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Eine moderne öffentliche Infrastruktur ist die Grundlage einer leistungsfähigen Volkswirtschaft. Immer wieder ist in diesem Kontext von einer öffentlichen Investitionsschwäche die Rede. Mitunter wird angesichts negativer Nettoinvestitionen oder eines stagnierenden öffentlichen Nettoanlagevermögens sogar attestiert, Deutschland verzehre seinen staatlichen Kapitalstock. Zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Produktionswirkung sind jedoch das Nettoanlagevermögen und die Nettoinvestitionen keine geeigneten Indikatoren. Auf Basis des Bruttoanlagevermögens kann das pauschale Urteil, Deutschland verzehre seinen staatlichen Kapitalstock, verworfen werden.

„Deutschland weist heute eine signifikante Investitionsschwäche auf, sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich. … Eine zentrale Schwäche in Deutschland ist die fehlende Erhaltung der öffentlichen Infrastruktur in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten.“1 Die vom damaligen Bundeswirtschaftsminister 2014 eingesetzte Expertenkommission leitete aus diesem Befund wichtige Überlegungen für eine Stärkung der staatlichen Investitionen ab.

Die Beweisführung für eine gesamtwirtschaftliche Investitionsschwäche ist trotz des offenkundigen Konsenses in der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte und der anekdotischen Evidenz nicht trivial. Eine differenzierte Betrachtung unterschiedlicher gesamtwirtschaftlicher Indikatoren – Niveau und Veränderungsraten der Investitionen, Kapazitätsauslastung, Investitionsquote, Kapitalstock, Kapitalintensität und Kapitalkoeffizient, Gewinnerwartungen und Andere – liefert kein eindeutiges Bild.2 Dies gilt derzeit aber auch ganz grundsätzlich angesichts der Tatsache, dass nach 2011 respektive 2013 die deutsche Volkswirtschaft – betrachtet man Produktion und Beschäftigung – so stetig und robust expandiert wie zuletzt in der Wiederaufbauphase bis 1965. Die Erwerbsbeteiligung war im wiedervereinigten Deutschland nie höher als heute, und dies bei stabilem, zuletzt sogar ansteigendem Anteil des Normalarbeitsverhältnisses (Vollzeit, unbefristet). Der gerne getätigte Hinweis, dass dies nur dem (lange) günstigen Ölpreis und dem vorteilhaften Euro-Außenwert geschuldet sei, vermag angesichts der Tatsache, dass dies keine exklusiv deutschen Bedingungen sind, nicht zu überzeugen. Die deutsche Volkswirtschaft expandiert dagegen aufgrund spezieller Angebotsbedingungen, die keinen kurzfristigen konjunkturellen Charakter haben.3

Hinsichtlich der Frage, wie sich die öffentlichen Investitionen und vor allem der Kapitalstock des Staates in den vergangenen Jahren entwickelt haben, ist ein differenzierter Blick auf die verschiedenen staatlichen Teilsektoren und auf die unterschiedlichen Anlagearten geboten, um wirtschaftspolitische Ableitungen angemessen vornehmen zu können. So wirbt z. B. die Expertenkommission für eine besondere „Haushaltsregel“, die den Staat dazu verpflichtet, die öffentlichen Investitionen jährlich zumindest in Höhe der Abschreibungen auf das Vermögen der öffentlichen Hand festzulegen.4 In dieser Argumentation beruht der Befund einer öffentlichen Investitionsschwäche auf der Feststellung, dass „die Nettoinvestitionen des Staates … negativ (sind). Das heißt, die Abschreibungen sind höher als die Neuinvestitionen, sodass die öffentliche Infrastruktur auf Verschleiß gefahren wird, sie schrumpft“5. Es wird somit unterstellt, dass negative Nettoinvestitionen zugleich Desinvestitionen sind und den Kapitalstock des Staates physisch verringern.

Diese Beweisführung wird im Folgenden konzeptionell und empirisch hinterfragt.6 Liefern negative Nettoinvestitionen eine richtige Indikation für einen staatlichen Kapitalstockverzehr? Auf Basis dieser methodischen Klärung wird anhand der Vermögensrechnung im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) ein empirischer Befund zur staatlichen Kapitalstockentwicklung – auch für die staatlichen Teilsektoren und diverse Kapitalkategorien – in Deutschland geliefert. Erst dies öffnet den Raum für evidenzbasierte Politikempfehlungen.

