der Verlust der Souveränität bei der Bestimmung der Staatsausgaben immer erst dann ein, wenn es viel zu spät ist, d.h. wenn die Investoren weiteren Kredit verweigern oder der IWF (bzw. der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM) den Pfad der Ausgaben vorgibt.
Salienz und Sensibilisierung
Scheitert die Selbstkontrolle an fehlendem Wissen und mangelnder Aufklärung? Bei Übergewicht, Alkohol und Zigaretten scheinen staatliche Gesundheitsbehörden davon auszugehen und investieren regelmäßig erhebliche Mittel in Aufklärungskampagnen: Zucker macht dick, zuviel Alkohol ist gefährlich, Zigaretten verursachen Krebs. Auch die Schuldenaufnahme durch die eigene Regierung kann auf unterschiedlich starke Weise im Bewusstsein der Bürger verankert werden. Hans Eichel ließ sich regelmäßig vor der ansteigenden Kurve der deutschen Schuldenquote ablichten, die „schwarze Null“ hat in der Regierung Merkel eine hohe symbolische Kraft, der Bund der Steuerzahler hat über dem Haupteingang seiner Verbandszentrale eine Schuldenuhr angebracht. Diese Maßnahmen setzen an der Diagnose an, dass Staatsschulden für die Wähler – anders als etwa ein neu eröffnetes kommunales Freibad – nicht unmittelbar „erlebbar“ sind oder ihnen einfach schlicht das Verständnis fehlt.
Schulden werden nur in der Krise fühlbar – und genau dies begründet Zweifel an der Sensibilisierungsthese. Denn die Jahre nach Ausbruch der Eurokrise haben gezeigt, dass selbst das unmittelbare Erleben der Schuldenkrise in Ländern wie Frankreich und Italien nicht dazu geführt hat, erheblichen Druck auf die Regierung zu erzeugen, die Neuverschuldung auf Null zu drücken. Und auch hier muss festgestellt werden, dass nicht alle verfügbaren Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Eine Möglichkeit könnte z.B. darin bestehen, sich den Rundfunkbeitrag zum Vorbild zu nehmen, der sehr salient ist. Statt sich im allgemeinen Steuertopf zu verstecken, wird der Rundfunkbeitrag quartalsweise oder monatlich vom Konto abgebucht und fällt somit immer wieder ins Auge. Dementsprechend groß ist der öffentliche Druck, die Beiträge zu legitimieren. In gleicher Weise könnte ein pauschaler Schuldensoli die Staatsverschuldung fühlbar machen. Jede Erhöhung der Staatsschulden würde sich in einer moderaten Erhöhung des Solis niederschlagen und dementsprechend öffentlichen Widerstand oder Rechtfertigungsdruck erzeugen.
Wollen sie nicht oder können sie nicht?
Spielt es eine Rolle, ob es fehlgeleitete Anreize sind, die übermäßige Verschuldung auslösen, oder staatliche Selbstkontrollprobleme? Macht es einen Unterschied, ob die Regierungen – trotz gegenteiliger Beteuerungen – nicht wollen oder ob sie nicht können? Zweifellos sind Maßnahmen, die die Externalität der Fiskalpolitik eindämmen und abmildern, richtig und empfehlenswert. Man sollte das Wahlalter absenken bzw. Eltern das Stimmrecht für ihre Kinder erteilen, um Finanzpolitik auf Kosten der Kinder einzuschränken. Man sollte den politischen Entscheidungsprozess transparent gestalten und die Verantwortlichkeiten entflechten und präzise zuteilen, um die Anreize für Misswirtschaft zu begrenzen. Und man sollte ein glaubwürdiges No-Bail-out-Regime in der Eurozone implementieren, das sicherstellt, dass ein Zahlungsausfall nur die Gläubiger trifft und nicht die Steuerzahler anderer Mitgliedstaaten.
Doch wenn es Selbstbindungsprobleme gibt, reichen diese Maßnahmen nicht aus, um die Überschuldung zu begrenzen. Denn Wähler und Politiker ziehen hier an einem Strang und schaden sich langfristig selbst. Die Externalität ist hier eine Internalität, weil es keinen genuin Dritten betrifft, sondern nur das zukünftige Ich geschädigt wird. Rationale Individuen und rationale Staaten wissen um ihre Selbstbindungsprobleme und versuchen, sie so gut es geht zu lösen. Und genau hier könnte man Zweifel an der Relevanz dieser Erklärung bekommen. Zwar mag man zumindest einigen politischen Lenkern die Ernsthaftigkeit nicht absprechen, wenn sie geloben, einen ausgeglichenen Haushalt anzustreben. Doch lässt sich auch nicht leugnen, dass viele Möglichkeiten zur Selbstbindung ungenutzt bleiben. Anders gesagt, die Vermutung, dass es sich bei den bislang verabschiedeten Maßnahmen eher um Symbolpolitik handelt, um eine Beruhigungspille für die von der Krise aufgebrachte Öffentlichkeit, lässt sich angesichts der aktuellen Neuverschuldung und dem Unwillen, „harte“ Maßnahmen zu beschließen, nur schwer entkräften.
