Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Seit Staaten um Macht streiten, setzen sie neben militärischen auch wirtschaftliche Mittel ein. Diese handelspolitischen Maßnahmen für geopolitische Zwecke werden im Folgenden diskutiert. Auf Grundlage von Russlands Angriffskrieg lassen sich für den Westen Eingriffe in den Freihandel begründen. Unternehmen internalisieren machtpolitische Auswirkungen nicht, sodass Staaten diese sicherheitspolitischen Externalitäten reduzieren sollten.

Die moderne Welt ist stark mit eng geknüpften globalen Wertschöpfungsketten wirtschaftlich verflochten. Und die globalen öffentlichen Güter, deren Bereitstellung durch fehlende Kooperation gefährdet wird, sind vielfältig: die Bekämpfung des globalen Klimawandels, die Bewahrung der Biodiversität, der Schutz der Meere, die Governance des weltweiten Internets oder die Eindämmung des Terrorismus. Außerdem kommt die Welt aus einer außergewöhnlichen Phase, in der machtpolitische Interessen der Mehrung des wirtschaftlichen Wohlstands untergeordnet schienen. Nach dem Ende des Kommunismus in Europa schien das Ringen der Mächte zugunsten der demokratischen Marktwirtschaften des Westens entschieden. Francis Fukuyama (1992) sprach im Titel seines berühmten Buches vom Ende der Geschichte. 30 Jahre später, mit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine im Februar 2022, ist die These wohl endgültig widerlegt. Aber schon ein gutes Jahrzehnt davor, als das staatskapitalistische, autokratische China ganz im Gegensatz zum Westen ohne große Schrammen durch die große Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 kam, ist der Systemwettbewerb mit aller Macht zurück. Er wird militärisch, aber auch mithilfe ökonomischer Instrumente betrieben.

Wie moderne Wirtschaftskriege vorbereitet und gewonnen werden können, haben Blackwill und Harris (2016) in ihrem Buch „War by Other Means“ beschrieben. Drezner, Farell und Newman (2021) beschreiben detailreich, wie Staaten ihre wirtschaftliche Interdependenz in Wertschöpfungsnetzwerken für geostrategische Zwecke nutzen oder missbrauchen können. Das Sommerheft 2022 von Finance und Development, das Magazin des Weltwährungsfonds, widmet sich der Wiederkehr der Geoökonomik (geo-economics) – dem Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente für machtpolitische Ziele. Dies sind nur Beispiele einer in der letzten Zeit rasch wachsenden Literatur. Außenhandelspolitik muss vor dem Hintergrund veränderter Bedingungen grundlegend und in vielerlei Hinsicht neu gedacht werden – siehe ausführlich dazu Braml und Felbermayr (2022). Hier soll vor allem die Nutzung von handelspolitischen Instrumenten für geopolitische Zwecke – die Geoökonomik – erörtert werden.

Sicherheitspolitische Externalität

Wie alt das Nachdenken über Geoökonomik ist, lässt sich in Adam Smiths „Wealth of Nations“ aus dem Jahr 1776 gut nachvollziehen. Bekanntlich zeigt der Autor dort einerseits eindrücklich, wie Arbeitsteilung – innerhalb und zwischen Nationen – den Wohlstand so steigern kann, dass alle Beteiligten bessergestellt werden. Smith warnt vor Protektionismus und dem Versuch, Handelspartner durch „beggar-thy-neighbour“-Politiken auszubeuten. Gleichwohl ist ihm bewusst, dass Arbeitsteilung auch Abhängigkeiten schafft, die opportunistisch ausgebeutet werden können. Dies illustriert er am Beispiel des Wettstreits zwischen England und Holland und schreibt „… defence, however, is of much more importance than opulence“ (Buch IV, Kapitel II). Aus sicherheitspolitischen Gründen kann daher die Beschränkung des Außenhandels erforderlich sein. Die „Navigation Acts“, die holländischen Schiffen den Zugang zu englischen Häfen verwehren, hält er daher für „… perhaps, the wisest of all commercial regulations of England“. Politikwissenschafter:innen ist dieser Teil von Smiths Opus Magnum wohlbekannt; Ökonom:innen, jedenfalls solche, die zwischen 1990 und 2010 ihr Handwerk erlernten, haben ihn allerdings aus den Augen verloren.

Dass sicherheitspolitische Einschränkungen des Handels legitim sein können, ist auch im General Agreement on Tariffs and Trade (GATT, 1948) und mithin in den Bestimmungen zur Welthandelsorganisation (WTO, 1995) angelegt. Dort erlaubt Artikel XXI Ausnahmen für nationale Sicherheit. In den letzten Jahren wurde von dieser Bestimmung Gebrauch gemacht, nachdem sie lange Jahre eher tabuisiert worden war – aus gutem Grund, denn es ist das gute Recht jedes souveränen Staates, selbst zu definieren, was die nationale Sicherheit bedroht. So ist der Artikel XXI nur schwer vor den Gerichten der WTO zu verhandeln (was allerdings gleichwohl geschieht). Der berühmteste Fall ist jener der USA unter Präsident Trump, die 2018 mit dem Hinweis auf nationale Sicherheitsbedenken begonnen haben, Zusatzzölle auf Stahl- und Aluminiumimporte zu erheben.

