In der Septemberausgabe 2017 veröffentlichte der Wirtschaftsdienst einen Aufsatz von Georg Quaas zur aktuellen Kritik an der makroökonomischen Geldtheorie. Dirk Ehnts setzt sich mit diesem Aufsatz kritisch auseinander und vertritt die Auffassung, dass auch heute noch in weiten Teilen der Lehre die Geldschöpfung falsch – und nicht vereinfacht – dargestellt wird. Im Anschluss erläutert Georg Quaas in einer Erwiderung seinen Standpunkt.
Die aktuelle Kritik an der makroökonomischen Geldtheorie – eine Replik
Fragen der Geldtheorie haben in den letzten Jahren immer mehr an Relevanz gewonnen, denn die wirtschaftliche Lage in der Eurozone ist nicht zufriedenstellend. Die ultralockere Geldpolitik hat nicht zu einer schnellen Rückkehr auf den Wachstumspfad geführt, sondern zu einer Situation, in der Vermögenspreise und Ungleichheit steigen, obwohl die schwachen Länder teilweise nicht oder nur sehr langsam wieder auf die Beine kommen, und in der EZB-Präsident Mario Draghi in so gut wie jeder Rede eine Unterstützung durch expansive Fiskalpolitik fordert. In dieser Situation hat die Bundesbank im Monatsbericht April 2017 einen Aufsatz veröffentlicht, den ich als Unterstützung meiner eigenen Position ansehe.1 Diese hatte ich zuletzt ausführlich dargelegt.2 Bevor ich mich kritisch mit den neoklassischen Positionen von Georg Quaas,3 die auch in populären Lehrbüchern vertreten wird, auseinandersetze, möchte ich meine eigene Position zusammenfassen.
Die Intermediär-Theorie der Banken
In seinem Beitrag zur modernen Geldtheorie arbeitet Quaas sich an zwei Fragen ab:
- Erstens geht es ihm um die Frage, ob Banken Sparer benötigen, um Kredite zu vergeben. Sei dies nicht der Fall, dann hätten wir eine Geldschöpfung „aus dem Nichts“.
- Die zweite Frage betrifft die Beziehung zwischen Geldbasis und Geldmenge.
Quaas bejaht die erste Frage und zeichnet ein komplexes Bild als Antwort auf die zweite. Seiner Meinung nach „lässt sich die zugrundeliegende, simple Antwort nicht leugnen: Die Spareinlagen der Kunden sind es, die es den Banken ermöglichen, über das direkt von der Zentralbank bezogene Geld hinaus weiter Kredite zu vergeben.“4 Dabei „werden auch die bereits angesammelten Ersparnisse der Haushalte zur Finanzierung herangezogen“5. Banken seien daher als Intermediäre anzusehen. Woher allerdings die Ersparnisse kommen, wird nicht beschrieben. Diese entstehen also quasi „aus dem Nichts“, worauf später zurückzukommen ist.
Bei der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Geldbasis und Geldmenge greift Quaas auf die Theorie des Geldmultiplikators zurück. Diese „definiert eine obere Schranke [der Kreditgeldmenge], die allein von der Zentralbank kontrolliert wird und aus sachlichen Gründen nicht überschritten werden kann“6. Weiter führt er aus, dass die Kausalität nicht nur von Zentralbankgeldmenge zu Kreditgeldmenge laufen könne, sondern auch andersherum. Von daher wirke der Geldmultiplikator nicht „mechanistisch“, was schließlich seit Jahrzehnten widerlegt sei.
In der abschließenden makroökonomischen Betrachtung weist Quaas darauf hin, dass die Kreditnachfrage ein wichtiger Faktor sei und „die realwirtschaftlichen Faktoren viel deutlicher hervorgehoben werden“7 müssten, unter anderem die erwartete Güternachfrage der Unternehmen. Um die Konjunktur zu beleben, bräuchten wir nicht nur verbesserte Geldmarktbedingungen, sondern auch eine steigende Nachfrage. Dieser makroökonomischen Sicht stimme ich zu, wobei es sich dabei wohl um die herrschende Meinung handelt. Strittig sind also die Fragen nach der Rolle von Ersparnis und Zentralbankgeld bei der Kreditschöpfung der Banken sowie nach dem Einfluss des Geldmultiplikators auf die Höhe der Kreditschöpfung.
„Geld aus dem Nichts“ und die Bundesbank
Zur Widerlegung der Positionen von Quaas bedarf es nicht der Anrufung höherer Instanzen, beispielsweise der Bundesbank. Zentralbanken sind weder allmächtige, noch allwissende Institutionen, sondern Orte eines komplexen sozialen Geschehens mit teilweise widersprüchlichen Ergebnissen.8 Weil die Bundesbank im Zentrum des Zahlungsverkehrs steht und ein Großteil der akademischen Ökonomen auf die Bundesbank schaut, erhalten ihre Veröffentlichungen ein erhöhtes Gewicht. Daher möchte ich im Folgenden kurz erläutern, warum ich die Bundesbank auf meiner Seite wähne und zwar nicht bloß aufgrund von „unglücklich gewählt[en]“ Formulierungen, wie es Quaas unterstellt,9 sondern wegen einer Reihe von klaren, logisch und empirisch nachvollziehbaren Aussagen.
Die Bundesbank schreibt: „Das stilisierte Beispiel zur Geldschöpfung zeigt im Besonderen, dass die Kreditvergabe grundsätzlich ohne vorherige Zuflüsse von Kundeneinlagen stattfinden kann. Die Buchgeldschöpfung ist das Ergebnis eines Buchungsvorgangs: Wenn eine Bank einen Kredit vergibt, verbucht sie die damit verbundene Gutschrift für den Kunden als dessen Sichteinlage und somit als eine Verbindlichkeit auf der Passivseite ihrer Bilanz. Dies widerlegt einen weitverbreiteten Irrtum, wonach die Bank im Augenblick der Kreditvergabe nur als Intermediär auftritt, also Kredite lediglich mit Mitteln vergeben kann, die sie zuvor als Einlage von anderen Kunden erhalten hat.“10 Das zugehörige stilisierte Buchungsbeispiel zeigt Tabelle 1.
Tabelle 1
Bank A gewährt einen Buchkredit an einen Kunden X
Quelle: Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken, Nichtbanken und Zentralbank im Geldschöpfungsprozess, in: Monatsbericht, 69. Jg. (2017), H. 4, S. 18.
In der Darstellung tauchen weder Ersparnisse noch Zentralbankgeld auf, wobei die Bundesbank sich sogar noch die zusätzliche Mühe macht, die nicht veränderte Zentralbankbilanz zu zeigen, frei nach dem Motto: „Wie Sie sehen, sehen Sie nichts!“. Gemäß Bundesbank werden also Ersparnisse der Haushalte und Zentralbankgeld explizit nicht zur Valutierung von Krediten herangezogen. Damit stehen die Aussagen von Quaas – die Idee der Bank als Intermediär – konträr zu den Positionen der Bundesbank. Diese Sichtweise ist übrigens auch für die Bundesbank keineswegs neu. In der Reihe „Die Bundesbank: Aufbau und Aufgaben“ von 1950 steht folgender Satz: „Die höheren Anforderungen an die Elastizität des Geldwesens machten es notwendig, dass neben die Banknoten das Buchgeld der Geschäftsbanken trat, die nun ihrerseits ‚aus dem Nichts‘ Geld und Kredit ‚schöpfen‘ konnten“11. Hier wird sogar die Geldschöpfung „ex nihilo“ thematisiert. Gemeint ist dabei, dass Bankeinlagen nicht auf Grundlage von stofflichen Dingen entstehen, sondern ein „Geschöpf der Rechtsordnung“12 sind. Keineswegs wird impliziert, dass jeder Kredit schöpfen kann oder jeder Kredit bekommen kann.