Konzeptionelle Grundlagen

Entscheidend für die Produktionsmöglichkeiten und die damit verbundene Einkommens- und Wohlstandsentwicklung einer Volkswirtschaft ist die Ausstattung mit Produktionsfaktoren. Hierfür gibt es unterschiedliche Abgrenzungen. Im Großen und Ganzen geht es aber um das Erwerbspersonenpotenzial – in quantitativer und qualitativer Hinsicht – und um die Ausstattung einer Volkswirtschaft mit einem zunächst einmal breit definierbaren Kapitalbestand. Dieser kann z. B. das Produktionskapital in Form von Gebäuden, Maschinen und Geschäftsausstattungen, die vielfältigen Infrastrukturen, das Naturkapital und das ebenfalls weit abgrenzbare Wissenskapital umfassen. Zu letzterem zählen – sofern es nicht explizit in Form einer qualitativen Komponente beim Erwerbspersonenpotenzial berücksichtigt wird – das Humankapital, das gesamte faktorungebundene technologische Wissen sowie, in einer zukunftsgerichteten Dimension, der Bestand an Daten. Letztlich sind mit Ausnahme der nichtproduzierten Vermögensgüter (wie z. B. dem Großteil der natürlichen Ressourcen) alle akkumulierten Kapitalbestände das Ergebnis von Investitionen. Für Wachstum und Wohlstand ist letztlich aber immer der sich mit den Investitionen verändernde Kapitalstock relevant.

Der Begriff Kapital oder Vermögen ist nicht nur in der volkswirtschaftlichen Theorie, sondern auch im gesamtwirtschaftlichen Rechnungswesen ganz unterschiedlich besetzt.7 Das hängt zum einen vom jeweiligen ökonomischen Untersuchungsgegenstand ab. Im Rahmen der durch das System of National Accounts (SNA) und das Europäische System der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (ESVG) vorgegebenen Vermögensrechnung liegt dem Kapitalstock das sogenannte Anlagevermögen zugrunde. Dieses bezieht sich in erster Linie auf produzierte Vermögensgüter wie z. B. Ausrüstungen, Bauten und immaterielle Vermögensgüter (wie Software und Urheberrechte). Das schafft im Systemzusammenhang der VGR wiederum eine Übereinstimmung mit der Stromrechnung (Berechnung der Anlageinvestitionen im Rahmen der Inlandsproduktsrechnung).

Bei der Bewertung der sektoralen Produktionspotenziale8 und Vermögenspositionen kann es durchaus relevant sein, welche Vermögensgüter bei der Kapitalstockrechnung einbezogen wurden. Das gilt insbesondere beim Naturvermögen oder beim sogenannten „Intangible Capital“ oder „Knowledge Capital“. Ein Teil der immateriellen Vermögenswerte wird bereits in den VGR berücksichtigt, wie z. B. Software und Datenbanken. Darüber hinaus wird aber offensichtlich eine Reihe von modernen Intangibles nicht in der Stromrechnung und damit auch nicht in der Bestandsrechnung erfasst.9

Das Anlagevermögen wird in den deutschen VGR nach der Perpetual-Inventory- oder Kumulationsmethode ermittelt.10 Auf dieses Fortschreibeverfahren muss zurückgegriffen werden, weil keine umfassenden direkten Angaben zum Bestand des Anlagevermögens – etwa auf Basis einer Generalinventur – vorliegen.11 Ein Anfangsbestand wird dabei im Wesentlichen mit den laufenden Investitionen aus der Stromrechnung (Inlandsproduktsrechnung) fortgeschrieben. Die dafür notwendigen Investitionsreihen reichen teilweise sehr weit zurück. Für die acht Bauarten liegen diese Informationen zum Teil bis 1799, für die 200 Ausrüstungsgüter bis 1899 und für die vier sonstigen (immateriellen) Anlagearten bis 1945 vor.

