Verhaltenspolitiken sind seit mehr als 20 Jahren international verbreitet.1 Sie zielen auf die Veränderung des Verhaltens von Bürgern ab und greifen dazu auf Verhaltensökonomik, Psychologie, Neurowissenschaften und Verhaltenswissenschaften zurück. Das Spektrum ist sehr breit und reicht von Vereinfachungen in der Verwaltungskommunikation („simplification“) über die Schulung im Umgang mit Risiken („boosts“) bis hin zur Regulierung manipulativer Marketingstrategien („budges“). Beim vielfach diskutierten „Nudging“ handelt es sich um eine weitere Teilstrategie der Verhaltenspolitik. Ohne Zwang oder finanzielle Anreize sollen dabei Verhaltensänderungen ausgelöst werden, indem man sich selektive Wahrnehmungen und Verzerrungen („biases“) gezielt zunutze macht und Entscheidungsarchitekturen („choice architectures“) entsprechend gestaltet. Ein klassisches Beispiel ist die sichtbare Positionierung gesunder Produkte in einer Cafeteria, um das Kaufverhalten von Konsumenten in eine erwünschte Richtung zu lenken.
Das alles ist also nicht neu. Vergleichsweise neu ist jedoch der Einsatz von Verhaltenspolitiken im Kontext der Digitalisierung. Dabei wird auf der Grundlage verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse auch die dunkle Seite der Digitalisierung sichtbar:2 So zeigt etwa eine neuere Studie des norwegischen Verbraucherrates, wie Facebook gerade dort, wo es etwa um Gesichtserkennung geht, durch eine überkomplexe Entscheidungsarchitektur einen selbstbestimmten Umgang mit Daten erschwert.3 Die kommerzielle Nutzung von Nudges und anderen verhaltensbasierten Strategien ist weit fortgeschritten: Überlange „Terms & Conditions“ führen zur Informationsüberfrachtung und damit zur Intransparenz. Durch simulierte Warnhinweise soll das Vertrauen von Nutzern erschlichen werden. Informationsdefizite werden durch „phishing“ gezielt ausgenutzt. Im Online-Glücksspiel sorgt die Multiplizierung von Spielkonten („online wallets“) für ein und denselben Spieler für Unübersichtlichkeit. Personalisierte Preissysteme erschweren Preisvergleiche und erzeugen potenziell diskriminierende Marktsituationen. Einige Verhaltensökonomen befürchten mittlerweile ein Marktversagen durch Verhaltensverzerrungen („behavioural market failure“). Befürworter der Verhaltenspolitik argumentieren daher sowohl aus verbraucher- wie auch marktpolitischen Gründen für ein digitales „Counter-Nudging“.
In der Tat beruht das Kernargument in der Debatte um die digitale Verhaltenspolitik auf der Beobachtung, dass kommerzielle Akteure schon seit langem durch das Design von Webseiten und die zunehmend algorithmische Gestaltung von Onlinemärkten die digitalen Entscheidungsarchitekturen zu ihren Gunsten verändern. Warum also sollten sich verbraucherpolitische Akteure nicht selbst als digitale Entscheidungsarchitekten betätigen? Intelligente und individualisierte Voreinstellungen („smart defaults“) können die Verweildauer im Netz oder am Telefon limitieren; bestimmte Plug-ins bieten für ausgewählte Webseiten oder zu festgelegten Tageszeiten eine digitale Selbstbeschränkung gegen suchtähnliches und selbstschädigendes Konsumverhalten an („shopper stopper“); Textnachrichten erinnern an die Kündigung von Online-Abonnements; automatisierte Hinweise und Zusammenfassungen von Geschäftsbedingungen machen die Folgen von Online-Kaufentscheidungen deutlich („smart disclosures“).
Wenn (digitale) Nudges versagen
Die gegenwärtige Forschung zur Verhaltenspolitik hat jedoch auch eine Reihe von Gründen für das Versagen von Nudges wie auch eine Vielzahl von Umsetzungshindernissen und nichtintendierten Effekten identifiziert. So zeigte eine Studie4 bereits 2013, dass umweltpolitisches Nudging zwar tatsächlich zu einem sparsameren Wasserverbrauch führen kann; allerdings neigte ein erheblicher Anteil der betreffenden Personen zeitgleich zu einem höheren Energieverbrauch. Eine Erklärung für diesen unbeabsichtigten Effekt liegt in dem Phänomen des „moral licensing“ – das Sparverhalten in einem Bereich lässt ein Verschwendungsverhalten in einem anderen Bereich als gerechtfertigt erscheinen.