Argument I: Ersparnis = Investitionen
Eine wesentliche Identität in der Makroökonomik lautet Ersparnis S = Investition I. Keynes bemerkt dazu: „S = I at all rates of investment. Y either definable as C + S or as C + I. S and I were opposite facets of the same phenomenon they did not need a rate of interest to bring them into equilibrium for they were at all times and in all conditions in equilibrium.“13 Diese Gleichung ergibt sich zwingend aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) und sorgt oft dafür, dass angenommen wird, die Ersparnis S würde die Investition I oder, in der erweiterten Form S = I + NX, die Nettoexporte NX oder gar die Exporte EX finanzieren. Im Extremfall wird sogar behauptet, dass die Ersparnis kausal sei.14 In einer geschlossenen Volkswirtschaft würden Banken also als Intermediäre die Ersparnisse und die Investitionen vermittels des Zinses in Einklang bringen. Der Zins, zu dem dieses Gleichgewicht entstehen soll, wird als natürlicher Zins bezeichnet. Diese Sichtweise hat jedoch in einer modernen Geldwirtschaft keine Basis, weil die Identität S = I zu jeder Zeit erfüllt sein muss. Auf der Seite der Ausgaben gilt Y = C + I, auf der Seite der Einnahmen Y = C + S. Sollte also S nicht gleich I sein, dann gibt es entweder Ausgaben ohne Einnahmen (S < I) oder Einnahmen ohne Ausgaben (S > I). Diese Fälle verstoßen gegen die Regeln der VGR. Wenn Sparer ihre Ersparnisse zur Bank bringen, und die Bank diese später an (realwirtschaftliche) Investoren weiterreicht, dann ist es zu spät: Wir haben Ersparnisse, aber die Investitionen folgen zeitlich versetzt. Damit wäre die Identität verletzt, die Theorie der Bank als Intermediär somit widerlegt.
Wie lässt sich die Geldschöpfung aus dem Nichts beschreiben? Wenn eine Bank, wie in Tabelle 1 einen Kredit vergibt, entstehen beim Kreditnehmer Einlagen als Forderung und bei der Bank der Kredit. Aus Sicht der Bank sind die Einlagen Verbindlichkeiten, da sie verspricht, dafür Bargeld auszuzahlen. Für den Kreditnehmer ist der Kredit eine Verbindlichkeit, die in der Zukunft getilgt werden muss. Durch die reine Kreditvergabe, die übrigens von der Bank in der Regel nur dann erfolgt, wenn genügend Sicherheiten vorliegen, die Bonität geprüft ist usw., entstehen weder Ersparnisse noch Investitionen. Makroökonomisch sind Ersparnisse nichts anderes als nicht verausgabte Einkommen, also Einkommen abzüglich Konsum abzüglich Steuern plus staatliche „Ersparnis“. Der Kreditnehmer hat den Kredit aber nicht zum Spaß aufgenommen, schließlich kostet er ihn Zinsen. Die Einlagen sollen ausgegeben werden, beispielsweise für Investitionen in Immobilien, Maschinen oder andere Kapitalgüter. Angenommen der Kreditnehmer bezahlt einen Arbeitnehmer dafür, dass er ihm eine kleine Garage für seine Firma baut. Der Kreditnehmer überweist dem Arbeitnehmer die Einlagen und bezahlt damit die Garage. Halten wir im Moment des Banktransfers die Zeit kurz an. Der Arbeitnehmer hat nun ein höheres Einkommen, dass er (noch) nicht ausgegeben hat. Damit steigt die volkswirtschaftliche Ersparnis. Der Kreditnehmer hat eine Garage, was als Investition gebucht wird. Es haben sich also gleichzeitig Ersparnis und Investition erhöht. Die Kausalität ist dabei ganz klar: Nicht der Sparwunsch des Arbeitnehmers hat die Investition ausgelöst, sondern die Aufnahme eines Kredits durch den Kreditnehmer zur Finanzierung einer Investition. Ein potenzieller Sparer kann potenzielle Investoren nicht zur Investition zwingen.15 Auch die Bank als Intermediär kann die Ersparnisse der Kunden anderen Kunden nicht aufdrücken.
So kollidiert die Lehre der „Bank als Intermediär“ mit der Erkenntnis, dass Ersparnisse und Investitionen zu jeder Zeit identisch sein müssen. Die Ersparnis sollte vielmehr, mit den Worten von Warren Mosler, als „das bilanzielle Abbild der Investitionen“, also der Gegenbuchung zur Investition, verstanden werden. Dabei ist es übrigens gleichgültig, ob zur Finanzierung ein Kredit oder in der Vergangenheit gebildetes Vermögen Gegenstand der Identität ist. Die Ausgaben des Investors führen zu Einnahmen beim Sparer in gleicher Höhe. Bei der Theorie der Bank als Intermediär hingegen bleibt die Frage offen, woher die Einlagen, die „verliehen“ werden sollen, denn stammen, mithin kommen die Ersparnisse scheinbar aus dem Nichts – irgendwelche Einkommen ohne Ausgaben in gleicher Höhe anderswo – und sollen dann zur Finanzierung von Ausgaben verwendet werden. Dies ist nicht plausibel, da hier die Ersparnis quasi jungfräulich (Einkommen ohne Ausgaben) zur Welt kommt. Dies widerspricht der einfachen Erkenntnis, dass Ausgaben notwendig zu Einnahmen in gleicher Höhe führen. Die Intermediär-Theorie kann die Herkunft der fraglichen Mittel nicht erklären und endet damit bestenfalls in einer endlosen Rekursion: Die Ersparnisse werden aus Einkommen gebildet. Dazu müssen aber Ausgaben gehören. Wie wurden die finanziert? Aus Ersparnissen. Woher kamen diese Ersparnisse? Diese wurden aus Einkommen gebildet. Und so geht es munter weiter. Für eine Erklärung der Entstehung von Kredit ist die Theorie der Bank als „Intermediär“ mithin nicht nur empirisch, sondern bereits logisch unmöglich. Sie ist sachlich falsch und erklärt somit nichts.
Argument II: doppelte Buchführung
Aus Sicht einer Bank sind Einlagen bei der Zentralbank Aktiva und Spareinlagen der Kunden Passiva. Wenn diese zur Kreditvergabe herangezogen werden, tauchen bilanztechnisch in beiden Fällen Probleme auf. Im ersten Fall muss das Zentralbankgeld irgendwie an den Kunden weitergereicht werden, da dieses ja den Kredit finanziert. Allerdings unterhalten Unternehmen und Haushalte generell keine Zentralbankkonten. Der Versuch, Einlagen der Zentralbank an etwaige Kunden zu überweisen, muss also scheitern. Wie genau soll man sich das Ganze dann vorstellen? Möglich wäre ein Barkredit, bei dem die Bank sich das Zentralbankguthaben in bar auszahlen lässt und dieses an den Kreditnehmer weiterreicht. Diese Vorstellung der Kreditvergabe passt aber besser in Mafia-Filme als in eine moderne Geldwirtschaft, in der Barkredite praktisch keine Rolle spielen.
Noch problematischer wird es beim „Verleihen“ der Ersparnisse von Kunden der Bank an andere Kunden. Einlagen der Kunden sind aus Sicht der Bank Verbindlichkeiten. Wie aber soll aus einer Verbindlichkeit der Bank eine Forderung der Bank gegenüber einem neuen Kreditnehmer werden? Natürlich lässt sich das Konto des Kreditnehmers um die Kreditsumme erhöhen, aber wessen Konto soll entsprechend belastet werden? Theoretisch denkbar wäre eine Abtretung der entsprechenden Forderungen des Inhabers der Einlage durch die Bank. Doch das ist schon rein rechtlich nicht möglich. Ein ähnliches Schicksal erleidet die Annahme, die Bank träte eigene Forderungen aus ausgegebenen Krediten darlehensweise ab, in einer Art Pensionsgeschäft. Doch dies würde wiederum die Frage aufwerfen, woher die Forderung stamme, die die Bank „verleiht“. Zudem ergeben Nachfragen bei Banken, dass weder das eine noch das andere tatsächlich passiert – bei der Kreditvergabe wird vielmehr „einfach“ zusätzliches Giralgeld geschaffen. Dies sieht man auch in den Statistiken. Länder mit kreditfinanziertem Immobilienboom wiesen ein entsprechend erhöhtes Wachstum der relevanten Geldmenge auf. Die spanischen Immobilienkreditnehmer hatten also keineswegs die Bankeinlagen des deutschen Sparers in Anspruch genommen, so wie es häufig dargestellt wurde. Ganz im Gegenteil: Die kreditfinanzierte Nachfrage nach deutschen Gütern und Dienstleistungen hatte zu den entsprechenden Ersparnissen in Deutschland geführt. Das Studium der Bilanzen zeigt also, dass es keinen Buchungssatz gibt, der der vermeintlichen Intermediärstellung der Bank entspricht: Kreditschöpfung durch „Verleihen“ von Zentralbankgeld oder Ersparnissen existiert nicht.16
Argument III: Wozu brauchen wir Zentralbankgeld?