Die Welthandelsordnung hat mit Fragen der nationalen Sicherheit inhärente Schwierigkeiten, ist sie doch für das Erreichen von reziproken Wohlfahrtsgewinnen in einem Kontext von Positivsummenspielen geschaffen worden. Mit der Nullsummenspiellogik internationaler Rivalitäten kann sie nicht umgehen; dafür fehlen ihr die Instrumente. Vor allem sind die erlaubten Reaktionen auf Regelverstöße der Handelspartner bloß auf den Ersatz des entstandenen wirtschaftlichen Schadens ausgerichtet und nicht auf Bestrafung – die Rede von „Strafzöllen“ ist daher eigentlich fehl am Platz. Der Artikel XXI des GATT lässt sich wohlfahrtsökonomisch begründen. Wenn Unternehmen darüber entscheiden, woher sie Vorprodukte oder Handelsware beziehen und wohin sie liefern, ignorieren sie regelmäßig, dass ihre Handlungen außenpolitische Auswirkungen haben können. Das ist meist völlig rational, denn selbst große Unternehmen sind zu klein, als dass ihr einzelwirtschaftliches Verhalten die machtpolitische Balance verändern würde. In der Summe aller Entscheidungen entstehen aber womöglich Ergebnisse, die dem Gemeinwohl abträglich sind, weil sie etwa eine exzessive Konzentration auf wenige Lieferanten oder Lieferländer hervorbringen. Damit läuft ein Land Gefahr, von einem Handelspartner, der die wirtschaftlichen Abhängigkeiten opportunistisch nutzt, politisch erpresst zu werden – die strategische Autonomie des Inlandes ist mithin bedroht. Das Negieren machtpolitischer Konsequenzen ist auf einzelwirtschaftlicher Ebene rational, auf kollektiver Ebene aber irrational. Man kann hier von einer sicherheitspolitischen Externalität sprechen. Damit ist staatliches Eingreifen zu rechtfertigen. Wirtschaftsminister Peter Altmeier hat 2019 in seiner Nationalen Industriestrategie ganz ähnlich argumentiert.

Dazu kommt, dass Unternehmen oft rational erwarten können, dass der Staat hilft, wenn Lieferungen aus dem Ausland nicht mehr kommen. Daher stehen sie stets in Versuchung, zu sehr ins Risiko zu gehen und ihre Beschaffungs- und Absatzstrategien auf eine zu kleine Zahl von Ländern zu konzentrieren, wenn dadurch Kosten gespart werden. Hier handelt es sich um einen Fall von moralischem Risiko (moral hazard), dessen Eindämmung ebenfalls staatliche Eingriffe erforderlich machen kann. Die Frage ist nun, welche effizienten und effektiven Instrumente zur Verfügung stehen und verwendet werden sollten. Dies ist gegenwärtig Gegenstand einer hitzigen Debatte. Klar ist, dass es bereits ein außenhandelspolitisches Instrumentarium gibt. Oft ist dieses allerdings nicht sehr zielgenau, z. B. wenn die Meistbegünstigungsklausel des Handelsrechts die Anwendung einer Maßnahme auf alle Handelspartner erzwingt. Zielgerichteter, aber auch spezieller sind beispielsweise Antidumping-Zölle, die verhindern sollen, dass ein ausländischer Anbieter mit Kampfpreisen eine Monopolstellung im Inland erreicht, um dieses dann politisch oder wirtschaftlich ausbeuten zu können. Allgemein geht es um ordnungspolitische Rahmenbedingungen, die die sicherheitspolitische Externalität und das moralische Risiko direkt adressieren können. Das sind Anreize zur Diversifizierung von Beschaffungs- und Absatzmärkten etwa durch das Abschließen von Freihandelsabkommen. Wo nur sehr wenige Beschaffungsquellen existieren, ist die Förderung von Forschung an Substitutionsprodukten sinnvoll – gegebenenfalls auch die Anlage staatlicher strategischer Reserven.

Gefährliche Abhängigkeiten überall?

Es ist überraschend schwierig, gefährliche Abhängigkeiten genau zu identifizieren, denn dafür fehlen in der Regel die erforderlichen Daten. Aber einige Beobachtungen lassen sich dennoch machen. Zum einen ist zentral, alle wirtschaftlichen Interdependenzen in den Blick zu nehmen und nicht nur auf Güter – Stahl und Aluminium, Batterien, Chips, pharmazeutische Produkte – abzustellen. Auch bei verschiedenen Dienstleistungen – von Betriebssystemen bis hin zu Finanzdienstleistungen – können hohe Abhängigkeiten existieren. Außerdem sollte man nicht nur auf den internationalen Handel blicken, sondern auch die Aktivitäten von ausländischen Unternehmen im Inland und von heimischen Unternehmen im Ausland betrachten. Und schließlich sind Abhängigkeiten auch im Bereich immaterieller Wirtschaftsgüter, etwa bei der Nutzung ausländischer Patente, zu finden.