So lassen sich mittlerweile multiple Faktoren ausmachen, die gerade unter komplexen und beschleunigten Bedingungen wie etwa digitalen Entscheidungskontexten zu unerwarteten Nebenfolgen und zu Instrumentenversagen führen können.5 Studien zeigen, dass Nudging dort nicht oder nicht in der erwarteten Weise wirkt, wo Verbraucher mit einer Vielzahl möglicherweise einander widersprechender Verhaltensanreize konfrontiert sind. Dies kann dann in extrem kurzsichtigen und spontanen Entscheidungen münden („cognitive myopia“), Herdeneffekte begünstigen oder sogar ein Abwehr- und Ablehnungsverhalten („Reaktanz“) gegen verbraucherpolitische Interventionen unter den Adressaten auslösen. Nicht zuletzt sind es oft auch fehlende Infrastrukturen, mangelnde Ressourcen oder psychische wie sozio-ökonomische Abhängigkeiten, die einen Verhaltenswandel blockieren.
Die Forschung zu den Umsetzungsproblemen in der Verhaltenspolitik findet derzeit noch zu wenig Beachtung. Ein Grund dafür ist die erhebliche Bedeutung randomisierter Kontrollstudien (RCT) in der Verhaltenspolitik. RCT werden eingesetzt, um bei der Ex-ante-Bewertung verhaltenspolitischer Interventionen mögliche intervenierende Faktoren auszuschließen und kausalen Zusammenhängen nachzugehen. Genau dies soll die zufallsgesteuerte (randomisierte) Zuteilung von Probanden zu Interventions- und Kontrollgruppen leisten. Seit vielen Jahren werden RCT in der Evaluationsforschung als „Goldstandard“ wahrgenommen; sie rangieren daher an der Spitze von Evidenzhierarchien. Diese methodische Dominanz hat durchaus kritische Reaktionen hervorgerufen.6 Zum einen erzeugt die Hierarchisierung von Evidenzen eine epistemische Monokultur, in der Praxiswissen zugunsten eines „Goldstandards“ abgewertet wird; zum anderen werden andere Erkenntnisquellen über soziale, ökonomische und kulturelle Kontexte, über Folgeprobleme und nicht intendierte Nebeneffekte ausgeblendet. RCT lassen sich online und mit Hilfe des Mobiltelefons besonders effektiv umsetzen und spielen daher auch für die digitale Verhaltenspolitik eine zentrale Rolle.
Who Nudges the Nudgers?
Verhaltenspolitik setzt in hohem Maße auf die Abstimmung zwischen Experten und politischen Entscheidern. Als Entscheidungsarchitekten sollen sie die Wahrnehmungsverzerrungen bei Bürgern und Konsumenten korrigieren. Zuletzt haben die Weltbank und die Vereinten Nationen die Frage aufgeworfen, wer eigentlich die Verzerrungen und Kurzschlüsse der Entscheidungsarchitekten korrigiert. Im Nexus von Politik und Wissenschaft lassen sich nämlich vielfache kognitive wie soziale Engführungen ausmachen:7
- Akteure aus Politik und Verwaltung treffen riskante und folgenreiche Entscheidungen in Abhängigkeit davon, auf welche Weise ihnen Probleme und Herausforderungen präsentiert werden („framing effect“).
- Unabhängig von ihrer Bedeutung sind bestimmte Probleme und Sachverhalte medial oder politisch sichtbarer als andere – dies kann bei politischen Entscheidern zu Aktivismus führen und zur Vernachlässigung solcher Sachverhalte, die weniger sichtbar, dafür aber möglicherweise ebenso bedeutsam sind („attention and salience“).
- Politische Akteure und Experten neigen dazu, Evidenzen so wahrzunehmen und zu deuten, dass sie im Einklang mit bisherigen Entscheidungen sind („confirmation bias“).
- Mitglieder von Gruppen und Teams schließen sich häufig der (wahrgenommenen) Mehrheitsmeinung an und stellen dabei abweichende Positionen eigener Gruppenmitglieder oder anderer Gruppen zurück („group reinforcement“ und „inter-group opposition“).
- Politische Akteure wie auch Experten überschätzen häufig den zukünftigen Erfolg bestimmter Politiken und die Möglichkeit, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen zu kontrollieren („optimism bias“ und „illusion of control“).