Ein weiteres Argument gegen die Theorie der Bank als Intermediär basiert auf der Logik der doppelten Buchführung und dem Verständnis der institutionellen Regelungen des modernen Geldsystems. Zum einen gibt es modernes Zentralbankgeld im Großteil der Welt erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Zentralbankgeld kann also in den USA im 19. Jahrhundert keine Kredite finanziert haben. Wollte man die Banken als Intermediäre begreifen, könnten Banken allenfalls Ersparnisse in Kredite transformiert haben. Allerdings war das 19. Jahrhundert in den USA geprägt von Finanzkrisen und Depressionen. Banken hatten ihre eigenen Schuldverschreibungen in US-Dollar ausgegeben (daher der Begriff Banknote), versprachen einen Umtausch in Gold, und es kam häufiger zu Zusammenbrüchen von Banken.
Kann es eventuell sein, dass die Banken hier reihenweise Kredite geschöpft haben, die nicht durch Ersparnisse gedeckt waren? Die Antwort lautet sicherlich ja. Knut Wicksell beschreibt die Geldschöpfung in einem reinen Kreditsystem (ohne Golddeckung) wie folgt: „So viel Geld bei den Banken nachgefragt wird, so viel können sie — die Solidität des Borgers vorausgesetzt — auch leihen. Sie tun ja dabei nicht mehr, als eine Zahl in das Konto des Borgers als bewilligten Kredit oder fingiertes Depositum einzutragen. Werden ihnen nachher die daraufhin gezogenen Checks präsentiert, so schreiben sie den betreffenden Betrag dem Konto des Checkinhabers als eingezahltes Depositum (oder abgezahlte Schuld) gut. Das ‚Angebot an Geld‘ wird also durch die Nachfrage selbst geschaffen.“17 Auch Schumpeter hatte die Geldschöpfung der Banken verstanden und baute darauf seine „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ auf. Keynes stellte 1936 die monetären Aspekte einer Ökonomie in seiner Allgemeinen Theorie in den Vordergrund. Gleich am Anfang beschrieb er eindrücklich, dass Investitionen bei der Identität S = I der aktive Part sind.18 Wozu also dann Zentralbankgeld?
Banken können theoretisch so viele Kredite vergeben wie sie wollen – Sahr spricht von „Keystroke-Kapitalismus“19 – aber praktisch gesehen stoßen sie auf Probleme. Die erste Hürde ist die Nachfrage nach Kredit. Die Banken können durch ihre Zinsen das Geschäft beeinflussen, aber die Kunden müssen schon Kredite aufnehmen wollen. Da aber Haushalte und Unternehmen Bankkredite irgendwann zurückzahlen müssen, kann man getrost davon ausgehen, dass die Nachfrage nach Krediten in der Praxis nicht unbegrenzt ist. Zudem haben viele potenzielle Kreditnehmer keine ausreichenden Sicherheiten. Es gibt aber noch weitere Gesichtspunkte. Angenommen, Banken in Spanien vergeben sehr viele Kredite an den privaten Sektor zur Finanzierung von Immobiliengeschäften. Bei steigenden Preisen sieht das nach einem sicheren Geschäft aus, und die Kreditnehmer haben immer mehr Sicherheiten aufgrund der steigenden Immobilienpreise. Die spanische Wirtschaft wächst relativ kräftig, da viele neue Immobilien gebaut werden. Die steigenden Einkommen werden auch für Konsumgüter aus dem Ausland verausgabt, sodass spanische Haushalte ihre Bankeinlagen teilweise an Ausländer überweisen, wenn sie beispielsweise deutsche Autos bei spanischen Händlern kaufen. Was passiert nun im europäischen Bankensystem?
Der Interbankenmarkt in der Eurozone
Die spanischen Banken müssten jetzt den deutschen Banken Einlagen bei der Europäischen Zentralbank (EZB) in Höhe der aggregierten Kundenüberweisungen überschreiben. Dies wird endgültiger Zahlungsausgleich genannt. Allerdings können die Banken sich auch einigen, den Zahlungsausgleich aus Kostengründen in die Zukunft zu verschieben, indem sie sich untereinander Kredit gewähren. Die deutschen Banken gewähren den spanischen Banken also einen Zahlungsaufschub gegen die Gewährung eines Zinses in Höhe des Leitzinses. Dadurch müssen sich die spanischen Banken zum etwas höheren Satz der Spitzenrefinanzierungsfazilität kein Zentralbankgeld leihen, was ihre Kosten reduziert. Die deutschen Banken erhöhen ihren Gewinn, weil sie von den spanischen Banken Zinsen in Höhe des Leitzinses kassieren. Würden sie stattdessen höhere Guthaben bei der EZB halten, so würden sie den niedrigeren Einlagenzins kassieren. Solange in den Augen der Banken keine Insolvenzgefahr droht, wird erhöhter Liquiditätsbedarf durch eine erhöhte Kreditvergabe spanischer Banken am Interbankenmarkt aufgefangen. Eine Erhöhung der Kreditvergabe der Banken an den privaten Sektor heißt also nicht automatisch, dass Banken mehr Zentralbankgeld nachfragen.20 Dies tritt erst dann ein, wenn die Banken sich gegenseitig misstrauen. Dann werden die Interbankenmarktkredite bei Fälligkeit nicht verlängert, sondern der Zahlungsausgleich wird in Reserven bei der EZB verlangt. Nun müssen die spanischen Banken gegen Sicherheiten Zentralbankgeld von der spanischen Zentralbank leihen, was die Menge an Reserven ansteigen lässt. Befriedigte das Eurosystem diese zusätzliche Nachfrage nach Liquidität nicht, könnten die spanischen Banken ihre Kredite an andere Banken nicht zurückzahlen. Das würde die Finanzmarktstabilität gefährden, die von der EZB überwacht wird. Damit ist die EZB gezwungen, in der Krise die zusätzliche Nachfrage nach Zentralbankgeld zu befriedigen. Ansonsten käme es zu einer systemischen Bankenkrise.
Man erkennt an der jüngsten Geschichte der Eurozone deutlich, dass die Kreditgeldschöpfung der europäischen Banken die Zentralbankgeldmenge beeinflusst und nicht andersherum. Die Höhe der Zentralbankreserven ist insoweit endogen bedingt. Quaas hingegen behauptet, dass die Theorie des Geldmultiplikators eine obere Schranke für die Kreditvergabe der Banken definiert, „die allein von der Zentralbank kontrolliert wird und aus sachlichen Gründen nicht überschritten werden kann“21. Da jedoch die Menge an Zentralbankgeld ausschließlich durch die Nachfrage der Banken gesteigert wird, halte ich eine solche Sicht für abwegig.22 Banken in der Eurozone halten zur Zeit etwa 4 Billionen Euro an Staatsanleihen bei einer Summe an Aktiva von etwas über 30 Billionen Euro. Die EZB, so sind die Regeln, ist verpflichtet, gegen Sicherheiten zum jeweiligen Zins an Banken Zentralbankgeld zu „verleihen“. Die Menge des Zentralbankgeldes wird also nicht durch die EZB bestimmt, Quaas weist selbst auf die Kausalität „von der Nachfrage nach Sichteinlagen M zur Nachfrage nach Zentralbankgeld B“23 hin.
Lehrbuchkritik
Das Lehrbuch von Mankiw gibt eine fehlerhafte und irreführende Darstellung der Geldschöpfung.24 Aber auch das Lehrbuch „Makroökonomie“ von Blanchard und Illing ist zu kritisieren.25 Aus pädagogischen Gründen sind Vereinfachungen bzw. Abstraktionen erlaubt, aber sicher keine Erklärungen, die mit dem modernen Geldsystem nichts zu tun haben. Gerhard Illing ist auf einem Workshop vor zwei Jahren für seine Darstellung der Geldschöpfung von Studierenden kritisiert worden. In der neuen Auflage des Lehrbuchs gibt es neue Darstellungen, neue Satzbausteine und neue Boxen. Allerdings sind immer noch wesentliche Mechanismen falsch dargestellt. Dies möchte ich als freundlich-konstruktive Kritik verstanden wissen.
