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Europäische Arbeitslosenversicherung: EU muss Sozialunion werden!

Von Gerhard Bosch

Arbeitslosenversicherungen sind effiziente automatische Stabilisatoren. Sie wirken nicht nur schnell, sondern auch zielgenau. In einer Wirtschaftskrise wird die Kaufkraft ohne Zeitverzögerungen durch Zahlung des Arbeitslosengelds stabilisiert und zwar genau in den Regionen und sogar Stadtteilen, in denen die Arbeitslosigkeit stark ansteigt. In Deutschland verteilen die Arbeitslosenversicherung, aber auch die aktive Arbeitsmarktpolitik sowie die steuerfinanzierte Grundsicherung die Mittel in die Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit um. Sie gehören damit zu den wichtigsten Instrumenten der Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilen des Landes. Dass das Bruttoinlandsprodukt in der Finanzkrise nicht noch stärker eingebrochen ist, ist nicht zuletzt den automatischen Stabilisatoren zu verdanken, die die OECD inzwischen auch rehabilitiert hat.

Da stellt sich natürlich die Frage, ob man nicht auf europäischer Ebene auch so ein Instrument braucht. Im Unterschied zu der Europäischen Investitionsinitiative (Juncker-Plan) oder der milliardenschweren europäischen Jugendinitiative, deren Mittel nur tropfenweise in den Krisenregionen ankommen, hat man hier ein Turboinstrument, das nicht durch administrative und politische Hürden im Tempo gedrosselt werden kann. Vor allem in der Eurozone könnte eine europäische Arbeitslosenversicherung (EAV) den wirtschaftspolitischen Instrumentenkasten erweitern, der durch die gemeinsame Währung arg eingeschränkt worden ist. Abwertungen sind nicht mehr möglich und die einheitliche Geldpolitik orientiert sich am Durchschnitt, nicht aber unbedingt am Bedarf von Krisenländern. Da der Juncker-Plan und das Jugendprogramm nicht griffen, blieb in der Eurokrise nur die interne Abwertung durch Lohnsenkungen und Kürzungen öffentlicher Ausgaben, darunter auch der Ausgaben für Arbeitslose. Das Sparen in der Krise hat die Wirtschaftsprobleme in den Krisenländern und auch die Eurokrise nur verschärft. Der zyklische Zwang zu interner Abwertung ist zudem ein sicherer Weg zur Zerstörung des europäischen Sozialmodells, wie es die Eingriffe der Troika in die Sozial- und Tarifsysteme der Krisenländer belegen.

Allerdings sind die technischen Probleme beim Aufbau einer EAV nicht zu unterschätzen, denn die Unterschiede bei den Leistungen, der Dauer und den Anspruchsvoraussetzungen der nationalen Arbeitslosenversicherung sind beträchtlich. Ein ambitionierter Versuch mit einem gemeinsamen Beitrag aller Beschäftigten der EU an eine EAV würde mit Sicherheit scheitern. Am ehesten denkbar ist ein Defizitausgleich über einen Globalzuschuss für eine Basissicherung der Arbeitslosen für eine begrenzte Zeitdauer in Krisenzeiten. Was eine Krise ist, könnte man über einen bestimmten Anstieg der Arbeitslosenquote definieren. Wegen der unterschiedlich hohen strukturellen Arbeitslosigkeit eignet sich das Niveau der Arbeitslosenquote nicht als Indikator. Untersuchungen haben gezeigt, dass die wirtschaftlichen Schocks in der EU, abgesehen von der Finanzkrise, meistens asymmetrisch über die Länder verteilt waren, was für eine hohe Verteilungseffizienz spricht. Deutschland hätte Anfang des Jahrtausends übrigens finanziell profitiert.

Auf die Reflexe deutscher Ökonomen kann man sich gut verlassen. In einem Gutachten des wissenschaftlichen Beirats des BMF wurde die Idee einer EAV mit den Argumenten zurückgewiesen, dass andere Länder die Kosten überhöhter Mindestlöhne und Tarifverträge auf Deutschland abwälzen könnten und man in einer Sozialunion enden würde. Unterirdischer kann das intellektuelle Niveau kaum sein. Die These, dass Mindestlöhne und Tarifverträge der Beschäftigung schaden, ist durch die internationale Forschung und die Erfahrungen zuletzt in Deutschland krachend widerlegt, wird aber bei jeder Gelegenheit wieder aufgewärmt. Und: Wenn die EU nur eine Wettbewerbsunion bleibt und nicht auch eine Sozialunion wird, kann sie politisch nicht überleben.