Deutschland ist Teil des hochintegrierten EU-Binnenmarktes. Deutsche Wertschöpfung findet sich in Exporten anderer EU-Staaten, und Importe aus den Nachbarländern stecken in deutschen Exporten in Übersee. In welchem EU-Land Importe oder Exporte aus Extra-EU-Staaten erfolgen, ist daher weitgehend irrelevant. Deutschland ist auch Teil der EU-Zollunion und verfügt über keine eigenständige Handelspolitik. Daher sollten Abhängigkeiten auf EU-Ebene untersucht werden, nicht auf einzelstaatlicher Ebene – es sei denn, man unterstellt den Zusammenbruch der EU selbst. Wirtschaftlich wäre das für alle EU-Staaten der größtmögliche Schadensfall (Felbermayr et al., 2022).

Sucht man nach den strategisch wichtigsten Wirtschaftspartnern, so wird man in der Zahlungsbilanz eher fündig als in den Handelsdaten, die nur den Güterhandel abbilden. Abbildung 1 zeigt, dass für die EU27 nach wie vor die USA der wichtigste wirtschaftliche Partner sind, gefolgt von Großbritannien. China kommt erst an dritter Stelle, relativ dicht gefolgt von der – in Bevölkerungsgrößen gemessen 160-mal kleineren – Schweiz. Betrachtet man nur den Güterhandel, dann dominiert China. Dieses hat allerdings im Bereich des Dienstleistungshandels und der Primäreinkommen (Erträge von Auslandsinvestitionen) nur eine sehr geringe Bedeutung. Sowohl im Handel mit den USA als auch mit Großbritannien dominieren importseitig Dienstleistungen; auch mit Offshore-Finanzzentren, die wirtschaftlich häufig den angelsächsischen Ländern zuzurechnen sind, überwiegen Dienstleistungen. Exportseitig sind Güter für alle Handelspartner der EU wichtiger, in vielen Ländern übersteigen Einnahmen aus Dienstleistungsexporten und Auslandsinvestitionen allerdings die Einnahmen aus Güterexporten. Eine einseitige Fokussierung auf den Güterhandel ist daher fehl am Platz.

Abbildung 1
EU-Zahlungsbilanz mit den wichtigsten Partnern, 2021
EU-Zahlungsbilanz mit wichtigsten Partnern, 2021

Quelle: Eurostat, eigene Darstellung.

Die umfassendere Betrachtung aus der Zahlungsbilanz macht ebenfalls klar, dass die Handelsbeziehungen der EU deutlich gleichgewichtiger sind, als oft unterstellt wird. Zwar übersteigt der Wert die Güterexporte in die USA jene der Importe aus den USA um das Doppelte, bei den Dienstleistungen verhält es sich hingegen andersherum (Braml und Felbermayr, 2023). Das Defizit der EU im Güterhandel mit China macht 1,1 % des EU-BIP aus; die Überschüsse beim Dienstleistungshandel und bei den Primäreinkommen reduzieren den Fehlbetrag um ein Drittel von 158 Mrd. Euro auf 107 Mrd. Die Gleichgewichtigkeit bilateraler Wirtschaftsbeziehungen ist aus geoökonomischer Perspektive hoch relevant. Droht die EU etwa von den USA beim Export von Gütern handelspolitisch behindert zu werden, kann sie bei Dienstleistungsimporten gegebenenfalls dagegenhalten. Obwohl Umsätze keinen Maßstab für Wohlfahrtsgewinne durch Handel – oder für Verluste bei einem Wegbrechen bilateraler Transaktionen – darstellen, zeigen Studien, dass die Wohlfahrtseffekte der wirtschaftlichen Integration ungefähr proportional zu umfassend definierten Zahlungsbilanzpositionen sind (Felbermayr und Krebs, 2023).

Mit einem Blick auf die Handelsstatistik lassen sich Abhängigkeiten auf Produktebene identifizieren. Im Jahr 2019 hat die EU insgesamt 10.280 verschiedene in der Zollstatistik erfasste Güter im Wert von 1.935 Mrd. Euro von außerhalb des Zollgebietes importiert. 227 dieser Produkte kamen dabei aus einem einzigen Land; in 193 dieser Fälle war der Importwert geringer als 50.000 Euro. Unter den Gütern sind viele spezialisierte Lebensmittel, die definitionsgemäß nur aus einem einzigen Land stammen können, etwa Tequila aus Mexiko oder Gruyère aus der Schweiz.