In Kapitel 6.3 wird „Die Rolle der Finanzintermediäre“ betrachtet. Banken würden „(Spar)-Einlagen annehmen, um damit Kredite zu vergeben, Anleihen zu finanzieren und Reserven zu halten“26. Finanzintermediäre würden „von Privatpersonen und Unternehmen Finanzmittel erhalten und damit festverzinsliche Wertpapiere oder Aktien kaufen oder auch Kredite an andere Privatpersonen oder auch Unternehmen vergeben“27. Auch hier entstehen die Ersparnisse aus dem Nichts. Dies ist zutiefst unbefriedigend. Neben Ersparnissen könne auch Zentralbankgeld zur Finanzierung von Krediten genutzt werden: „Mit den verbliebenen Überschussreserven [gesamte Einlagen bei der Zentralbank abzüglich der Mindestreserve, des Zahlungsausgleichs und der Bargeldhaltung] können die Geschäftsbanken Kredite an Unternehmen und Konsumenten vergeben.“28 Dazu wird im Bereich der Zentralbankoperationen immer noch die Geldmengensteuerung erwähnt, jetzt um die Zinssteuerung ergänzt. Immerhin ist die LM-Kurve jetzt häufiger horizontal, was einen Fortschritt darstellt. Es kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch zehn Jahre nach der Finanzkrise die Lehrbücher immer noch keine realistische und vor allem richtige Geldtheorie präsentieren. Insofern handelt es sich bei meiner Kritik nicht um eine Scheindebatte, wie von Rüdiger Bachmann vermutet, sondern um Qualitätssicherung.29
Zusammenfassung
Die aktuelle Kritik an der modernen Geldtheorie der Lehrbücher ist berechtigt. Die Bundesbank hat sehr deutlich darauf hingewiesen, dass „die Fähigkeit der Banken, Kredite zu vergeben und Geld zu schaffen, nicht davon ab[hängt], ob sie bereits über freie Zentralbankguthaben oder Einlagen verfügen“30. Damit ist die Theorie der Banken als Intermediäre hinfällig und auch die Lesart der Geldmultiplikatortheorie von Reserven hin zu Bankeinlagen. Ich habe gezeigt, warum eine Kreditschöpfung der Banken gegen Sicherheiten als Anfangspunkt der Erklärung der privaten Geldschöpfung geeignet ist, warum sie wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, und dass sie den tatsächlichen Abläufen im Bankgeschäft entspricht.31 Sie ist kompatibel mit der Ersparnis/Investition-Identität, mit der doppelten Buchführung und der Rolle von Zentralbankgeld. Zudem bestätigen inzwischen auch die Banken selbst, dass sie Einlagen per Tastatur mithilfe ihrer Buchhaltungssoftware erzeugen.32
Bankeinlagen sind also Buchungen, die durch Rechtsakte begründet werden, und nicht auf der Basis von Edelmetallen, Produkten oder Werten. Bankeinlagen bedürfen zu ihrer Entstehung keines bereits existierenden Aktivums – sie sind im Falle eines Kredits durch die simultane Entstehung zweier Forderungen bedingt: die der Bank gegen den Kreditnehmer in Höhe des einzuräumenden Kredits und die des Kreditnehmers gegen die Bank in Höhe der dem Kredit entsprechenden Einlage. Ebenso wie vertragliche Verpflichtungen (z. B. bei der Bestellung eines noch nicht produzierten Autos) aus dem Nichts geschaffen werden, geschieht dies auch bei der Kreditschöpfung. Die Wirksamkeit ergibt sich somit aus den Institutionen, nicht aber aus dem Material der Münzen oder dem Austausch von bereits existierenden Vermögensgegenständen. Nachdem Geld und Kredit rechtliche Verhältnisse sind, rechtliche Verhältnisse wiederum durch Erklärungen der jeweiligen Parteien ohne Weiteres entstehen, ist es an der Zeit, dass die Ökonomen die alten, auf Austausch von Gütern und Edelmetallen beruhenden Mythen über Bord werfen und sich der Wirklichkeit des real existierenden Geld- und Kreditsystems zuwenden.33 Dieses Beharren liegt womöglich daran, dass das Konzept der Knappheit bei so vielen anderen Theorien plausibel zu sein scheint. Warum also nicht beim Geld? Hier gilt es aber, sich als Wissenschaftler von falsifizierten Hypothesen zu lösen und die Geldtheorie entsprechend weiterzuentwickeln.34 Die Theorie der Banken als Intermediäre stellt nicht, wie vielfach behauptet, eine bloße Vereinfachung dar, sondern ist erwiesenermaßen falsch.35 Sie sollte daher an deutschen Universitäten im Rahmen der Makroökonomik nicht mehr gelehrt werden.
* Mein Dank für wertvolle Kritik und Kommentare zu diesem Artikel gilt Alexander Hoffmann.
- 1 Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken, Nichtbanken und Zentralbank im Geldschöpfungsprozess, in: Monatsbericht, 69. Jg. (2017), H. 4, S. 15-36.
- 2 D. Ehnts: Geld und Kredit: eine €-päische Perspektive, 2. Aufl., Marburg 2016; D. Ehnts: Modern Monetary Theory and European Macroeconomics, London 2016. Ähnliche Darstellungen gibt es unter anderem in F. Helmedag: Geld: Einführung und Überblick, in: D. Bartmann et al.: Knapps Enzyklopädisches Lexikon des Geld-, Bank-, und Börsenwesens, 2007, CD-ROM; oder auch R. Wray: Modern Money Theory: A Primer on Macroeconomics for Sovereign Monetary Systems, 2. Aufl., Basingstoke 2016.
- 3 G. Quaas: Die aktuelle Kritik an der makroökonomischen Geldtheorie, in: Wirtschaftsdienst, 97. Jg. (2017), H. 9, S. 664-669.
- 4 Ebenda, S. 666.
- 5 Ebenda.
- 6 Ebenda.
- 7 Ebenda, S. 668.
- 8 Aus diesem Grund gehe ich nicht auf weitere Textstellen ein, die Quaas den Publikationen der Bundesbank entnimmt.
- 9 G. Quaas, a. a. O., S. 669.
- 10 Deutsche Bundesbank, a. a. O., S. 19 f.
- 11 A. Weber: Die Bundesbank – Aufbau und Aufgaben: Bericht über eine Aussprache führender Sachverständiger mit dem Entwurf eines Bundesgesetzes über die Errichtung einer Bundesbank, Frankfurt a. M. 1950, S. 6 f.
- 12 G. Knapp: Die staatliche Theorie des Geldes, Leipzig 1905, S. 1.
- 13 D. Moggridge (Hrsg.): John Maynard Keynes, The Collected Writings, Bd. XXVII: Activities, 1940-1946, S. 388 f.
- 14 G. Felbermayr et al.: The German current account surplus: where does it come from, is it harmful and should Germany do something about it?, EconPol Policy Report, Nr. 2, 2017, S. 1.
- 15 Es gibt nur eine Ausnahme. Eine erhöhte Ersparnis kann dazu führen, dass Unternehmen ihre Produkte nicht verkaufen können. Die Erhöhung des Lagerbestands wird in der VGR als Investition verbucht. Die Bestände sind allerdings so gering, dass dieser Fall makroökonomisch gesehen nur sehr geringe Bedeutung hat.
- 16 Durch Offenmarktgeschäfte und quantitative Lockerung kann eine Zentralbank Einlagen im privaten Sektor erzeugen, nicht jedoch Kredite. Seitens der Zentralbank handelt es sich dabei im Wesentlichen um einen Passivtausch.
- 17 K. Wicksell: Geldzins und Güterpreise: Eine Studie über die den Tauschwert des Geldes bestimmenden Ursachen, Jena 1898, S. 101 f.
- 18 J. M. Keynes: The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936.
