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Seit mehr als 35 Jahren ist die Geburtenrate in Deutschland auf einem konstant niedrigen Niveau von ungefähr 1,4 Kindern je Frau. Diese anhaltend niedrige Geburtenrate hat einen zentralen demografischen Trend zur Folge: die Schrumpfung der deutschen Bevölkerung. Diese wird bis 2060 je nach Szenario von 82,5 Mio. Menschen (2016) auf etwa 67 Mio. bis 77 Mio. zurückgehen.1 Gleichzeitig nimmt die Lebenserwartung in Deutschland kontinuierlich zu. Sie konnte sich in den vergangenen 140 Jahren mehr als verdoppeln und betrug 2015 bei Frauen 83,1 und bei Männern 78,2 Jahre. Aus dieser Entwicklung folgt – in Kombination mit dem chronischen „Geburtendefizit“ – ein zweiter zentraler Trend: die massive Alterung der Gesellschaft.

Die Alterung der Gesellschaft wird für das Gesundheitswesen in Deutschland schon bald spürbar werden. Denn etwa 2024 werden die ersten geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Der große Rentenansturm wird also im Laufe der 2020er Jahre bis 2034 zu erwarten sein. Die Zahl der zu versorgenden Patienten und der Bedarf an Altenpflege werden somit bereits in den 2020er Jahren, aber insbesondere im Laufe der 2030er Jahre deutlich steigen.2 Die Alterung der Gesellschaft wird jedoch nicht nur zu mehr Patienten führen, es wird vor allem auch mehr chronisch Kranke und multimorbide Patienten geben,3 mit der Folge überproportional steigender Gesundheitsausgaben. Gleichzeitig sinkt die Zahl der jüngeren Menschen und damit die Zahl der Erwerbspersonen. Das wird die sozialen Sicherungssysteme herausfordern und zu Finanzierungsproblemen in der Gesetzlichen Krankenversicherung, aber auch – etwas zeitversetzt – in der Pflegeversicherung führen. Darüber hinaus wird die Zahl der Fachkräfte in allen Branchen abnehmen, d. h. sowohl Ärzte als auch Pflegekräfte werden am Arbeitsmarkt relativ knapper und damit teurer. Folglich dürften die Lohnkosten stärker steigen als die Preise für Gesundheitsleistungen. Der effiziente Einsatz des Personals, neue Berufsfelder, eine qualifizierte Zuwanderung sowie arbeitssparender technischer Fortschritt werden stark an Bedeutung gewinnen.4

Aber bereits heute ist der demografische Wandel in vollem Gange und verläuft regional sehr unterschiedlich (vgl. Abbildung 1). 2015 war in Deutschland bereits jeder fünfte Einwohner älter als 65 Jahre. Der Anteil dieser Altersgruppe war insbesondere in Ostdeutschland und in strukturschwachen und ländlichen Regionen, aber auch im Ruhrgebiet überdurchschnittlich hoch (vgl. Abbildung 1, obere Karte), weil vor allem junge Menschen abgewandert sind und die Geburtenraten überdurchschnittlich gering waren. Bis 2035 werden starke regionale Unterschiede in der Bevölkerungsentwicklung vorhergesagt (ein sogenannter geodemografischer Wandel). Vor allem wirtschaftsstarke Regionen werden weiter wachsen; z. B. wird für das Münchener Umland ein Wachstum von 22 % erwartet. Demgegenüber werden strukturschwache Regionen, wie z. B. viele Regionen in Ostdeutschland, weiterhin starke Bevölkerungsrückgänge erleben (vgl. Abbildung 1, untere Karte). Der geodemografische Wandel wird in einigen Regionen zu einer Verschärfung, in anderen zu einer Abmilderung der Herausforderungen für das Gesundheitssystem führen. In schrumpfenden Regionen kann es sogar trotz Alterung der Bevölkerung zu einem Rückgang der Patientenzahlen und der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen kommen. Für medizinische Leistungserbringer mit hohen Fixkostenblöcken wie z. B. Krankenhäuser wird es dadurch schwieriger kostendeckend zu arbeiten.5

Abbildung 1
Bevölkerung im Alter von über 65 Jahren (obere Karte) und Bevölkerungsveränderung nach Kreisen (untere Karte)
Bevölkerung im Alter von über 65 Jahren (obere Karte) und Bevölkerungsveränderung nach Kreisen (untere Karte)

Quellen: linke Karte: Statistisches Bundesamt; Berechnungen BiB. Geometrische Grundlage: ©GeoBasis-De / BKG (2016); ©BiB 2016 / demografie-portal.de, eigene Nachbearbeitung. Rechte Karte: Daten: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Geometrische Grundlage: ©GeoBasis-De / BKG (2015); ©BiB 2016 / demografie-portal.de, eigene Nachbearbeitung.