Die Fortschreibung mit den Investitionen (zuzüglich des Saldos aus Käufen und Verkäufen von gebrauchten Anlagen) wird beim Brutto- und beim Nettokonzept auf unterschiedliche Weise korrigiert: Die Korrektur richtet sich bei der Ermittlung des Bruttoanlagevermögens nach dem tatsächlichen physischen Abgang – etwa durch Verschrottung oder Abbruch. Besondere Ereignisse – wie z. B. die Weltkriege und die Wiedervereinigung im letzten Jahrhundert – hatten natürlich außergewöhnliche Auswirkungen auf die Bestandserhebungen. Sondereinflüsse ergeben sich z. B. aber auch durch Hochwasser, Stilllegung von Zechen, Raffineriekapazitäten oder Kernkraftwerken, Kapazitätsabbau in der Stahlindustrie oder im Schiffsbau. Die Abgänge entsprechen den Anlagegütern, die faktisch nicht mehr im Produktionsprozess eingesetzt werden und somit keine Produktions- und Produktivitätswirkung mehr entfalten. Dagegen werden bei der Ableitung des Nettoanlagevermögens die Abschreibungen berücksichtigt. Die Abschreibungen sollen die Wertminderung des Anlagevermögens durch normalen Verschleiß und wirtschaftliches Veralten zum Ausdruck bringen.

Das Bruttoanlagevermögen zu Wiederbeschaffungspreisen informiert somit über alle zum jeweiligen Jahresende im Produktionsprozess nutzbaren Anlagegüter zu deren Neuwert. Anders gewendet: Unabhängig davon, ob die Anlagegüter abgeschrieben sind oder nicht, werden sie hier solange berücksichtigt, wie sie physisch nutzbar sind und genutzt werden. Das Bruttoanlagevermögen zu Wiederbeschaffungspreisen entspricht dem Anschaffungswert des Kapitalstocks, wenn man ihn im jeweiligen Berichtsjahr vollständig neu kaufen müsste. Für Deutschland belief sich der so definierte gesamtwirtschaftliche Kapitalstock am Jahresende 2017 auf 18 534 Mrd. Euro.

Das Nettoanlagevermögen zu Wiederbeschaffungspreisen unterscheidet sich vom Bruttokonzept durch die seit dem Investitionszeitpunkt aufgelaufenen Abschreibungen. Diese stellen in den VGR den Wertverlust der Anlagen infolge der Nutzung dar, nicht aber den faktischen Verschleiß im Produktionsprozess. Ebenso drücken die Abschreibungen wegen der Vergangenheitsbasierung nicht zwingend den aktuellen Ersatzaufwand aus, der aufgrund technischen Fortschritts wertmäßig geringer sein kann. Sinkende Nettoinvestitionen sind dann kein Problem. Überdies ignoriert diese Größe den Unterhaltungsaufwand, der aus den laufenden Ausgaben getätigt wird und den physischen Abgang weiter vom Ende der Abschreibungsfrist entfernen kann. Das Nettoanlagevermögen zu Wiederbeschaffungspreisen ermittelt also den am Markt erzielbaren Verkaufswert respektive den Zeitwert des Anlagevermögens. Am Jahresende 2017 betrug dieser Wert für alle Sektoren in Deutschland 10 375 Mrd. Euro.

Für die Frage, ob der Staat durch Unterinvestition seinen Kapitalstock verzehrt und damit die volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit schmälert sowie die Entwicklungsdynamik behindert, ist das Nettoanlagevermögen, also der Zeitwert des staatlichen Anlagevermögens, nicht die relevante Größe. Nettoanlagen und Nettoinvestitionen sind konzeptionell für eine Bewertung des staatlichen Produktionskapitals und der staatlichen Investitionstätigkeit nicht gedacht und nicht geeignet. Vielmehr kommt es auf das Bruttoanlagevermögen, also den im Produktionsprozess nutzbaren Bestand an Anlagegütern an, und zwar unabhängig von seinem heutigen Verkaufswert. Die Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials wird in der Regel auf Basis von preisbereinigten Größen analysiert. Die Wertentwicklung ist hier nicht relevant, sondern die Ausstattung mit volumenmäßigen Produktionsfaktoren. Dementsprechend zählt bei der Analyse und Beurteilung der (staatlichen) Kapitalstockentwicklung das preisbereinigte Bruttoanlagevermögen.12

Schrumpft der Kapitalstock des Staates in Deutschland überhaupt?

Abbildung 1 veranschaulicht die wichtigen konzeptionellen Unterschiede zwischen dem Brutto- und Nettokonzept – und die damit verbundenen Interpretations- und Diagnoseschranken. Auf Basis des realen Bruttoanlagevermögens ist in Deutschland seit 1991 ein durchgehender Aufbau an staatlichem Anlagevermögen zu verzeichnen. Für den Gesamtzeitraum ergibt sich ein jahresdurchschnittlicher Zuwachs von gut 1 %, im Zeitraum 2001 bis 2017 fiel dieser mit einem ¾ % pro Jahr etwas schwächer aus. Im Gegensatz zum permanent ansteigenden realen Bruttoanlagevermögen stagnierte das preisbereinigte Nettoanlagevermögen in Deutschland seit der Jahrtausendwende. Ein Rückgang ist aber auch bei dieser – nicht zielführenden – Größe nicht zu beobachten.