- 19 A. Sahr: Keystroke-Kapitalismus: Ungleichheit auf Knopfdruck, Hamburg 2017.
- 20 Wenn der private Sektor mehr Bargeld halten möchte, dann kann es dennoch aus diesem Grund zu einer erhöhten Ausleihe von Zentralbankgeld kommen.
- 21 G. Quaas, a. a. O., S. 666.
- 22 Hiervon sind Offenmarkttransaktionen der Notenbanken wie etwa das sogenannte Quantitative Easing zu unterscheiden. Bei diesen handelt es sich im Wesentlichen um einen Passivtausch der Notenbank, während die kreditinduzierte Nachfrage nach Notenbankreserven, eine entsprechende Bilanzverlängerung nach sich zieht.
- 23 G. Quaas, a. a. O., S. 667.
- 24 D. Ehnts: Das Geld kommt aus dem Nichts, taz online vom 2.7.2017, http://www.taz.de/!5422477/ (26.10.2017).
- 25 O. Blanchard, G. Illing: Makroökonomie, 7. Aufl., München 2017.
- 26 Ebenda, S. 185.
- 27 Ebenda, S. 125.
- 28 Ebenda, S. 126.
- 29 Vgl. G. Braunberger: „Es werden Scheindebatten geführt“, Interview mit Rüdiger Bachmann, in: Fazit – das Wirtschaftsblog, 9.7.2017, http://blogs.faz.net/fazit/2017/07/09/8879-8879/ (1.12.2017).
- 30 Deutsche Bundesbank: Die Rolle von Banken ..., a. a. O., S. 15.
- 31 Vgl. auch U. Bindseil, P. König: Basil J. Moore‘s Horizontalists and Verticalists: An Appraisal 25 Years Later, in: Review of Keynesian Economics, 1. Jg. (2013), H. 4, S. 383-390.
- 32 Vgl. Pufendorf Gesellschaft: Die Freie Gemeinschaftsbank (CH) erklärt Geldschöpfung – aus dem Nichts!, 17.10.2017, https://www.pufendorf-gesellschaft.org/single-post/2017/10/17/Die-Freie-Gemeinschaftsbank-CH-erkl %C3 %A4rt-Geldsch %C3 %B6pfung---aus-dem-Nichts (1.12.2017).
- 33 Dabei gilt es insbesondere, die „Mechanik“ der Staatsausgaben zu verstehen. Vgl. W. Mosler: Die sieben unschuldigen, aber tödlichen Betrügereien der Wirtschaftspolitik, Berlin 2017.
- 34 Dies gilt natürlich auch für andere Disziplinen als die Ökonomik, die teilweise schon weiter sind. Vgl. B. Braun: Central bank planning? Unconventional monetary policy and the price of bending the yield curve, in: J. Beckert, R. Bronk (Hrsg.): Uncertain Futures: Imaginaries, Narratives, and Calculation in the Economy, Cambridge University Press (in Vorbereitung); oder auch O. Kuhn: Der politische Laiendiskurs über die Verantwortung für die Finanzkrise seit 2007, in: J. Maeße et al. (Hrsg.): Die Innenwelt der Ökonomie: Wissen, Macht und Performativität in der Wirtschaftswissenschaft, Berlin (in Veröffentlichung).
- 35 In diesem Zusammenhang lohnt es sich, die allgemeinen geldtheoretischen Konsequenzen der Geldschöpfung ex nihilo zu bedenken: Geld ist Kredit und entsteht ebenso aus dem Nichts. Danach gibt es kein Geld ohne Verschuldung.
Die aktuelle Kritik an der makroökonomischen Geldtheorie – eine Erwiderung
Zunächst wäre festzustellen, dass es nicht nur um meinen Standpunkt geht, oder etwa allein um die Frage, ob Banken Sparer benötigen, um Kredite zu vergeben.1 Vielmehr geht es um eine seit Jahren von verschiedenen Seiten kampagnenartig vorgetragene Kritik an der makroökonomischen Geldtheorie. Deshalb handelt es sich auch nicht um den Streit zweier Novizen auf dem Gebiet der Geldtheorie, sondern um eine prinzipielle Frage, die alle Volkswirtschaft Lehrenden angeht. Die Kritik zielt vor allem auf die Geldmultiplikator-Theorie (GMT). Unbestritten ist der Fakt, dass sich stets mehr Geld im Umlauf befindet, als von der Zentralbank ausgegeben worden ist (hier als Multiplikator-Effekt bezeichnet). Die GMT erklärt diesen Fakt damit, dass Einzahlungen der Kunden einer Bank verwendet werden, um Kredite zu finanzieren, zumindest teilweise. Dirk Ehnts behauptet: „Die Theorie der Banken als Intermediäre … ist erwiesenermaßen falsch.“2 Mit der Intermediär-Theorie der Banken würde ein wesentliches Element der GMT eliminiert werden, sodass diese nicht mehr funktioniert. Wenn es nach Ehnts und seinen Vor- und Mitkämpfern ginge, könnte sie durch die Theorie der Geldschöpfung „aus dem Nichts“ ersetzt werden. Damit würde zugleich ein weiteres Element der GMT beseitigt, die modellinterne Unterstellung nämlich, dass die Schöpfung von Giralgeld die Verfügung über Zentralbankgeld voraussetzt.
Anforderungen an eine Falsifikation
Lehrbücher werden ständig – mit jeder neuen Auflage – umgeschrieben. Eine Theorie, die nachweislich falsch ist, hat keine Chance, sehr viele Auflagen zu erleben. Bedingung ist, dass sich die Wissenschaftlergemeinschaft davon überzeugen kann, dass sie falsch ist. Dazu gäbe es im Fall der Intermediär-Theorie folgende Möglichkeiten:
- Es existieren Gesetze, die den Banken verbieten, die Ersparnisse ihrer Kunden zu verleihen.
- Eine autorisierte und glaubhafte Darstellung, dass Banken die Einzahlungen ihrer Kunden in praxi nicht anrühren.
- Erkenntnisse, die zeigen, dass die Banken aufgrund der Strukturen des Geldsystems die Guthaben ihrer Kunden gar nicht verleihen können.
Die Möglichkeit (1) nimmt niemand in Anspruch. Punkt (3) erfordert vor allem eine plausible Darstellung der zugrunde liegenden Erkenntnisse. Punkt (2) generiert den klassischen Fall einer Falsifikation. Dazu müsste es eine Darstellung von wiederholbaren Vorgängen geben, die sich auf anerkannte Basissätze stützt und im Widerspruch zur Theorie steht, also eine „falsifizierende Hypothese“. Erkennt die Wissenschaftlergemeinschaft letztere als wahr an, gilt die Theorie als widerlegt.3 Die Basissätze können nur von Beobachtern oder Akteuren stammen, die nicht nur einen Einblick, sondern vor allem einen Überblick über den Gegenstand der Theorie haben. Hier kommen Publikationen der Deutschen Bundesbank, der Europäischen Zentralbank und der Bank of England in Betracht, auf die sich auch Ehnts beruft. Man darf annehmen, dass diese Darstellungen korrekt sind. Allerdings wäre zu beachten, dass Banker und die Autoren dieser Publikationen selten Theoretiker sind, deshalb gilt: „Objective social science can have no other basis than ‚the already constituted meanings of active participants in the social world‘, but it cannot remain at the subjective level of these meanings.“4 Die Aussagen der Praktiker müssen also interpretiert und in den Rahmen des theoretischen Diskurses gestellt werden.
Ehnts‘ Initiativen und einige Reaktionen darauf
Im deutschsprachigen Raum sind Ehnts‘ Thesen durch mehrere Beiträge zur „Ökonomenstimme“ aufgefallen, von denen zwei die bezeichnenden Titel tragen „Banken schöpfen Geld aus dem Nichts und sind keine Intermediäre“5 und „Die Bundesbank erklärt den Geldmultiplikator für falsch und das Geld aus dem Nichts für richtig“6. Der erste Titel stellt die Hauptthesen des Autors dar, letzterer ist typisch für sein Verständnis von „Basissätzen“: Demnach genügt die Erklärung von einigen Praktikern, um eine Theorie zu falsifizieren. Aussagen derselben Autoren werden herangezogen, um die neue Theorie zu inthronisieren.