779 Produkte mit einem Importwert von 3,5 Mrd. Euro kamen aus maximal drei unterschiedlichen Lieferländern, das sind 0,2 % des gesamten Importwerts. Die Handelsstatistik enthüllt daher keine hohe Abhängigkeit von einzelnen Importländern. Dennoch fallen einzelne wichtige Industrierohstoffe wie etwa Blei, Thallium, Barium, Beryllium, Lithium oder Platin in die Gruppe. Uranerz (Importwert von 74 Mio. Euro) kommt 2019 gerade einmal aus zwei Lieferländern, darunter Russland. Spezialisierte, für die pharmazeutische Industrie wichtige Substanzen wie etwa Chlorethylen, Anthraquinon, Fenproporex fallen ebenfalls in die Gruppe. Und schließlich gibt es hoch spezialisierte Güter wie Telekommunikationssatelliten, Kühlschiffe oder Schwimmbagger, die die EU nur aus maximal drei Ländern bezieht. Betrachtet man ein Maß für den Konzentrationsgrad der europäischen Importe (Herfindahl-Index), so zeigt sich, dass dieses Maß in den letzten 15 Jahren im Gegensatz zu den USA nicht angewachsen ist. China hingegen konnte seine Importquellen deutlich diversifizieren.

Handelsdaten sind für die Beurteilung von Abhängigkeiten allerdings allein nicht ausreichend. Für eine belastbare Analyse wäre es erforderlich, die Produktionsmengen der einzelnen Länder zu kennen, und zwar auf Produktebene. Hier ist die Datenlage deutlich schlechter als in der Handelsstatistik. Um zu wissen, welchen volkswirtschaftlichen Schaden eine deutliche Verteuerung oder Rationierung von Importgütern hervorrufen würde, müsste auch die Verwendung der Güter im Inland und die davon abhängige Wertschöpfung bekannt sein. Im Idealfall stünden dafür Daten auf Firmenebene zur Verfügung, die die Input-Output-Verknüpfungen der Firmen darstellen. Davon ist die amtliche Statistik weit entfernt. Die aktuellen harmonisierten Input-Output-Tabellen der OECD etwa enthalten Informationen über 45 breit definierte Sektoren. Selbst auf detaillierteren Daten sind belastbare Aussagen darüber, welche Importgüter oder -dienstleistungen wirklich essenziell sind, schwierig, weil die Ersetzbarkeit (Substituierbarkeit) der Importe durch Alternativen nur grob geschätzt werden kann und in der kurzen Frist deutlich schwieriger erscheint als in der langen. Dazu sind die Knotenpunkte in Input-Output-Netzwerken auf Firmenebene endogen und veränderlich. Es folgt also, dass eine saubere Identifikation strategischer Güter auf objektiver Datenbasis kaum möglich ist. Es besteht daher die Gefahr, dass auf Basis interessengetriebener Einschätzungen Listen von schützenswerten Industrien oder Gütern erstellt werden, für die der Staat die heimische Produktion subventioniert, Übernahmen heimischer Firmen im Inland verbietet oder andere protektionistische Maßnahmen ergreift.

Protektionistische Maßnahmen häufiger und teuer

In den letzten 15 Jahren ist die Zahl der in Kraft befindlichen Importrestriktionen stetig angewachsen, sowohl im Güter- als auch im Dienstleistungshandel (vgl. Abbildung 2). Das Global-Trade-Alert-Projekt der Universität Sankt Gallen zählt einen Nettobestand von ca. 18.000 restriktiven Maßnahmen allein im Güterhandel bis Ende 2022.1 Bei der Zählung wird nicht unterschieden, ob die Maßnahmen eine klassische beggar-thy-neighbour-Motivation aufweisen oder aber geoökonomisch motiviert sind. Jedenfalls erreichte im Jahr 2020 die Zahl neuer restriktiver Maßnahmen mit knapp 3.000 einen Höhepunkt; seitdem sinkt sie wieder. Deutlich seltener, mit einem Nettobestand von ca. 5.000 Maßnahmen, aber ebenso kontinuierlich anwachsend, ist der Bestand von Exportsubventionen.

Abbildung 2
Zahl handelspolitischer Maßnahmen weltweit
in Tausend
Zahl handelspolitischer Maßnahmen weltweit

Linke Achse: Zahl jährlicher neuer Maßnahmen; rechte Achse: Nettobestand.

Quelle: Global Trade Alert, eigene Berechnung und Darstellung.

Seit 2020 kommt ein regelrechter Boom bei Exportrestriktionen dazu; mittlerweile liegt der Nettobestand bei etwa 1.000, wobei er 2019 noch bei etwa 600 lag. Hier ist auffällig, dass die Maßnahmen kurzlebig sind und häufig schnell wieder aufgehoben werden. Exportrestriktionen sind besonders problematisch, weil sie künstliche Knappheiten in den Importländern erzeugen. In den letzten Jahren wurden sie in den Bereichen Gesundheit und Lebensmittel häufig eingesetzt, um die Preise kritischer Güter im Inland niedrig zu halten. Diese Taktik ist vermutlich ein wichtiger Grund dafür, dass weltweit die Sorge um die Verfügbarkeit kritischer Güter zugenommen hat, weil Lieferungen aus dem Ausland als zunehmend unsicher wahrgenommen werden. Sie sind aber aus volkswirtschaftlicher Perspektive äußerst schädlich: Angesichts globaler Angebotsschocks zerstören sie die Versicherungsfunktion des Außenhandels und mindern die Wohlfahrtswirkung integrierter Märkte (Heiland, 2021).