Abbildung 1
Anlagevermögen des Staates in Deutschland
Preisbereinigtes Brutto- und Nettoanlagevermögen
Anlagevermögen des Staates in Deutschland

Preisbereinigtes Brutto- und Nettoanlagevermögen

Quellen: Statistisches Bundesamt (2018); Institut der deutschen Wirtschaft.

Für wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen ist schließlich relevant, wie die Entwicklung des staatlichen Anlagevermögens sich differenziert nach Gebietskörperschaften und nach Anlagekategorien darstellt (vgl. Abbildung 2). Die Bruttoanlageinvestitionen des Staates sind seit der Wiedervereinigung deutlich durch die Handlungsmöglichkeiten der Gebietskörperschaften geprägt. Nach dem einigungsbedingten Anstieg ergab sich schnell eine Korrektur bei den Investitionen, die bis 2005 anhielt. Auffällig sind die Unterschiede bei den verschiedenen Gebietskörperschaften. Während der Bund und die Länder seit 1991 einen mehr oder weniger stetigen Zuwachs aufweisen, haben die Gemeinden ab Anfang des neuen Jahrtausends eine zunehmende Abflachung bis zur Stagnation erlebt.

Aufgrund ihres hohen Gewichts – auf die Kommunen entfallen 55 % des staatlichen Kapitalstocks – prägen die Gemeinden die gesamtstaatliche Kapitalstockdynamik.13 Seit der Jahrtausendwende war dort kaum ein nennenswerter Kapitalaufbau zu verzeichnen. Darin dürfte sich ausdrücken, dass die Kommunen in diesem Zeitraum von beachtlichen Haushaltsproblemen betroffen und vielfach mit ihren Haushalten der Kommunalaufsicht unterstellt waren. Insgesamt lässt sich aber zunächst festhalten, dass trotz des stagnierenden Kapitalstocks bei den Kommunen das preisbereinigte Bruttoanlagenvermögen des Gesamtstaates kontinuierlich ansteigt.

Abbildung 2
Staatlicher Kapitalstock nach Teilsektoren und Anlagearten
Preisbereinigtes Bruttoanlagevermögen
Staatlicher Kapitalstock nach Teilsektoren und Anlagearten

Preisbereinigtes Bruttoanlagevermögen

Anmerkung: Ohne Sozialversicherungen.

Quellen: Statistisches Bundesamt (2018); Institut der deutschen Wirtschaft.

Der überwältigende Teil des Bruttoanlagevermögens zu Wiederbeschaffungspreisen entfällt mit 85 % auf den Nichtwohnungsbau, davon wiederum 28 Prozentpunkte auf Straßen. Zum Nichtwohnungsbau zählen auch Verwaltungsgebäude oder Bildungseinrichtungen. Auf Ausrüstungen (zu denen militärische Waffensysteme zählen) entfallen knapp 7 %, auf geistiges Eigentum (also immaterielle Vermögenswerte) 6 % und auf Wohnbauten knapp 2 %. Die unterschiedliche Dynamik der einzelnen Anlagearten gemessen am preisbereinigten Bruttoanlagevermögen ist ausgeprägt (vgl. Abbildung 2b). In Anbetracht des hohen Gewichts des Nichtwohnungsbaus überrascht es nicht, dass die gesamte Kapitalstockdynamik beim Staat vom Nichtwohnungsbau geprägt wird. Die Dynamik beim preisbereinigten Nichtwohnungsbauvermögen hat sich im Zeitverlauf erheblich abgeschwächt. Dagegen ist beim staatlichen Bestand an geistigem Eigentum sowie bei den staatlichen Ausrüstungsinvestitionen in den letzten zehn Jahren eine hohe Dynamik zu verzeichnen. Obgleich diese Anlagegüter nur einen geringen Anteil am gesamten staatlichen Kapitalstock haben, darf dieser Befund bei einer Gesamtbewertung der staatlichen Investitionstätigkeit – und der übergelagerten und ökonomisch relevanten Kapitalstockbildung – nicht übersehen werden.