Ehnts theoretische Quellen sind entweder älteren Datums oder stammen von Vertretern der Modern Monetary Theory,7 die auch die Publikationen der Bank of England beeinflusst haben. Kritisiert werden die Lehrbücher von Blanchard/Illing8 und Mankiw9. Eine umfassende Begründung der neuen Theorie liefert Ehnts in seinem Buch, das unter einem nicht ganz zutreffenden Titel erschienen ist,10 da darin weniger eine „€-päische“ als eine „bilanzielle Perspektive“ eingenommen wird. Inzwischen haben intensive Diskussionen stattgefunden, an denen sich vor allem Blogger beteiligten.11 Meine Analyse des Buches mündete in eine Rezension, die für den Literaturbetrieb viel zu lang ausfiel und deshalb als MPRA-Paper veröffentlicht wurde.12 Während der Kritische Rationalismus empfiehlt, eine in sich widersprüchliche Theorie zu verwerfen,13 wurde in einem Beitrag zur „Ökonomenstimme“ versucht,14 diejenigen Passagen aus dem Buch herauszufiltern, die eine realistische Darstellung des zweistufigen Geldsystems aus bilanzieller Perspektive erlauben. Eine Wirkung dieser Bemühungen auf den Autor blieb jedoch aus: In seiner Replik wiederholt er Thesen, die andernorts bereits widerlegt worden sind. Letzteres entlastet mich davon, nochmals auf jedes einzelne Argument eingehen zu müssen.
Interpretationsprobleme
Auf die angeblich häufig gestellte Frage: „Benötigt die Geschäftsbank zuerst Zentralbankgeld, bevor sie Kredite vergeben kann, aus denen ihr Zahlungsverpflichtungen entstehen können?“ geben die Autoren der Bundesbank nach einer kurzen Polemik gegen die GMT (ohne Literaturverweis) die Antwort, dass „einzelne Geschäftsbanken normalerweise stets in der Lage“ sind, „sich bei Bedarf Zentralbankgeld kurzfristig über den Geldmarkt zu beschaffen“.15
Für das Verständnis des modernen Geldsystems für Schüler und sonstige interessierte Laien wäre es wichtig gewesen, die wesentlichen Voraussetzungen für die Vergabe von Krediten durch Geschäftsbanken zu behandeln. Die Autoren ersetzen die Frage, ob und warum die Geschäftsbank Zentralbankgeld benötigt, um Kredite zu vergeben, durch die nebensächliche Frage nach der zeitlichen Reihenfolge der Geldbeschaffung. Doch wer interessiert sich für diese Einzelheit der Bankenpraxis, ohne selber Banker werden zu wollen? Die Antwort der Bundesbank-Autoren wird von Ehnts aufgegriffen: Wenn die Banken Zentralbankgeld benötigen, können sie es sich auch nach der Vergabe von Krediten beschaffen.16 Das mag sein. So sieht es der Angestellte einer Bank, der nach einem größeren Abfluss von Zentralbankgeld seinen Chef benachrichtigt, frisches Geld zu besorgen. Was er dabei übersieht, ist, dass seine Bank schon längst vom Markt genommen worden wäre, hätte sie nicht vor der Vergabe von Krediten die einschlägigen Liquiditäts- und Eigenkapital-Prüfungen bestanden. Aber auch wenn es diese gesetzlichen Anforderungen nicht gäbe: Eine Geschäftsbank, die nach den Regeln eines ehrbaren Kaufmanns handelt, verfügt stets über ausreichend Liquidität, um ihre Kreditnehmer zu bedienen. Doch nach Ehnts ist das unnötig: Sie kann ja Geld aus dem Nichts schöpfen.
Hier die alternative Interpretation jener „Basissätze“ der Praktiker: Dass eine Geschäftsbank sich Zentralbankgeld beschaffen kann, belegt, dass sie ausreichend viele, hoch-liquide Wertpapiere besitzt, die sie verkaufen oder verpfänden kann. Und es bestätigt die Auffassung, dass die Verfügung über Zentralbankgeld eine Voraussetzung ist, um weitere Kredite zu vergeben. Denn wozu „benötigt“ sie sonst dieses Geld? Wird diese Voraussetzung von einer Bank missachtet, ist sie in kürzester Zeit bankrott.
Die ergänzenden Antworten der Bundesbank zeigen die Quellen des „benötigten“ Zentralbankgeldes auf: „Außerdem bietet das Eurosystem den Geschäftsbanken die Möglichkeit, sich – gegen Verpfändung von ausreichenden Sicherheiten – Zentralbankgeld über Refinanzierungsgeschäfte oder ständige Fazilitäten zu beschaffen.“17 Wieder wird, wenn auch indirekt, bestätigt, dass Zentralbankgeld für die Vergabe von Krediten benötigt wird. Und zum dritten Mal: „Abgesehen davon verfügen die Geschäftsbanken im Normalfall stets über ein gewisses Guthaben in Zentralbankgeld. Denn jede Geschäftsbank ist verpflichtet, eine Mindestreserve in Zentralbankgeld zu halten (die nach der Höhe ihrer Kundeneinlagen zu einem bestimmten Zeitpunkt bemessen wird).“18 Kundeneinlagen lauten nun einmal auf Zentralbankgeld und werden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit abgerufen. Man sollte es also haben, bevor man Kredite vergibt. Die Antwort auf die unterlassene, aber wesentliche Frage lautet also: Ja, die Geschäftsbanken benötigen Zentralbankgeld, um Kredite zu vergeben und Giralgeld zu schöpfen. Und deshalb muss eine systematische Darstellung der Geldtheorie mit der Schöpfung von Zentralbankgeld beginnen und nicht, wie bei Ehnts, mit der Giralgeld-Schöpfung.19
Über diese Selbstverständlichkeit, dass die Kreditvergabe der Geschäftsbanken die Verfügung über Zentralbankgeld und nicht über Gummibärchen20 voraussetzt, wird auf verschiedenen Internet-Foren und in Zeitungsartikeln mit großer Verve gestritten. Einige Vertreter der Modern Monetary Theory berufen sich unter anderem auf die pauschale Kritik der Bundesbank an der GMT. Das Paradoxe daran ist, dass die GMT zumindest in ihren deutschsprachigen Darstellungen bislang einen Reservesatz von 2 % unterstellt; und das bedeutet, dass in 49 von 50 Fällen Quelle des Zentralbankgeldes gar nicht die Zentralbank, sondern der Interbankenmarkt ist, so wie die anonymen Autoren der Bundesbank es „ganz modern“ darstellen. In seiner Replik wertet Ehnts weitere Textstellen aus, die den Publikationen der Bundesbank entstammen, obwohl es doch angeblich gar „nicht der Anrufung höherer Instanzen“ bedarf. Großzügig verzichtet er auf eine Auseinandersetzung mit meinen zahlreichen Hinweisen auf widersprechende Aussagen.21
Die darauf folgende Kontendarstellung einer Kreditvergabe22 unterschlägt entscheidende Stellen aus dem Original, z. B., dass es sich um in Zentralbankgeld notierte Kredite handelt und dass die Zentralbankbilanz nur deshalb leer ist, weil sie sich im Augenblick der Kreditvergabe nicht verändert:23 selbstverständlich! Denn die Bank muss ja schon vorher liquide gewesen sein.