- 1 Hier werden eine Staatsschuld von 130% des BIP und eine Steuerquote von ca. 30% des BIP zugrundegelegt.
- 2 Konsumglättung kann kurz- oder langfristig stattfinden. Kurzfristig ist makroökonomische Nachfragestabilisierung eingeschlossen, langfristig werden Änderungen in der demografischen Struktur der Bevölkerung kompensiert. Beide Erklärungen können den Anstieg der Schuldenquoten nicht erklären, denn er findet auch in konjunkturell guten Zeiten und in alternden Gesellschaften statt.
- 3 Dieses Argument schließt dysfunktionale politische Prozesse ein, in denen Schulden das Resultat z.B. von Koalitionsverhandlungen sind.
- 4 Einzelstaaten wie Großbritannien oder die USA würden sich im Gegensatz dazu auf einen Bail-out der Konsumenten verlassen, wenn die Zentralbank im Fall einer Staatspleite die Schulden monetisiert.
- 5 Es waren die Regierungen selbst, die sich die Regeln zur Begrenzung dieses Spielraums auferlegt haben, und sie taten es in fast allen Fällen im Konsens mit großen Teilen der politischen Opposition. Damit wird auch das Argument infrage gestellt, dass Schuldenregeln zukünftigen Amtszeiten von Regierungen des anderen Lagers Disziplin aufdrücken.
- 6 Präferenzen haben in der ökonomischen Theorie keine moralische Dimension.
- 7 Die Literatur zu Selbstkontrollproblemen beginnt mit D. Laibson: Golden Eggs and Hyperbolic Discounting, in: Quarterly Journal of Economics, 62. Jg. (1997), Nr. 2, S. 443-477, und hat mittlerweile viele wichtige Anwendungen z.B. in der Altersvorsorge, vgl. R. H. Thaler, S. Benartzi: Save More Tomorrow™: Using Behavioral Economics to Increase Employee Saving, in: Journal of Political Economy, 112. Jg. (2004), Nr. 1, S. S164-S187; und im Verbraucherschutz P. Heidhues, B. Koszegi: Exploiting Naivete about Self-Control in the Credit Market, in: American Economic Review, 100. Jg. (2010), Nr. 5, S. 2279-2303.
- 8 Seit kurzem gibt es Literatur zu Selbstkontrollproblemen in Kollektiven, vgl. z.B. M. Amador, I. Werning, G.-M. Angeletos: Commitment vs. Flexibility, in: Econometrica, 74. Jg. (2006), Nr. 2, S. 365-396; B. Huber, M. Runkel: Hyperbolic Discounting, Public Debt and Balanced Budget Rules, in: Scottish Journal of Political Economy, 55. Jg. (2008), Nr. 5, S. 543-560; A. Bisin, A. Lizzeri, L. Yariv: Government Policy with Time Inconsistent Voters, in: American Economic Review, 105. Jg. (2015), Nr. 6, S. 1711-1737.
- 9 Die überschuldeten Gemeinden könnten zu solider Haushaltspolitik durch ihr Bundesland gezwungen werden. Bei Bundesländern ist die Lage schwieriger, weil dem Bund verfassungsrechtliche Grenzen auferlegt sind.
- 10 Der Preis lässt sich noch auf andere Art manipulieren. Beliebt ist z.B. das Abo bei einem Fitness-Club, das den Preis eines einzelnen Besuchs auf Null senkt. DellaVigna und Malmendier zeigen aber, dass diese Strategie sehr teuer ist. Vgl. S. DellaVigna, U. Malmendier: Paying Not to Go to the Gym, in: American Economic Review, 96. Jg. (2006), Nr. 3, S. 694-719.
- 11 Eine Stärkung der Marktkräfte wird für Selbstkontrollprobleme des Individuums aus guten Gründen nicht befürwortet. Es scheint auch zumindest unklar zu sein, ob solche Anreize wirklich helfen. Der sprichwörtliche Kummerspeck liefert hier vermutlich gegenteilige Evidenz.
- 12 Mögliche Zusammenhänge zwischen Selbstkontrollproblemen und Selbsttäuschung werden hier aus Platzgründen nicht erörtert.
- 13 Besonders stark lässt sich die Wirksamkeit von Peer Pressure und Ownership am Fall Deutschlands in der Eurozone studieren. Deutschland hat fast zwangsläufig eine Vorbildfunktion innerhalb der Eurogruppe einnehmen müssen, um seine weitreichenden Forderungen nach Haushaltskonsolidierung in anderen Mitgliedstaaten nicht zu unterminieren.