Kapitalintensität als Bewertungsmaßstab

Diese empirische Bestandsaufnahme kann den Verdacht eines staatlichen Kapitalverzehrs nicht bestätigen. Schwächen gibt es im Detail, aber das Gesamtbild zeigt einen durchgehenden Anstieg des realen staatlichen Kapitalstocks. Es stellt sich gleichwohl die Frage, ob die absolute Entwicklung des Kapitalstocks überhaupt eine ausreichende Evidenz zur Bewertung der staatlichen Investitionstätigkeit und Kapitalstockbildung liefern kann.

Zumindest zeigt die Wachstumstheorie, dass es für die gesamtwirtschaftliche Wohlstandsentwicklung letztlich nicht auf die absolute Kapitalstockentwicklung ankommt, sondern vielmehr auf den Fortschritt bei der Kapitalintensität. Diese beschreibt im gesamtwirtschaftlichen Kontext die Kapitalausstattung je Erwerbstätigen und ist neben dem technologischen Fortschritt eine maßgebliche Determinante für die Arbeitsproduktivität und das damit verbundene Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung. Entsprechend kann bei der Bewertung der staatlichen Kapitalstockbildung gefragt werden, wie sich eine auf den Staat definierte Kapitalintensität entwickelt hat.

Bei der Berechnung der gesamtwirtschaftlichen oder der sektoralen Kapitalintensität wird der jeweilige Kapitalstock zur entsprechenden Zahl der Erwerbstätigen ins Verhältnis gesetzt. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Erwerbstätigen einer Branche ihren jeweiligen Kapitalstock selbst nutzen. Entsprechendes gilt auf gesamtwirtschaftlicher Ebene. Auch beim Sektor Staat lässt sich auf diese Weise eine Kapitalintensität für verschiedene staatliche Aufgabenbereiche ermitteln.14 Der staatliche Kapitalstock wird jedoch nicht nur von den staatlichen Erwerbstätigen und Einrichtungen zur Produktion staatlicher Güter genutzt, sondern ebenso von privatwirtschaftlichen Unternehmen und privaten Haushalten. Ein Beispiel ist die Verkehrsinfrastruktur. Vor diesem Hintergrund kann überprüft werden, wie sich die durch den Staat zur Verfügung gestellte Kapitalausstattung je Einwohner entwickelt.15 Daraus kann dann etwa geschlossen werden, ob der Staat seine Bevölkerung besser mit Kapital ausgestattet hat oder nicht.

Abbildung 3a zeigt zunächst die wechselhafte Bevölkerungsentwicklung in Deutschland seit 1991: Bis Mitte der 1990er Jahre stieg die Zahl der Einwohner um rund 1,5 Mio. an. Danach war die Bevölkerung konstant, bevor sie im Zeitraum 2003 bis 2011 um 1,3 Mio. Personen zurückging. Seitdem stieg die Einwohnerzahl wieder kräftig um 2,4 Mio. an. Diese starken Bevölkerungsveränderungen sind bei der hier aufgezeigten Beurteilung der staatlichen Kapitalstockbildung zu berücksichtigen.

Abbildung 3
Bevölkerung und Kapitalintensität in Deutschland
Bevölkerung und Kapitalintensität in Deutschland

1 Verhältnis von preisbereinigtem Bruttoanlagevermögen des Staates zur Zahl der Einwohner.

Quellen: Statistisches Bundesamt (2018); Institut der deutschen Wirtschaft.

Abbildung 3b zeigt für die Anlagekategorien, wie sich die jeweilige Kapitalausstattung je Einwohner verändert hat. Bis 2014 war auf Basis aller Anlagen ein durchgehender Anstieg der staatlichen Kapitalintensität zu verzeichnen. Danach war sie in den Jahren 2015 und 2016 leicht rückläufig, bevor sie 2017 wieder leicht anstieg. Über den Gesamtzeitraum 1991 bis 2017 belief sich der Anstieg des preisbereinigten Bruttoanlagevermögens des Staates je Einwohner auf durchschnittlich 0,9 % pro Jahr. Während der Phase des markanten Bevölkerungsrückgangs von 2003 bis 2011 belief sich der Anstieg auf jahresdurchschnittlich 1 %.