Argument I: Ersparnis = Investitionen
Auf der Grundlage von Überlegungen zur Keynesianischen Identität S = I zieht Ehnts folgende Schlussfolgerung: „So kollidiert die Lehre der ‚Bank als Intermediär‘ mit der Erkenntnis, dass Ersparnisse und Investitionen zu jeder Zeit identisch sein müssen.“ Einzige Ausnahme seien die vernachlässigbaren Lagerinvestitionen.24 Die Keynesianische Identität ist seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der Lehrbuchliteratur, auf den man sich berufen kann. Diese Identität konnte deshalb überleben, weil sie Bestandteil der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) geworden ist und dadurch einen präzisen Sinn erhalten hat, der nicht nur Argumentationen, sondern auch Messungen zulässt. Selbstverständlich erwartet man von einem heute agierenden Ökonomen, dass er sich bei Überlegungen, die letztlich in wirtschaftspolitische Empfehlungen münden sollen, auf den aktuellen Stand der Erkenntnis bezieht. Dieser zeigt jedoch, dass dieser Ansatz für die Klärung des Problems nicht geeignet ist:
- VGR-Größen und -Identitäten bilden Forderungsströme und Bestände ab, denen realwirtschaftliche Transaktionen und deren Resultate zugrunde liegen. In vielen Fällen haben die Forderungsströme monetäre Entsprechungen, in manchen aber nicht (Beispiele: Abschreibungen, Nettoexporte). Wichtiger noch: Monetäre Ströme gehen in einem zweistufigen Geldsystem zum Teil weit über die von den VGR registrierten hinaus. Der Zusammenhang zwischen beiden Kreisläufen ist auch nicht immer eindeutig. So bleibt in den VGR offen, ob das Sparen der privaten Haushalte zu Veränderungen in den Konten, in der Kasse oder unter dem Kopfkissen führt. Es ist also nicht möglich, von den realwirtschaftlichen Kreisläufen auf das Verhalten der Akteure in einem zweistufigen Geldsystem zu schließen – so wie es Ehnts versucht.
- Die Identität S = I bezieht sich auf eine geschlossene Volkswirtschaft, die man vom Standpunkt einer europäischen Perspektive vergeblich sucht. Räumt man ein, dass Ehnts „nur“ theoretisch argumentiert, ergibt sich dennoch folgendes Problem: Da das Sparen (früher: „Ersparnis“) im Rahmen der VGR durch die Differenz zwischen Einnahmen und Konsumausgaben definiert wird und sich dabei auf die Akteure „Staat“ und „private Haushalte“ bezieht, nicht aber wie Ehnts auf Unternehmen,25 bleiben die Abschreibungen der Unternehmen und die Ersatzinvestitionen außen vor. Das „I“ in der Identität ist somit ein Maß für die Nettoinvestitionen – ein relativ kleiner Teil, der 2016 nur ein Viertel der Bruttoinvestitionen ausmachte. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass das Sparen der Haushalte und des Staates entsprechende monetäre Ströme auslöst, aber gerade die von Ehnts ignorierten Abschreibungen und Ersatzinvestitionen dürften dreimal größere Ströme auslösen, von denen ein beträchtlicher Teil über Spareinlagen und die damit ermöglichten Finanzierungen laufen. Die Beschränkung auf die Keynesianische Identität blendet also gerade die Prozesse aus, die für das Kreditgeschäft von Bedeutung sind.
- In einer offenen Volkswirtschaft ist die „Ersparnis“ keineswegs mit den (Netto-)Investitionen identisch. Vielmehr gilt: Sparen der Haushalte + Sparen des Staats = Investitionen + Nettoexport (Ehnts vergisst den Staat). Der Nettoexport löst beispielsweise monetäre Ströme aus, die durch den Filter selbst der erweiterten Keynesianischen Identität hindurchfallen. Das wird sofort klar, wenn man sich an die Definition Nettoexporte = Exporte – Importe erinnert und bedenkt, dass beide einzeln genommen in Deutschland ca. 40 % des BIP ausmachen (also ein Mehrfaches der Investitionen). Exporte werden zu einem überwiegenden Teil in US-Dollar bezahlt, die benötigt werden, um Importe zu bezahlen. Vermittler (Intermediäre!) sind – natürlich die Banken!
Argument II: doppelte Buchführung
Genau genommen besteht diese Kritik aus zwei verschiedenen Argumenten.
- Um den Zusammenhang zwischen Zentralbankgeld und Giralgeld bestreiten zu können, errichtet Ehnts, symbolisch betrachtet, eine Chinesische Mauer zwischen beiden. Scheinbar der üblichen Darstellung zustimmend, argumentiert er: Das Zentralbankgeld muss „irgendwie an den Kunden weitergereicht werden, da dieses ja den Kredit finanziert. Allerdings unterhalten Unternehmen und Haushalte generell keine Zentralbankkonten. Der Versuch, Einlagen der Zentralbank an etwaige Kunden zu überweisen, muss also scheitern.“26 Diese Behauptung steht im Widerspruch zu seiner eigenen Darstellung im Buch. Dort wird simuliert, dass die Regierung Arbeitsleistungen von einem Haushalt kauft. Das Guthaben der Regierung befindet sich auf einem Konto der Zentralbank. Die Überweisung an den Haushalt greift durch die Ebene des Interbankenmarktes hindurch auf die Ebene der gewöhnlichen Bankkunden. Die Schnittstelle ist – eine Geschäftsbank. „Dabei bekommt der Haushalt Einlagen bei seiner Bank gutgeschrieben, die wiederum im Zahlungsausgleich Reserven von der Regierung bekommt.“27 Die Überweisung scheitert keineswegs.
- „Noch problematischer wird es beim ‚Verleihen‘ der Ersparnisse von Kunden der Bank an andere Kunden. Einlagen der Kunden sind aus Sicht einer Bank Verbindlichkeiten. Wie aber soll aus einer Verbindlichkeit der Bank eine Forderung einer Bank gegenüber einem neuen Kreditnehmer werden?“28 Vergessen ist die Grundregel der bilanziellen Perspektive, dass den Verbindlichkeiten immer auch Aktiva gegenüberstehen, im gegebenen Fall, die freien Bankreserven oder das wohlverdiente Geld des Sparers und Lieferanten von Arbeitsleistungen. Fast unglaublich ist der Fakt, dass Ehnts diesen Fall in seinem Buch selber darstellt.29 Dort findet man die Bilanz einer Bank (B), die Einlagen in Höhe von 100 selbst geschöpft hat (erkennbar an dem Kredit auf der Aktiv-Seite ihres Kontos) und außerdem Einlagen in Höhe von 250 durch Einzahlungen von Kunden zur Verfügung hat. Die entsprechenden Aktiva in Höhe von 250 tauchen in dieser Bilanz als Kredit an die Bank A auf. Offenbar hat Bank B auf die Gelder ihrer Kunden zurückgegriffen, um einen Kredit zu finanzieren! Eine Transaktion, die nach Ehnts eigentlich unmöglich sein sollte.
Ein Stück Realität in bilanzieller Perspektive
Im Buch von Ehnts findet man fast alles, was man für eine Geldtheorie braucht (außer der Emission von Zentralbankgeld): Jedoch steht oftmals einer These an anderer Stelle die Anti-These gegenüber. Deshalb ist es möglich, aus den zahlreichen Kontendarstellungen ein realitätsnahes Bild zu konstruieren. Die Gesamtsituation, einschließlich der Kreditaufnahme der Geschäftsbanken bei der Zentralbank, ist buchungstechnisch zu skizzieren, um die theoretische Möglichkeit der Verwendung von Kundenguthaben als Finanzierungsquelle weiterer Kredite im Rahmen der von Ehnts favorisierten bilanziellen Perspektive nachzuweisen. Um deutlich zu machen, woher welches Geld kommt und wo es hingegangen ist, sind die Zahlen im Vergleich zu Ehnts‘ Darstellungen stellenweise geändert und die Bilanzen verlängert worden.
Tabelle 1
Bank A gewährt Haushalt A einen Kredit
Quelle: eigene Darstellung.
In Tabelle 1 wird unterstellt, dass die Bank A bei der Zentralbank einen Kredit von 150 aufnimmt, um geschäftsfähig zu werden. Die Regierung mischt ebenfalls mit und verkauft Staatsanleihen im Wert von 100 an die Bank A, sodass deren Reserven auf 50 schrumpfen. Die anderen 100 wandern für einen Moment auf das Konto der Regierung (nicht dargestellt). Mit diesen Reserven kauft die Regierung Arbeitsleistungen im Wert von 100 vom Haushalt B. Dazu überweist sie die Reserven 100 an die Bank A (auf deren Aktiv-Seite verbucht), die im Gegenzug dem Haushalt Einlagen im Wert von 100 gutschreibt, bei ihr als Verbindlichkeit verbucht. Der Haushalt B verfügt jetzt über Einlagen, die sein Nettovermögen im Wert von 100 verkörpern. Es ist realistisch, anzunehmen, dass Bank A einen Teil ihrer Aktiva verwenden wird, um neue Kredite zu vergeben. Denn schließlich müssen die Zinsen, die sie nach Ehnts auf die Einlagen des Haushalts B zahlen muss, am Markt verdient werden.30 Bank A vergibt also einen Kredit von 60 an Haushalt A. Nach der Transaktion ist die Bank A immer noch ziemlich liquide; nicht nur wegen der Staatsanleihen, die sie kurzfristig verkaufen könnte, sondern weil 15/16 der jederzeit abrufbaren Einlagen durch Reserven abgesichert sind.