Der zunehmende Protektionismus hat seit etwa 2008 zu einer Verlangsamung des Wachstums im internationalen Handel geführt, wobei auch andere Determinanten wichtig sind, etwa die Normalisierung des Wirtschaftsmodells China weg von einer dramatischen Überspezialisierung auf handelbare Güter oder das Auslaufen von Sonderfaktoren aus der Gründung der WTO. Davor wuchs für etwa 20 Jahre der Güterhandel deutlich schneller als die Güterproduktion. Seither wachsen beide Größen im Trend trotz erheblicher Schwankungen – jüngst durch die Coronakrise – etwa gleich stark. Damit ist die Phase der Hyperglobalisierung (Rodrik, 2006) tatsächlich beendet und die Phase der Slowbalisation (The Economist, 24. Februar 2019) eingeleitet. Eine Deglobalisierung – ein langfristiger Rückgang des Welthandels – ist trotz aller Risiken eher unwahrscheinlich (Felbermayr und Wolff, 2023).

Handelspolitische Restriktionen, egal wie sie motiviert sein mögen, sind volkswirtschaftlich in der Regel teuer. Darüber gibt es viel wissenschaftliche Evidenz, die meistens modellbasiert ist, weil die interessierende gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt nicht direkt beobachtbar ist und kausale Zusammenhänge in Daten nur schwer herzustellen sind. Die Modelle werden jedoch laufend besser und können auf genauere Basisdaten zurückgreifen. In einer aktuellen Studie weisen Eppinger et al. (2022) nach, dass eine dauerhafte Unterbrechung des Gesamthandels von Ländern mit langfristigen Einbußen in der Kaufkraft von 6 % (USA) bis 80 % (Luxemburg) im Vergleich zum Basisjahr (2014) verbunden wäre. In den anderen Ländern läge der Verlust je nach Größe und Offenheitsgrad der betrachteten Volkswirtschaft dazwischen, in Deutschland etwa bei 20 %, in Österreich bei 27 % und in den Niederlanden bei 38 %. Würde nur der Handel mit Vor- und Zwischenprodukten entlang der Lieferketten unterbrochen, so wären die Verluste im Durchschnitt etwa halb so hoch. Bleibt der EU-Binnenmarkt bestehen, so halbieren sich die Verluste für die EU-Staaten in etwa noch einmal. Dennoch bleiben die Effekte groß: Für Deutschland etwa bedeutet ein Abschneiden der Wertschöpfungsketten außerhalb der EU einen Einbruch des Pro-Kopf-Einkommens (in Preisen von 2021) um langfristig etwa 2.000 Euro pro Jahr (für alle Zukunft), in der kurzen Frist sind die Verluste etwa doppelt so hoch. Der Barwert des Einkommensschadens liegt schnell bei mehreren 10.000 Euro pro Person.

Ein Decoupling wäre also auf jeden Fall teuer, auch wenn es sich auf einzelne Handelspartner beschränkte. Wie bereits in Abbildung 1 klar wird, sind es einige wenige Länder, die die Gesamtschau dominieren: allen voran die USA, dann Großbritannien, China und die Schweiz. Mit allen vier Ländern ist der Außenhandel der EU in Gütern und Dienstleistungen derzeit nicht ungestört. In allen Fällen sind es vorrangig Fragen der strategischen Souveränität, die Schwierigkeiten bei der weiteren Absenkung von Handelsbarrieren machen.

In der Coronakrise wurde mehrfach argumentiert, Außenhandel mache verwundbar. In der Tat ist es so, dass ein Produktionsausfall im Ausland – etwa aufgrund von massiven Quarantänemaßnahmen wie im Frühjahr 2020 in China – über den Weg der globalen Wertschöpfungsketten auch in der EU zu Produktionseinbußen führt, weil Vor- und Zwischenprodukte fehlen. Das war über mehrere Monate in Europa deutlich zu spüren. Wäre man nicht auf importierte Vor- und Zwischenprodukte angewiesen, würden diese negativen Effekte wegfallen. Die internationale Arbeitsteilung entlang von Wertschöpfungsketten bringt aber Wohlfahrtsgewinne, auf die man dann auch verzichten müsste. Eppinger et al. (2021) zeigen anhand der Corona-Einschränkungen in China, dass der Vorteil einer geringeren Verletzlichkeit durch Produktionsstopps in China um etwa eine ganze Größenordnung kleiner wäre als der Wohlfahrtsverlust durch das gänzliche Verzichten auf internationale Arbeitsteilung.