Seit 2011 stagniert die so berechnete Kapitalintensität – die Bevölkerung legte gleichzeitig kräftig zu. Abbildung 3b verdeutlicht, dass die Kapitalintensität bei den einzelnen Kapitalgütern ganz unterschiedliche Verläufe aufweist. Trotz der stark wachsenden Einwohnerzahl in den letzten Jahren zeigt sich eine beachtliche Kapitalintensivierung bei immateriellen Vermögensgütern und bei Ausrüstungsgütern. Freilich gilt dabei zu beachten, dass 2017 auf beide Anlagekategorien nur 12,7 % des staatlichen Kapitalstocks entfielen. Bei Gebäuden stagniert dagegen die Ausstattung je Einwohner.

Bewertung anhand eines Modernitätsgrads

Eine weitere Bewertungsregel für die staatliche Investitionstätigkeit kann sich an der Entwicklung des Modernitäts- oder Gütegrads des staatlichen Kapitalstocks orientieren. So konstatiert etwa die Expertenkommission: „Die Modernität des deutschen Kapitalstocks ist im Vergleich zu anderen großen Volkswirtschaften gering.“16 Ein rückläufiger Modernitätsgrad – als Folge einer zu schwachen Investitionstätigkeit – kann zu einer schwächer werdenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit führen. Der Kapitalstock veraltet, statt sich mit neuen Technologien zu verjüngen.

Auf Basis der VGR-Konzepte kann ein Modernitäts- oder Gütegrad aus dem Verhältnis von Nettoanlagevermögen zu Bruttoanlagevermögen jeweils auf Basis von Wiederbeschaffungspreisen berechnet werden. Letztlich beschreibt diese Messgröße das Verhältnis von Abschreibungen und Abgängen. Fallen die in den VGR geschätzten Abschreibungen höher aus als die ebenfalls geschätzten Abgänge, dann entwickelt sich das Nettoanlagevermögen schwächer als das Bruttoanlagevermögen und der so gemessene Modernitätsgrad als Relation beider Größen sinkt.

Abbildung 4
Modernitätsgrad des staatlichen Kapitalstocks
Verhältnis von Nettoanlagevermögen zu Bruttoanlagevermögen
Modernitätsgrad des staatlichen Kapitalstocks

Verhältnis von Nettoanlagevermögen zu Bruttoanlagevermögen

Quellen: Statistisches Bundesamt (2018); Institut der deutschen Wirtschaft.

Abbildung 4 zeigt sowohl für den staatlichen Kapitalstock insgesamt als auch für die einzelnen Anlagekategorien die Entwicklung des so gemessenen Modernitätsgrads im Zeitraum 1991 bis 2017. Tatsächlich hat sich die Relation von Nettoanlagevermögen zu Bruttoanlagevermögen durchgehend verringert, und zwar von 63 % auf 52 %. Der insgesamt rückläufige Modernitätsgrad des staatlichen Kapitalstocks wird mit Blick auf die Anlageformen im Wesentlichen vom rückläufigen Modernitätsgrad beim staatlichen Nichtwohnungsbau determiniert. Dagegen ist bei den Ausrüstungsgütern und bei den immateriellen Vermögenswerten ein Anstieg zu verzeichnen.

Fazit zur staatlichen Kapitalstockentwicklung

Die Daten für die empirische Beweisführung in diesem Sachzusammenhang liefern die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Da es keine tatsächlichen Bestandserhebungen für die Kapitalausstattungen der Unternehmen und des Staates gibt – etwa in Form einer Generalinventur – muss auf Modellrechnungen zurückgegriffen werden. Diese Verfahren sind offengelegt. Die Schätzungen betreffen alle Komponenten der Kapitalstockrechnung, also die Investitionen, die Abgänge und die Abschreibungen. Diese statistischen Limitationen müssen bei einer wirtschaftspolitischen Beurteilung immer mitgedacht werden. Eingedenk dieser Einschränkungen liefern die amtlichen Daten für die staatliche Kapitalstockentwicklung in Deutschland wichtige wirtschaftspolitisch relevante Befunde. Die relevante Größe ist das Bruttoanlagevermögen zu Wiederbeschaffungspreisen, das in Jahresfrist sowohl die neuen Anlagen als auch die physischen Abgänge berücksichtigt.