Diese bekannten und reichhaltig belegten Probleme im Entscheidungs- und Beratungsprozess werden im „Nexus“ zwischen Politikfeldern gesteigert.8 Dort, wo aufgrund vielfacher Politikfeldüberschneidungen die Koordination zwischen Ministerien, Behörden, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren erfolgsentscheidend ist, werden die genannten Verzerrungen und Silomentalitäten verschärft. Smarte Energienetze etwa stehen in einem wechselseitigen Bedingungszusammenhang mit intelligenten Konzepten der Mobilitäts- und Verbraucherpolitik. Die virtuelle Vernetzung von Personen und Objekten verstärkt diesen Zusammenhang noch. Insofern ist digitale Verhaltenspolitik besonders darauf angewiesen, dass die genannten Herausforderungen und Umsetzungshürden systematisch erkannt und zum Gegenstand einer lernfähigen und selbstkritischen Verhaltenspolitik gemacht werden.
Möglichkeiten und Grenzen digitaler Verhaltenspolitik
Aus den genannten Gründen muss digitale Verhaltenspolitik in ganz besonderem Maße mit vielfältigen Umsetzungsproblemen, Nebeneffekten und auch begrenzten Rationalitäten von Entscheidern und Experten rechnen. Letztlich verweist die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen digitaler Verhaltenspolitik auf eine Vielfalt übergeordneter Faktoren. Nudging selbst bildet hier nur einen Teilaspekt. Dies hat mindestens drei Konsequenzen:
- Es empfiehlt sich, das ganze Spektrum digitaler Verhaltenspolitik auszunutzen und diese nicht nur auf Nudging zu reduzieren. Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse verweisen auf die dunkle Seite der Digitalisierung und zeigen die kognitiven und psychologischen Grenzen des Leitbildes des „mündigen Verbrauchers“ auf. Damit liefern sie vielfach Begründungen für eine stärkere Regulierung von Online-Märkten, für Transparenzregelungen und Instrumente zum Schutz besonders verletzlicher Verbraucher im Netz.
- Digitale Verhaltenspolitik kann nur dann evidenzbasiert sein, wenn Wissen aus unterschiedlichen Quellen und auf der Grundlage multipler Methoden in die Entscheidungen einfließt. Methodologischer Monismus erzeugt Blindstellen und verbaut Erkenntnisse über soziale, kulturelle und sozio-ökonomische Mechanismen des Verhaltens im digitalen Raum.
- Die Entscheidungsarchitekten und Experten sind nicht frei von verzerrten Handlungsmustern. Behörden können als Grenzorganisationen agieren, Übersetzungsleistungen zwischen Wissenschaft und Politik erbringen und bestehende Überzeugungssysteme irritieren. Dies gilt insbesondere unter den Bedingungen eines Nexus zwischen Politikfeldern, der die Regulierung des Digitalen vor neue Herausforderungen stellt.
- 1 Vgl. H. Straßheim, S. Beck (Hrsg.): Handbook of Behavioural Change and Public Policy, Cheltenham (UK), Northampton (MA) 2019.
- 2 Vgl. Behavioural Insights Team: The behavioural science of online harm and manipulation, and what do do about it, London 2019, https://www.bi.team/wp-content/uploads/2019/04/BIT_The-behavioural-science-of-online-harm-and-manipulation-and-what-to-do-about-it_Single.pdf (29.1.2020).
- 3 Forbrukerradet: Deceived by Design, Oslo 2018, https://fil.forbrukerradet.no/wp-content/uploads/2018/06/2018-06-27-deceived-by-design-final.pdf (29.1.2020).
- 4 V. Tiefenbeck, T. Staake, K. Roth, O. Sachs: For better or for worse? Empirical evidence of moral licensing in a behavioural energy conservation campaign, in: Energy Policy, 57. Jg. (2013), S. 160-171.
- 5 Vgl. H. Straßheim: Behavioural mechanisms and public policy design: preventing failures in behavioural public policy, in: Public Policy and Administration, April 2019.
- 6 Vgl. A. Deaton, N. Cartwright: Understanding and misunderstanding randomized controlled trials, NBER Working Paper, Nr. 22595, Princeton 2016.
- 7Vgl. M. Hallsworth, M. Egan, J. Rutter, J. McCrae: Behavioural Government. Using behavioural science to improve how governments make decisionsm, London 2018, https://www.bi.team/publications/behavioural-government/ (29.1.2020).
- 8 Vgl. J. Haus, R.-L. Korinek, H. Straßheim: Expertise im Nexus. Von der Verwendungs- zur Vernetzungsforschung, in: N. Lüdtke, A. Henkel (Hrsg.): Das Wissen der Nachhaltigkeit. Herausforderungen zwischen Forschung und Beratung, München 2018, S. 63-88.