Musterfeststellungsklage: Ein Schritt in die richtige Richtung

Von Hans-Bernd Schäfer

Am 14.6.2018 hat der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Einführung einer Musterfeststellungsklage verabschiedet. Es soll am 1.11.2018 in Kraft treten und wird bald seine erste große Bewährungsprobe im Zusammenhang mit dem Volkswagen-Dieselskandal zu bestehen haben. Es ermöglicht, Rechtsansprüche aus Streuschäden mit vielen Geschädigten statt in Einzelklagen in einem einzigen Gerichtsverfahren geltend zu machen. In Zukunft kann ein Verbraucherschutzverband alle Geschädigten vertreten, die sich in ein Klageregister beim Bundesjustizministerium eintragen. Dabei gehen die Betroffenen kein Anwalts- oder Prozesskostenrisiko ein. Diese Kosten werden letztlich von der Bundesregierung übernommen, die zugesagt hat, die finanzielle Ausstattung der Verbraucherschutzzentralen an die neue Aufgabe anzupassen. Die Geschädigten müssen sich nur registrieren und den Betrag ihrer Forderung angeben. Das ist ein bedeutender Schritt in Richtung einer effektiven Bündelung gleichgelagerter Interessen in Prozessen, der durch Lobbyarbeit über Jahrzehnte verschleppt wurde.

Im Dieselskandal sind alle Ansprüche aus Gewährleistungsrecht bereits verjährt. Daran ändert auch die Musterfeststellungsklage nichts. Deliktsrechtliche Forderungen wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung oder Betrugs verjähren dagegen erst Ende 2018. Wenn das Gesetz in Kraft tritt, haben die Betroffenen noch zwei Monate Zeit, sich in das Klageregister einzutragen und die Verjährung zu hemmen. In einem einzigen Verfahren kann dann gerichtlich geklärt werden, ob Volkswagen seine Kunden betrogen oder sittenwidrig geschädigt hat und schadensersatzpflichtig ist oder ob die betrügerische Software auf eigenmächtigen Entscheidungen unterer Abteilungen und ohne Wissen des Vorstands basierte, was die Haftung des Unternehmens ausschließen würde. Wenn sich alle oder die meisten Betroffenen in das Register eintragen und den Prozess gewinnen, wird dies für Volkswagen zu Aufwendungen im zweistelligen Milliardenbereich führen. Denn die Käufer erhalten dann ihren Kaufpreis abzüglich eines Vorteilsausgleichs für die bisherige Nutzung des Fahrzeugs zurück.

Die Musterfeststellungsklage ist keine Sammelklage nach US-Vorbild, die von gewinnorientierten Anwaltskanzleien erhoben wird, und dies zu Recht. Die Gewinn­orientierung führt zu einer rechtspolitisch unerwünschten Schlagseite. Anwälte suchen sich oft große finanzstarke Unternehmen aus, selbst wenn gar kein Anspruch besteht. Denn sie haben im Verfahren die Möglichkeit, der Gegenseite hohe Kosten aufzubürden oder damit zu drohen und gleichzeitig einen Vergleich anzubieten. Dies ist bei der deutschen Lösung ausgeschlossen. Die neue Klageform ist nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet und wird mit Steuermitteln finanziert. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass gemeinnützige besser als gewinnorientierte Organisationen den Verbraucherschutz fördern können. Dass auch bei einer Non-Profit-Lösung Fehlentwicklungen möglich sind, ist aber nicht zu bestreiten.

Es ist kritisiert worden, dass die Musterfeststellungsklage dem Verbraucher nicht wirklich hilft, da das Gericht nur feststellt, dass die Voraussetzungen für einen Anspruch erfüllt sind. Danach müsse jeder Einzelne seinen Anspruch in einem weiteren Verfahren geltend machen, anders als bei einer US-Sammelklage. Angenommen, die Musterfeststellungsklage gegen Volkswagen sei erfolgreich, dann könnten über 2 Mio. Geschädigte den Kaufpreis abzüglich des zeit- und kilometerabhängigen Nutzungsvorteils für ihr Fahrzeug zurückerstattet bekommen. Viele Käufer eines Diesel-Gebrauchtwagens kennen den ursprünglichen Kaufpreis gar nicht und sind nicht in der Lage den Nutzungsvorteil professionell zu begründen, der zudem für die vielen Kfz-Modelle unterschiedlich ist. Es besteht dann die Gefahr, dass dies nicht geltend gemacht wird, obwohl ein höchstes Gericht bestätigt hat, dass die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Es liegt an den Verbraucherschutzverbänden, dies zu verhindern und sicherzustellen, dass die Verbraucher nach einem gewonnenen Prozess nicht allein gelassen werden, bis die Zahlung erfolgt ist. Die Entwicklung entsprechender Routinen zugunsten der Betroffenen durch die klagebefugten Verbraucherschutzverbände wird mit darüber entscheiden, ob die Musterfeststellungsklage ein Erfolg wird.