  1. Auf Basis des realen Bruttoanlagevermögens findet in Deutschland kein Verzehr des staatlichen Kapitalstocks statt. In den letzten Jahren gab es schwächere Zuwächse, aber keine Rückgänge.
  2. Dem stagnierenden Kapitalstock der Kommunen, auf die freilich 55 % des staatlichen Anlagevermögens entfallen, stehen durchgehende Anstiege beim Kapitalstock von Bund und Ländern gegenüber.
  3. Die Stagnation zeigt sich beim dominierenden Nichtwohnungsbau, zu dem auch die staatliche Verkehrsinfrastruktur gehört.
  4. Seit 2011 stagniert die staatliche Kapitalintensität (preisbereinigter Kapitalstock des Staates je Einwohner). Trotz der stark angestiegenen Bevölkerung in diesem Zeitraum weist aber auch dieser Indikator keinen Rückgang auf. Die Stagnation ist hier ausschließlich ein Bauphänomen.
  5. Seit 1991 ist ein durchgehender Rückgang des Modernitätsgrads beim staatlichen Kapitalstock zu verzeichnen. Das gilt in erster Linie für den kommunalen Nichtwohnungsbau. Letztlich zeigt dies aber nur, dass die Abschreibungen stärker ansteigen als die Abgänge. Es handelt sich also vorwiegend um einen Werteffekt.

Wirtschaftspolitisch folgt daraus, dass es sehr spezifischer Maßnahmen bedarf. Die eingangs erwähnte Empfehlung der Expertenkommission, den Staat zu verpflichten, die öffentlichen Investitionen jährlich zumindest in Höhe der Abschreibungen auf das Vermögen der öffentlichen Hand festzulegen, erweist sich aufgrund der konzeptionellen und empirischen Analyse als unbegründet, ja sogar als irreführend. Diese Regel droht zu Fehlallokation in den öffentlichen Mitteln zu führen, weil sie an den empirischen Befunden für die konkreten Handlungsbedarfe vorbeigeht.

Tatsächlich zeigen die Daten zur staatlichen Investitionsentwicklung der letzten zwei Jahrzehnte eine deutliche Strukturverschiebung von den klassischen Infrastrukturen zum geistigen Eigentum. Einerseits entspricht die Strukturverschiebung den modernen Ansprüchen an den staatlichen Kapitalstock und reflektiert die Tatsache, dass mittlerweile ein Viertel bis ein Drittel der staatlichen Bruttoinvestitionen für Forschung und Entwicklung bereitgestellt werden. Die Quote von 3 % für (staatliche und private) Forschungs- und Entwicklungsausgaben wurde auch deshalb erstmals im Jahr 2018 erreicht.

Andererseits ist die Schwächung der Infrastrukturinvestitionen ein Problem.17 Das in den vergangenen Jahren stagnierende Bruttoanlagevermögen und die leicht sinkende Kapitalintensität in diesem Bereich sind volkswirtschaftlich bedenklich. Dahinter steht im Wesentlichen das Investitionsverhalten der Gemeinden, die zuletzt generell ein stagnierendes Bruttoanlagevermögen aufweisen. Grundsätzlich sind dafür die Kommunalfinanzen die politische Herausforderung, denn deren seit über 25 Jahren laufende strukturelle Verschlechterung hat über „Konsolidierungsschäden“ die Verkehrsinvestitionen nachhaltig belastet.18 Wer also engpassorientiert handeln will, der muss die Kommunalfinanzen umfassend ertüchtigen. Hier liegt der Hebel für mehr öffentliche Investitionen.