Um einer demografisch bedingten Rationierung von Gesundheitsleistungen entgegenzutreten, gibt es im Wesentlichen drei Handlungsfelder: 1. das Nachfragewachstum bremsen, 2. die Produktivität bzw. Effizienz der Gesundheitsversorgung erhöhen und 3. zusätzliche personelle und finanzielle Ressourcen ins Gesundheitssystem lenken.6 Der Gesetzgeber hat in der vergangenen Legislaturperiode unter anderem mit dem Krankenhausstrukturgesetz (KHSG), dem GKV-Versorgungsgesetz (VSG) und dem E-Health-Gesetz bereits einige Handlungsfelder adressiert. So waren wichtige Ziele des KHSG die Dämpfung des Nachfragewachstums und die Optimierung der Krankenhausstrukturen zur Erhöhung der Effizienz. Mit dem VSG wurden Anreize zur Arztniederlassung in unterversorgten Gebieten gesetzt. Zudem wurde ein Anspruch auf Zweitmeinung zur Verbesserung der Indikationsqualität und zur Dämpfung des Leistungsmengenzuwachses gesetzlich verankert. Mit dem Innovationsfonds wurden finanzielle Mittel bereitgestellt, um die Barrieren zur Einführung sektorenübergreifender Versorgungsformen zu reduzieren. Schließlich unterstützt das E-Health-Gesetz die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Der aktuelle Koalitionsvertrag setzt unter anderem mit der Festlegung auf eine verbindliche Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA), der Weiterführung des Innovationsfonds sowie mit Maßnahmen zur Gewinnung von Pflegepersonal weitere Impulse, um die künftigen Herausforderungen zu meistern. Zusätzliche Schritte sind allerdings erforderlich.

  1. Um die Nachfrage pro Kopf zu reduzieren, gilt es, eine höhere Indikationsqualität zu erreichen oder die Behandlung der Patienten an der richtigen Stelle zu realisieren. Hier ließe sich die sektorenübergreifende Versorgung zur besseren Navigation der Patienten durch das Gesundheitssystem ausweiten. Zudem könnte der Fokus auf ausgewählte kosteneffektive Präventionsmaßnahmen gelenkt und eine Verlagerung der Versorgung in den ambulanten Sektor unterstützt werden. Ferner sollte generell ein Fokus auf nachfragereduzierenden technischen Fortschritt gelegt werden. Hier könnte eine Offenheit für kosteneffektive Maßnahmen der genomischen und Präzisionsmedizin sinnvolle Impulse setzen. Die ePA könnte als Instrument zur Nachfragereduktion eine Schlüsselposition einnehmen: Mit ihrer Hilfe ließe sich systematisch die Versorgungsforschung voranbringen, die z. B. zur Identifizierung auffälliger Muster bei der Indikationsstellung erforderlich ist. Auch ist die Vergütung der Leistungserbringer zentral. Die herrschenden Leistungsstrukturen sind ein Abbild der Vergütungsstrukturen: eine am Patienten orientierte sektorenübergreifende Versorgung braucht auch eine sektorenübergreifende Vergütung.
  2. Zur Steigerung der Produktivität im Gesundheitswesen sollten Strukturoptimierungen fortgeführt und integrierte Gesundheitszentren gebildet werden. Insbesondere in Regionen mit schrumpfender und alternder Bevölkerung bieten sich integrierte Gesundheitszentren an, in denen sich verschiedene Stärken vereinen. Erstens können sie den Patienten Gesundheitsleistung aus einer Hand anbieten. Das bedeutet für die Patienten weniger aufwändige Schnittstellen zwischen verschiedenen Anbietern, besonders zwischen ambulanten und stationären. Zweitens können die Leistungserbringer bei Teilung von Fixkosten wirtschaftlicher arbeiten. Sie können sich sogar Personal teilen und durch die Größe solcher Zentren Mindestbesetzungen viel besser abbilden. Drittens sind sie attraktiver für Fachkräfte, die immer schwieriger zu finden sind (gerade in ländlichen Regionen). Allerdings wird die Versorgung zentralisierter, d. h. die Entfernungen zum Gesundheitsanbieter wird für manche Patienten größer. Im Gegenzug erhalten sie eine bessere Versorgungsqualität und ein breiteres medizinisches Angebot. Effizienzsteigernde Innovationen und Digitalisierungsmaßnahmen sind ein weiterer zentraler Baustein, um Rationierungen künftig zu vermeiden. Ein Beispiel ist hier wiederum die ePA, deren Potenziale enorm sind.7 Wichtige, zum Teil lebensrettende Informationen könnten damit für die Behandlung von Patienten zu jeder Zeit und an jedem Ort zur Verfügung stehen. Dies würde Doppeluntersuchungen reduzieren, die Medikation von Patienten transparenter gestalten und die Diagnostik unterstützen. Ein anderes Beispiel ist die Telemedizin. Davon könnten insbesondere Menschen in ländlichen und schrumpfenden Regionen profitieren, in denen medizinische Infrastruktur fehlt oder künftig fehlen wird. Zudem gibt es immer mehr Menschen, die Zeit sparen möchten. Man kann Patienten nur noch schwer vermitteln, lange im Wartezimmer zu sitzen, anstatt kurz am Telefon oder vor dem PC mit dem Arzt zu sprechen. Allerdings werden Digitalisierungsmaßnahmen mit positiven externen Effekten kaum allein von einzelnen Anbietern finanziert werden, wenn sie nur die Kosten tragen, aber von dem Nutzen der positiven Effekte für Dritte keine eigenen Vorteile haben. Hier wäre möglicherweise eine staatliche Investitionsfinanzierung zum Aufbau einer standardisierten Telematikinfrastruktur sinnvoll. Ferner bietet der verstärkte Einsatz von Sensorik und Robotik das Potenzial, das Gesundheitswesen deutlich effizienter zu machen. Jedoch werden Roboter, die die Pflege direkt am Menschen durchführen können, wohl noch lange auf sich warten lassen. Aber Roboter werden Pflegekräfte unterstützen können. In der Logistik dürften Roboter in den 2020er Jahren wertvolle Unterstützung bei Tätigkeiten leisten, die wiederkehrend sind und nur wenige unerwartete Ereignisse mit sich bringen. So werden in Großkrankenhäusern für den automatisierten Transport bereits heute fahrerlose Fahrzeuge zur Ver- und Entsorgung von Gütern des täglichen Bedarfs, wie Wäsche, Patientenessen, Wert- und Reststoffe, eingesetzt. Es ist ferner zu erwarten, dass die Automatisierung der Logistik mit Hilfe von mobilen Robotern auch auf Transporte auf Stationen und innerhalb von Wohnbereichen ausgedehnt wird.
  3. Die Ressourcensituation muss verbessert werden. Eine große Herausforderung besteht darin, Antworten auf den zunehmenden Fachkräftemangel zu finden.8 Um die Personallücke im Gesundheitswesen zu schließen, ist ein Maßnahmenbündel erforderlich. Dabei ist die Zuwanderung ein wichtiges Instrument. Hier könnte ein Zuwanderungsgesetz unterstützend wirken. Höhere Gehälter werden sich sowohl für Ärzte als auch für Pflegekräfte durch ihre zunehmende Knappheit am Arbeitsmarkt automatisch einstellen. Die Frage wird sein, ob die weniger werdenden Beitragszahler die dadurch bedingten steigenden Gesundheitskosten dann noch tragen können. Über die Löhne hinaus ist die Attraktivität des Pflegeberufs zu erhöhen, z. B. durch interessante Karriereoptionen oder ein breiteres Aufgabenspektrum. Schließlich gilt es, Innovationen im Bereich der Digitalisierung und Robotik zu nutzen, um den wachsenden Personalbedarf reduzieren zu können. Dabei sind auch die Gesundheitsberufe weiterzuentwickeln: So entstehen durch die zunehmende Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft neue Berufsbilder und bestehende sind flexibler zu gestalten.