Protektionistische Maßnahmen können unterschiedlich motiviert sein. Neben dem konstruktiven klassischen Ziel, Wohlfahrtspotenziale durch internationale Arbeitsteilung zu erschließen, oder dem destruktiven Ziel, die Austauschverhältnisse (Terms of Trade) zugunsten des eigenen Landes zu manipulieren, treten seit einigen Jahren andere – nicht-handelspolitische – Ziele in den Vordergrund. Diese sind sehr vielfältig und werden mit unterschiedlichen Instrumenten verfolgt. Zum einen finden sie sich in den Handelsabkommen fortgeschrittener Volkswirtschaften wie der EU. Diagramm (a) in Abbildung 3 zeigt einen Index der Verrechtlichung von Zielen in Handelsabkommen der EU, die nicht mit dem Abbau von diskriminierenden Handelsbarrieren zu tun haben. Dieser Index ist in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen. Die EU bietet mit ihren Handelsabkommen den Partnerländern verbesserten Marktzugang in Europa an, verlangt dafür aber die Einhaltung von Standards außerhalb der klassischen Handelspolitik, wozu die Länder oft ohne die Anreize aus Europa nicht bereit wären. Das ist ein klassisches Beispiel positiver wirtschaftlicher Sanktionen im Dienste geoökonomischer Ziele. Negative Sanktionen würden im Gegensatz dazu den Zugang zum europäischen Markt einschränken.

Abbildung 3
Nicht-handelspolitische Ziele in Handelsabkommen und Wirtschaftssanktionen
Nicht-handelspolitische Ziele in Handelsabkommen und Wirtschaftssanktionen

Quelle: Felbermayr, Wolfmayr et al. (2020) und Global Sanctions Data Base (Kirilakha et al., 2021).

Negative Sanktionen im Handelsrecht und in der Geoökonomie

Aber auch klassische (negative) Sanktionen, die den Entzug von Marktzugang für ausländische Importeure und Exporte zum Inhalt haben, wurden in den letzten Jahren häufiger eingesetzt, wie Diagramm (b) in Abbildung 3 zeigt. Im Jahr 2022 weist die „Global-Sanctions-Datenbank“ knapp 600 aktive Sanktionsregime aus. Dabei handelt es sich um bilaterale Beziehungen zwischen Ländern, zwischen denen offizielle, nicht vorrangig handelspolitisch motivierte Wirtschaftssanktionen aktiv sind. Solche Maßnahmen liegen nicht im eigentlichen Wirkungsbereich der WTO, sondern sind typischerweise (implizit) von Art. XXI GATT gedeckt. Die Datenbank listet jeweils das primäre politisch genannte Ziel der Sanktionen auf. Dabei zeigt sich, dass die Ziele vielfältig sind. Sie reichen von einem Politikwechsel im Zielland über die Destabilisierung eines Regimes zur Klärung eines territorialen Konfliktes, der Verhinderung eines Krieges, der Bekämpfung von Terrorismus bis hin zu Beendigung eines Krieges, der Wiedereinsetzung von Menschenrechten und der Wiedereinsetzung von Demokratie.

Neben geoökonomischen Sanktionen, wie sie in Abbildung 3 gezeigt werden, spielen Sanktionen im „normalen“ Außenhandelsrecht der WTO eine wichtige und konstruktive Rolle. Sie sind für die Stabilität eines offenen Handelssystems notwendig. Denn auf Eigennutzen fokussierte Länder haben große Anreize, vom Freihandel abzuweichen, wenn sie das ohne Konsequenzen tun können. Aus der Sicht eines einzelnen Landes ist Freihandel nicht optimal – das belegt die sogenannte Optimalzolltheorie mindestens seit den 1950er Jahren (Johnson, 1953). Denn mit einem klug gewählten Importzoll (oder einer Exportsteuer) können die Austauschverhältnisse verbessert werden. Das inkludiert auch das Ansinnen ausländische Unternehmen mittels Subventionen für die Produktion vor Ort, anstelle von Exporten zu gewinnen. Das Problem mit dieser Politik liegt darin, dass sie nicht verallgemeinerbar ist. Wenn alle Länder so handeln, dann stellen sich die Handelspartner kollektiv in der Regel schlechter. Mehr noch, sie können diesem „Gefangenendilemma“ nicht entfliehen, denn die beste Antwort auf einen Importzoll des Auslands ist ebenfalls ein Importzoll. Die WTO bietet einen Ausweg: Sie bietet ein Forum für wiederholte Interaktionen von Ländern und ein Protokoll für die Sanktionierung von Regelverstößen. Länder, die durch einen illegitimen Importzoll (oder eine andere Maßnahme) eines Handelspartners geschädigt werden, dürfen eine äquivalente Maßnahme erheben, die den erhofften Vorteil des regelbrechenden Landes zunichtemacht. Mit der Aussicht auf diese Reaktion verschwinden die Anreize für die Setzung eines Optimalzolls.