Die Verwendung von Kundengeldern zur Vergabe von Krediten ist, wie soeben gezeigt, theoretisch möglich. In der Praxis gehört dieser Vorgang zum Kerngeschäft jeder Geschäftsbank: „the core deposits provided by euro area households and non-financial corporations are of particular importance as they account for a third of bank‘s main liabilities in the aggregate balance sheet. The bulk of these deposits can be withdrawn at relatively short notice. However, in practice, these deposits are held on a fairly continuous basis, thus providing a reliable source of funding to the banks.“31
Fazit
Die GMT steht unerschüttert da, auch wenn sie bei der Steuerung des Geldumlaufs und der Kreditvergabe nicht sehr hilfreich ist. Offenbar haben einige Banker und Theoretiker die GMT mechanisch interpretiert und sind nun enttäuscht, dass Empirie und Praxis etwas anderes zeigen. Für die Darstellung der GMT ist die Konsequenz zu ziehen, stärker die Variabilität des Geldmultiplikators und die Mannigfaltigkeit der Quellen von Zentralbankgeld zu betonen, das für die Kreditvergabe gebraucht wird. Die Formel, dass „Menge des Zentralbankgeldes“ mal „Multiplikator“ eine obere Schranke für die Giralgeld-Schöpfung definiert, bleibt auch bei einer akkommodierenden Geldpolitik gültig. Da es sich um einen strukturellen Zusammenhang handelt, sagt er nichts über die Kausalitäten aus. Die Angriffe auf die Kernelemente der GMT (Verfügung über Zentralbankguthaben, Banken als Intermediäre) scheitern logisch an der Widersprüchlichkeit der Modernen Geldtheorie, empirisch an ihrer nachweisbar eklektischen Fundierung und theoretisch an einer überzogenen Abstraktion, die Voraussetzungen und Regularien der Kreditschöpfung ignoriert. Solange keine alternative Theorie bereitsteht, die auf rationale Weise den Multiplikator-Effekt erklärt, wäre ein Verzicht auf die GMT erkenntnismäßig ein Rückschritt.
- 1 D. Ehnts: Geld und Kredit ex nihilo – Fakt oder Fiktion?, in: Wirtschaftsdienst, 98. Jg. (2018), H. 1, S. 137. Im Folgenden zitiert als „… ex nihilo“.
- 2 Ebenda, S. 142.
- 3 Vgl. K. Popper: Logik der Forschung, Wien 1935 (1934), S. 46 f.
- 4 W. Outwaite: Understanding Social Life. The Method Called Verstehen, Lewes 1986, S. 91. Der Autor zitiert den Banker und Soziologen Alfred Schütz.
- 5 D. Ehnts: Banken schöpfen Geld aus dem Nichts und sind keine Intermediäre, Ökonomenstimme, 26.3.2014, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2014/03/banken-schoepfen-geld-aus-dem-nichts-und-sind-keine-intermediaere/ (3.1.2018). Die Behauptung, ich würde der Geldschöpfung aus dem Nichts zustimmen, wenn Banken keine Sparer benötigen, trifft nicht zu. Vgl. D. Ehnts: … ex nihilo, a. a. O., S. 137, erster Punkt. Es geht auch nicht darum, ob sie es benötigen, sondern ob sie es zur Finanzierung von Krediten heranziehen oder in ihren Tresoren schmoren lassen.
- 6 D. Ehnts: Die Bundesbank erklärt den Geldmultiplikator für falsch und das Geld aus dem Nichts für richtig, Ökonomenstimme, 16.5.2017, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2017/05/die-bundesbank-erklaert-den-geldmultiplikator-fuer-falsch-und-das-geld-aus-dem-nichts-fuer-richtig/ (3.1.2018).
- 7 Vgl. die Fußnoten bei D. Ehnts: … ex nihilo, a. a. O. Zu erwähnen wären auch die zahlreichen Publikationen von E. Tymoigne, die man unter dem Suchmaschinen-Stichwort „Towards a Heterodox Perspective on Money“ findet.
- 8 O. Blanchard, G. Illing: Makroökonomie, München 2009.
- 9 N. G. Mankiw: Makroökonomik, Wiesbaden 1993.
- 10 D. Ehnts: Geld und Kredit: eine €-päische Perspektive, Marburg 2014 und 2016. Hier wird auf S. 13 der revidierten Auflage verwiesen.
- 11 Abgesehen von einigen Kommentaren, sind meine eigenen Beiträge die folgenden: „Irrungen und Wirrungen im Umfeld der Geldtheorie“. In diesem MPRA-Paper wird anhand einer Literaturanalyse gezeigt, dass Ehnts die von ihm ausgewählten Aussagen in den Bundes- und Zentralbank-Publikationen nicht korrekt interpretiert, während widersprechende Aussagen ignoriert werden. Eine Kurzfassung dieses Papiers erschien auf „Ökonomenstimme“. G. Quaas: Was an der Kritik der Geldtheorie berechtigt ist und was nicht, Ökonomenstimme, 15.6.2017, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2017/06/was-an-der-kritik-der-geldtheorie-berechtigt-ist-und-was-nicht/ (3.1.2018). Ehnts beteiligte sich an der dortigen Diskussion, indem er eine Replik mit dem Titel „Die Theorie des Geldmultiplikators ist ein neoklassischer Irrtum“ postete, vgl. D. Ehnts: Die Theorie des Geldmultiplikators ist ein neoklassischer Irrtum, Ökonomenstimme, 23.6.2017, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2017/06/die-theorie-des-geldmultiplikators-ist-ein-neoklassischer-irrtum (3.1.2018).
- 12 G. Quaas: Das Nichts ist Zentralbankgeld. Anmerkungen zu Dirk Ehnts‘ Buch über Geld und Kredit, 17.11.2017, https://mpra.ub.uni-muenchen.de/82759/ (3.1.2018).
- 13 K. R. Popper: Was ist Dialektik?, in: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, Berlin u. a. O. 1975.
- 14 G. Quaas: Was macht eine Bank mit dem Geld ihrer Kunden? Anmerkungen zum Buch von Dirk Ehnts, Ökonomenstimme, 27.11.2017, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2017/11/was-macht-eine-bank-mit-dem-geld-ihrer-kunden-anmerkungen-zum-buch-von-dirk-ehnts/ (3.1.2018).
- 15 Deutsche Bundesbank: Häufig gestellte Fragen zum Thema Geldschöpfung, https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/FAQ_Listen/faq_zum_thema_geldschoepfung.html (3.1.2018).
- 16 D. Ehnts: Geld und Kredit, a. a. O., S. 64 f.
- 17 Deutsche Bundesbank, a. a. O.
- 18 Ebenda.
- 19 Vgl. D. Ehnts: Geld und Kredit, a. a. O., S. 43 ff.
- 20 Ebenda, S. 57.
- 21 D. Ehnts: … ex nihilo, a. a. O., S. 138, Fn. 8.
- 22 Ebenda, S. 138.
- 23 Deutsche Bundesbank, a. a. O., S. 17 f.
- 24 D. Ehnts: … ex nihilo, a. a. O., S. 139.
- 25 D. Ehnts: Geld und Kredit, a. a. O., S. 53.
- 26 D. Ehnts: … ex nihilo, a. a. O., S. 139 f.
- 27 D. Ehnts: Geld und Kredit, a. a. O., S. 116.
- 28 D. Ehnts: … ex nihilo, S. 140.
- 29 D. Ehnts: Geld und Kredit, a. a. O., S. 86.
- 30 Ebenda, S. 96.
- 31 ECB Monthly Bulletin: The Supply of Money. Bank Behaviour and the Implications for Monetary Analysis, Oktober 2011, S. 77, https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/other/art1_mb201110en_pp63-79en.pdf (3.1.2018).