Rentenpolitik: Betriebsrentner begünstigen?

Von Tim Köhler-Rama

In der Debatte um eine reduzierte Beitragspflicht für Betriebsrentner stellt sich eine einfache Frage: Wer würde die Einnahmeausfälle bei den Krankenkassen kompensieren? Falls die Beschäftigten und deren Arbeitgeber die Einnahmeausfälle mit höheren Beiträgen ausgleichen müssten, stünde das der guten Begründung des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetzes), das 2004 in Kraft trat, entgegen. Seit diesem Zeitpunkt müssen alle gesetzlich versicherten Bezieher von Betriebsrenten und anderen Versorgungsbezügen auf diese den vollen und nicht wie zuvor den halben Beitragssatz zur Krankenversicherung entrichten. Ziel dieser Regelung war es, dass die Rentner in angemessenem Umfang an der Finanzierung der Leistungen beteiligt werden, die für sie anfallen. Die Beitragszahlungen der Rentner decken bei Weitem nicht ihre Kosten zur Absicherung des Krankheitsrisikos. Es ist daher ein Gebot der Solidarität der Rentner mit den Erwerbstätigen, den Anteil der Finanzierung der Leistungen durch die Erwerbstätigen nicht noch höher werden zu lassen. So lautete das damalige Argument, und es stimmt noch heute. Hinzu kommt, dass es sich bei der Gruppe der Betriebsrentner um eine relativ kleine und privilegierte Gruppe handelt. Hohe Betriebsrenten beziehen überwiegend leitende Angestellte aus großen Unternehmen und im öffentlichen Dienst. Warum sollte ausgerechnet diese Gruppe zulasten der Versichertengemeinschaft der GKV besser gestellt werden?

Der Anlass für die aktuelle Debatte ist aber nicht das Reformgesetz von 2004, sondern das Betriebsrentenstärkungsgesetz, das Anfang 2018 in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz enthält die Regelung, dass betriebliche Riester-Renten ab sofort nicht mehr der Beitragspflicht in der GKV unterliegen. Dahinter steht der Wille, die Attraktivität der Betriebsrenten zu steigern. Problematisch ist nun die Forderung, dass alle, also auch die nicht von der Riester-Förderung betroffenen Betriebsrenten, von den GKV-Beiträgen freigestellt werden sollen. Käme man dieser Forderung nach, müssten folgerichtig alle Versorgungsbezüge, die aus Erwerbstätigkeit resultieren – also auch die gesetzlichen Renten – von der Beitragspflicht ausgenommen werden. Seit 1983 sind gesetzliche Renten in vollem Umfang beitragspflichtige Einkommen. Demzufolge bezahlen Rentner Beiträge an die Krankenversicherung der Rentner (KVdR), obwohl sie bereits während ihrer Erwerbstätigkeit GKV-Beiträge abgeführt haben. Zu Recht spricht in diesem Zusammenhang niemand von doppelten Beitragszahlungen. Anders als im Steuerrecht, wo Einkommen nur einmal besteuert werden darf, gilt dieser Grundsatz für das Sozialrecht nicht. Im Unterschied zur Steuer resultieren aus dem Sozialversicherungsbeitrag unmittelbar individuelle Versicherungs- und Leistungsansprüche. Bleibt die Frage: Sollten die Betriebsrentner nicht – wie die GRV-Rentenbezieher – nur den halben GKV-Beitrag bezahlen müssen? Nein, denn der KVdR-Zuschuss der Rentenversicherungsträger ist eine Versicherungsleistung, den der Versicherte sich während der Erwerbsphase mit seinen GRV-Beiträgen erworben hat. Bei den Zuwendungen zur betrieblichen Altersvorsorge fehlt dieser Anteil.

Die Idee, die betriebliche Altersvorsorge zu stärken, ist gut. Ihre Umsetzung darf aber nicht die Sozialversicherung schwächen. Bereits die jüngste Einführung von Freibeträgen für Betriebsrenten bei der Grundsicherung im Alter privilegiert Betriebsrenten gegenüber gesetzlichen Renten in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise.