Es ist also die Zolldrohung, die ein freiheitliches Zollregime erst möglich macht. Im Idealfall ist die Verhängung der Sanktion gar nicht erforderlich, denn das regelwidrige Verhalten tritt erst gar nicht auf. Im Kontext des GATT und der WTO hat das viele Jahrzehnte lang sehr gut funktioniert. Allerdings sind die zulässigen Sanktionen im Handelsrecht so kalibriert, dass sie Schadenswiedergutmachung im wirtschaftlichen Sinn bewirken. Wenn es bei dem Regelverstoß aber gar nicht um wirtschaftliche Vorteile geht, sondern um machtpolitische, dann ist die angedrohte WTO-Sanktion nicht mächtig genug. In anderen Worten: Nur wenn die Zielfunktionen der Regierungen Positivsummenspiele zulassen, funktioniert der WTO-Mechanismus; in Nullsummenspielen versagt er. So kann es trotz WTO-rechtskonformer Sanktionen optimal für ein Land sein, einen bewussten Regelbruch zu begehen. Möglicherweise waren Maßnahmen der Trump-Regierung gegen China so zu begründen.

Egal wie Sanktionen begründet sind, eines haben sie immer gemeinsam: Sie entfalten ihre eigentliche Wirkung, falls sie überhaupt eine haben, während der Drohphase und nicht, wenn sie verhängt werden. Die Drohung mit einer negativen Sanktion – oder auch das Versprechen einer positiven Sanktion – kann, wenn die angekündigte Maßnahme richtig kalibriert ist, das Verhalten des Ziellandes ändern, weil sich sein Nutzenkalkül verändert. So könnte ein Regelbruch wegen einer angekündigten Sanktion keinen positiven Nettonutzen für eine Regierung erzielen und unterbleibt deshalb. Negative Sanktionen müssen daher gar nicht eingesetzt werden. Falls aber trotzdem der Regelbruch erfolgt, etwa weil die Sanktionsdrohung zu schwach bemessen war, dann muss die Sanktion zwar verhängt werden – sonst verliert das drohende Land jede Glaubwürdigkeit –, aber eine schnelle Wirkung ist sehr unwahrscheinlich, denn das Land verübt den Regelbruch eben, weil der Nettonutzen trotz umgesetzter Sanktionsdrohung positiv bleibt. Das heißt: Die empirische Beobachtung eines Sanktionserfolgs in etwa 40 % aller Sanktionsepisoden und oft erst nach vielen Jahren ist überhaupt nicht überraschend. Das Versprechen positiver Sanktionen muss bei Erfolg hingegen eingelöst werden, sonst verliert das Land an Glaubwürdigkeit, und das nächste Versprechen wirkt nicht.

Um Sanktionen als geoökonomisches Mittel zu perfektionieren, muss sich eine Regierung hinreichend gute und vollständige Informationen über den Gegner beschaffen; nur dann kann sie wissen, wie ihre Sanktionsdrohungen richtig zu kalibrieren sind. Sind sie zu stark bemessen, dann sind sie wenig glaubwürdig, weil ja jede Sanktion auch das sanktionierende Land wirtschaftlich trifft. Sind sie zu schwach bemessen, wirken sie nicht. Weil der Nettonutzen eines Regelbruches eines geoökonomischen Gegners nicht nur ökonomisch zu bewerten ist, muss die Regierung neben den zu erwartenden wirtschaftlichen Auswirkungen im In- und Ausland auch die politischen Präferenzen, Kosten, Nutzen und Optionen des Gegners kennen.

Sie muss auch den Ablauf eines Sanktionsprozesses gut strukturieren. Angedrohte Sanktionen müssen am Ende auch verhängt werden können, obwohl sie im Inland hohe Kosten verursachen. Daher braucht es transparente Entscheidungswege. Außerdem ist Geschwindigkeit bei der Verhängung von Sanktionen erforderlich – muss erst monatelang beraten werden, verpufft die Wirkung. Das geplante „Anti-Coercion-Instrument“ der EU-Kommission sollte gerade den angesprochenen Verfahrensweg verbessern, weil es diesen beschleunigt und die Sanktionsdrohung glaubwürdiger macht.

Ganz zentral für positive und negative Sanktionen ist aber vor allem eines: die Größe und Tiefe des Marktes, dessen Zugang durch Sanktionen eingeschränkt werden könnte. Für die EU ist das der Binnenmarkt. Der Brexit hat ihn verkleinert; das schmälert die Sanktionsmöglichkeiten der EU. In den letzten Jahren ist der Binnenmarkt auch nicht weiter vertieft worden; das macht Sanktionen für die Handelspartner weniger schmerzhaft. Und schließlich ist auch das geringe Wirtschaftswachstum in der EU ein Hemmschuh.