Schließlich ist es bei der Entwicklung von Lösungsoptionen wichtig, dass Interventionen zur Umgestaltung des Gesundheitssystems evidenzbasiert erfolgen. Weitere evidenzbasierte Forschung ist daher nötig, um Konsequenzen des demografischen Wandels für das Gesundheitswesen besser zu verstehen und Lösungsoptionen für die nachhaltige Organisation des Gesundheitswesens in alternden und schrumpfenden Regionen zu entwickeln. Der Leibniz Science Campus Ruhr (LSCR), eine Forschungskooperation des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung mit den Universitäten Duisburg-Essen, Tilburg und weiteren Partnern, widmet sich genau diesen Herausforderungen: Dort analysiert ein Netzwerk von Wissenschaftlern Ursachen und Konsequenzen regionaler Unterschiede im Gesundheitswesen,9 identifiziert Strategien zur Bewältigung der drohenden Unterversorgung und bewertet ausgewählte Maßnahmen zur Verbesserung der Effizienz der Gesundheitsversorgung.

  • 1 Vgl. Demografie Portal des Bundes und der Länder, 2018, https://www.demografie-portal.de (8.5.2018).
  • 2 D. Heger et al.: Pflegeheim Rating Report 2017, Heidelberg 2017.
  • 3 Vgl. B. Augurzky et al.: Krankenhaus Rating Report 2017: Strukturfonds – beginnt jetzt die große Konsolidierung?, Heidelberg 2017; B. Augurzky et al.: Krankenhausreport, Schriften zur Gesundheitssystemanalyse, 2017, Bd. 4.
  • 4 Vgl. B. Augurzky et al.: Krankenhaus Rating Report 2016: Mit Rückenwind in die Zukunft?, Heidelberg 2016.
  • 5 Ebenda.
  • 6 Vgl. im Folgenden auch B. Augurzky et al.: Krankenhaus Rating Report 2017, a. a. O.
  • 7 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik, Jahresgutachten 2017/18, Wiesbaden 2017, https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/publikationen/jahresgutachten.html (8.5.2018).
  • 8 Vgl. hierzu auch B. Augurzky et al.: Die Zukunft der Pflege im Krankenhaus, a. a. O.; sowie B. Augurzky et al.: Krankenhausreport, a. a. O.
  • 9 Vgl. M. Salm, A. Wübker: Causes of regional variation in healthcare utilization in Germany, Ruhr Economic Papers, Nr. 675, 2017. Weitere Informationen unter www.lscr.de (8.5.2018).

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DOI: 10.1007/s10273-018-2302-y