Künstliche Intelligenz: Neue Forschungsbündnisse

Von Dietmar Harhoff, Stefan Heumann

Die digitale Transformation ökonomischer Systeme ist in vollem Gange. Viele Beobachter sehen darin auch den Übergang zu einer datengetriebenen Ökonomie. Aber Daten allein liefern keinen Mehrwert, sie bedürfen der Verarbeitung in intelligenten Analysesystemen unter Nutzung neuer Geschäftsmodelle. Dabei spielen Verfahren der künstlichen Intelligenz (KI) eine zentrale Rolle. KI ist nicht neu – Forschungsarbeiten an Systemen, die intelligentes Verhalten aufweisen sollen, sind relativ alt. Aber die Bemühungen haben nach dem erfolgreichen Einsatz von Verfahren des maschinellen Lernens seit etwa 2012 neuen Auftrieb erhalten. Kosten und Zeitbedarf für den Einsatz des maschinellen Lernens konnten gesenkt werden. So ist KI nunmehr für viele Einsatzzwecke erschwinglich. Die volkswirtschaftliche Bedeutung von KI wird als sehr hoch eingeschätzt. Von einigen Ökonomen wird sie als neue General Purpose Technology (GPT) mit Auswirkungen in alle Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche hinein gesehen. Länder wie Frankreich, Südkorea und Großbritannien haben politische Strategien beschlossen, um im globalen KI-Wettrennen bestehen zu können. Positionspapiere gibt es auch von der Europäischen Kommission, während Deutschland dieser Entwicklung bisher hinterherläuft. In den letzten Monaten hat allerdings ein Bewusstseinswandel eingesetzt. Bis zum Herbst 2018 soll ein KI-Masterplan der Bundesregierung vorliegen. Der Bundestag hat zudem jüngst, wie von der Expertenkommission Forschung und Innovation vorgeschlagen, die Einrichtung einer Enquete-Kommission zu Fragen der KI beschlossen, um ethische und gesellschaftliche Aspekte diskutieren zu können.

Aber auch Wissenschaftler beziehen Position. Dabei sind vor allem zwei Verbünde zu nennen, die Vorstellungen für die Forschungsförderung im europäischen Kontext vorgelegt haben. Im April 2018 wurde von führenden Forschern im derzeit besonders erfolgreichen Bereich des maschinellen Lernens das Konzept „European Lab for Learning & Intelligent Systems“ (ELLIS) vorgestellt. Inzwischen hat sich eine weitere Gruppe zu Wort gemeldet und die Bildung eines Konsortiums „Confederation of Laboratories for Artificial Intelligence Research in Europe“ (CLAIRE) vorgeschlagen. Die CLAIRE-Gruppe fordert die Förderung von KI-Forschung im maschinellen Lernen, aber auch in anderen Bereichen. Eigeninteressen spielen natürlich eine Rolle und erklären die unterschiedlichen Akzente. Dennoch ist es bemerkenswert, dass bei aller Konkurrenz relativ konsistente inhaltliche Vorstellungen zur Vernetzung und Nachwuchsausbildung geäußert werden und sich etliche Wissenschaftler auch für beide Projekte ausgesprochen haben. Gerade die Sorge vor einem „Brain Drain“ aus der Wissenschaft in die KI-Labore der Industrie eint die Unterstützer der Initiativen.

Aus ökonomischer Sicht ist eine Schwäche anzumerken, die beide Papiere teilen. Die Förderung der Forschung allein bringt noch keine Wertschöpfungseffekte. Ohne gut funktionierende KI-Ökosysteme wird es kaum gelingen, exzellente Forschung in gesellschaftlichen Nutzen umzusetzen. Die Liste deutscher und europäischer Forschungserfolge, die keine wirtschaftliche Dynamik entfalten konnten, ist lang. Europa benötigt daher Konzepte für funktionierende KI-Ökosysteme, die sich um die Forschungszentren bilden. Dazu gehören Aspekte des Technologietransfers, der Gründungsförderung und des Managements der Datenbestände, die insbesondere für das maschinelle Lernen erforderlich sind. Diese Themen sollten auch in Papieren von Forschungsverbünden angesprochen werden, denn ohne die Unterstützung der Wissenschaft wird der Technologietransfer auf der Strecke bleiben.


DOI: 10.1007/s10273-018-2317-4

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