  • 1 Vgl. Unabhängige Expertenkommission: Stärkung von Investitionen in Deutschland, 2015, S. 5.
  • 2 Vgl. H. Bardt, M. Grömling, M. Hüther: Schwache Unternehmensinvestitionen in Deutschland? Diagnose und Therapie, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 64. Bd. (2015), H. 2, S. 224-250; H. Bardt et al.: Investieren Staat und Unternehmen in Deutschland zu wenig? Bestandsaufnahme und Handlungsbedarf, IW-Analysen, Nr. 118, Köln 2017.
  • 3 Vgl. M. Hüther: Versuche, die Robustheit der deutschen Volkswirtschaft zu verstehen, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017), H. 7, S. 490-498.
  • 4 Vgl. Unabhängige Expertenkommission, a. a. O., S. 6.
  • 5 Vgl. M. Fratzscher: Besser wird es nicht mehr, Interview vom 29.12.2017, in: Welt, https://www.welt.de/wirtschaft/article171998868/DIW-Chef-Marcel-Fratzscher-Besser-wird-es-nicht-mehr.html (9.9.2018).
  • 6 Die folgenden empirischen Befunde beruhen auf einer Veröffentlichung des Statistischen Bundesamts zum Anlagevermögen nach Sektoren. Die Zeitreihen decken den Zeitraum von 1991 bis 2017 ab. Vgl. Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Anlagevermögen nach Sektoren. Arbeitsunterlage, Wiesbaden 2018.
  • 7 Vgl. D. Brümmerhoff, M. Grömling: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, 10. Aufl., Berlin, Boston 2015, S. 173 ff.
  • 8 Zur sektoralen Vermögensrechnung vgl. insbesondere O. Schmalwasser, A. Müller: Gesamtwirtschaftliche und sektorale nichtfinanzielle Vermögensbilanzen, in: Wirtschaft und Statistik, 2009, H. 2, S. 137-147.
  • 9 Vgl. hierzu C. Corrado, C. R. Hulten, D. E. Sichel: Intangible Capital and US Economic Growth, in: Review of Income and Wealth, 55. Jg. (2009), H. 3, S. 661-685; A. Thum-Thysen et al.: Unlocking Investment in Intangible Assets, European Economy Discussion Paper, Nr. 047, 2017; J. Haskel, S. Westlake: Capitalism Without Capital. The Rise of the Intangible Economy, Princeton, Oxford 2017.
  • 10 Vgl. O. Schmalwasser, N. Weber: Revision der Anlagevermögensrechnung für den Zeitraum 1991 bis 2011, in: Wirtschaft und Statistik, 2012, H. 11, S. 933-946; OECD: Measuring Capital – OECD Manual, Paris 2009.
  • 11 Vgl. O. Schmalwasser, M. Schidlowski: Kapitalstockrechnung in Deutschland, in: Wirtschaft und Statistik, 2006, H. 11, S. 1111; B. Görzig: Konzepte und Berechnungen des Sachvermögens in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, in: K.-D. Voy (Hrsg.): Kategorien der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, Bd. 4: Zur Geschichte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen nach 1945, Marburg 2009, S. 357 ff.
  • 12 Vgl. Bundesministerium der Finanzen (BMF): Die Aussagekraft von Nettoinvestitionen in der wirtschaftspolitischen Diskussion, Monatsbericht des BMF, Juni 2015, S. 8; O. Schmalwasser, M. Schidlowski a. a. O., S. 1110.
  • 13 Auf den Bund entfiel zuletzt knapp ein Viertel und auf die Länder gut ein Fünftel des Bruttoanlagevermögens zu Wiederbeschaffungspreisen. Da auf die Sozialversicherungen unter 2 % des staatlichen Kapitalstocks entfallen, werden sie hier nicht abgebildet.
  • 14 Vgl. G. Obermann: On the capital intensity of the public sector, in: Empirica, 9. Jg. (1982), H. 2, S. 175-204; B. Görzig et al.: Investitionen, Beschäftigung und Produktivität. Zu den Arbeitsplatzeffekten einer verstärkten Investitionstätigkeit vor dem Hintergrund sektoraler Entwicklungen, DIW-Beiträge zur Strukturforschung, H. 108, Berlin 1988, S. 199 ff.
  • 15 Vgl. C. Kamps: New Estimates of Government Net Capital Stocks for 22 OECD Countries, 1960-2001, in: IMF staff papers, 53. Jg. (2006), Nr. 1, S. 120-150; IMF: Making public investment more efficient, IMF Policy Papers 2015.
  • 16 Vgl. Unabhängige Expertenkommission, a. a. O., S. 5.
  • 17 Vgl. M. Grömling, T. Puls: Infrastrukturmängel in Deutschland – Belastungsgrade nach Branchen und Regionen auf Basis einer Unternehmensbefragung, in: IW-Trends, 45. Jg. (2018), H. 2, S. 89-105.
  • 18 Sachverständigenrat zur Begutachten der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Zur wirtschaftlichen Lage im Oktober 1982, Sondergutachten vom 9.10.1982, BT-DS 9/2027, Wiesbaden 1982, Ziffer 57.

Title:Does Germany Consume Its Public Capital Stock?

Abstract:Modern public infrastructure is the basis of a prospering economy. In this context, it is frequently observed that Germany suffers from insufficient public investments and even consumes its public capital in the face of a stagnating public net capital stock. However, net assets are an inappropriate measure of the macroeconomic effects of (public) capital on growth. Based on the analysis of public gross fixed assets, the impression that Germany consumes its public capital stock is incorrect.


DOI: 10.1007/s10273-019-2390-3

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