Anwendung: Sanktionen gegen Russland

Nachdem am 24. Februar 2022 die Armee der russischen Föderation in der Ukraine einmarschiert ist, haben westliche Staaten – die EU, Großbritannien, die USA, Kanada, die Schweiz, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland – Sanktionen eingeführt und in mehreren Runden verschärft. Die Sanktionen haben in der Klassifikation der Global Sanctions Data Base (vgl. Abbildung 3(b)) das Ziel, Russland zu zwingen, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Wie oben ausgeführt, hätte die Sanktionsdrohung bereits vor dem Einmarsch wirken müssen. Offenbar hat die russische Führung trotz der erwarteten Sanktionen im Angriffskrieg aber höhere Nutzen als Kosten gesehen und trotz Sanktionsdrohung das geltende Völkerrecht gebrochen. Es ist natürlich möglich, dass sich Russland verkalkuliert hat, indem es die Härte der westlichen Sanktionen unterschätzt hat. Es ist allerdings analytisch zielführender, der russischen Führung zu unterstellen, sie hätte die Sanktionen im Großen und Ganzen vorhergesehen. Dann wäre es nicht zu erwarten, dass Russland sich wegen der Verhängung der Sanktionen aus dem eroberten Gebiet wieder zurückzieht. Dennoch ist es erforderlich, dass die westlichen Sanktionen bestehen bleiben. Eine Rücknahme würde den Angriffskrieg Russlands erst recht einträglich für die russische Führung machen. Wichtiger noch: Die Glaubwürdigkeit der nächsten impliziten oder expliziten Sanktionsdrohung wäre dahin.

Die Sanktionen enthalten Exportverbote für Güter und Technologie, die für militärische Zwecke gebraucht werden können, preisliche Beschränkungen betreffend den Import von Erdöl und Erdgas, Einschränkungen im Geschäftsverkehr zwischen Finanzinstitutionen, Reiseverbote für eine lange Liste von Personen und das Einfrieren von Auslandsvermögen der russischen Zentralbank sowie von russischen Firmen und Personen. Damit wird das nach der Annexion der Krim verhängte Sanktionsregime deutlich verschärft. Russland hat mit Gegenmaßnahmen reagiert, die in einer graduellen Reduktion der Gasexporte in die EU bestanden. Aktuell liegen laut Angaben des Thinktanks Bruegel die Gaslieferungen in die EU bei etwa einem Achtel bis einem Sechstel des bisher üblichen Wertes.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der verhängten Sanktionen sind deutlich (vgl. Abbildung 4). Im Zeitraum Februar 2022 bis Oktober 2022 gingen die importierten und die exportierten Mengen im Russlandhandel um jeweils ca. 50 % zurück; die Exporte schneller als die Importe (die vor allem aus Energielieferungen bestehen, auf die die EU zunächst keine Sanktionen erhob). Die Exporte scheinen sich bei 50 % einzupendeln, während der Trend bei den Importen weiterhin negativ ist. In laufenden Euro gerechnet sieht das Bild bei den Exporten sehr ähnlich aus, während der Wert der Importe sich bis zum Kriegsbeginn vom Tiefpunkt im April 2020 mehr als vervierfachte. Der Grund liegt im starken Anstieg der Preise für Rohöl und vor allem für Erdgas, die sich nach dem Corona-Schock und einer überraschend starken weltweiten Nachfrage im Jahr 2021 massiv erholten. Weil die europäischen Exporte schnell einbrachen und es hier keine kompensierenden Preiseffekte gab, verschlechterte sich zunächst die bilaterale Handelsbilanz der EU mit Russland deutlich.

Abbildung 4
Monatlicher Außenhandel der EU27 mit Russland
Monatlicher Außenhandel der EU27 mit Russland

Saisonal und kalendarisch angepasste bereinigte Daten. Vertikale Linie: Februar 2022.

Quelle: Eurostat, eigene Darstellung.

Dieses empirische Bild passt gut zu den Erwartungen, die mithilfe der existierenden Literatur gebildet werden können (Dai et al., 2021). Umfassende Handelssanktionen reduzieren den Güterhandel um etwa 75 % innerhalb eines Jahres; partielle Sanktionen weniger. Im Vergleich kann das Sanktionsregime gegen Russland als mittelmäßig streng gelten. Solange das Sanktionsregime des Westens wichtige Importgüter Russlands nicht mit Exportverboten belegt wie etwa Pharmaprodukte, werden die Exporte nicht weiter einbrechen. Der deutliche Rückgang der Weltmarktpreise für Erdöl und Erdgas wird aber zu einer deutlichen Reduktion des Handelsbilanzüberschusses Russlands mit der EU führen.

Betrachtet man den Außenhandel der EU in breiten Gütergruppen, so ist festzustellen, dass fast überall die Importe stark zurückgegangen sind, wenn man die Werte des letztverfügbaren Monats Oktober 2022 mit jenem des Februar 2022 vergleicht (vgl. Abbildung 5). Im Bereich der mineralischen Brennstoffe sind die Effekte am schwächsten ausgeprägt – der Importwert beträgt im Oktober 68 % des Wertes vom Februar (saisonal und kalendarisch bereinigt); diese Produktgruppe dominiert die EU-Importe aus Russland. Bei den Exporten der EU ist die Lage etwas durchwachsener. Hier zeigt sich, dass die Exporte der EU im Chemiebereich deutlich weniger eingebrochen sind, wie etwa im Maschinen- und Fahrzeugbau oder im Bereich der bearbeiteten Waren. Hier prägen die Gegensanktionen Russlands das Geschehen; dort, wo beide Parteien keine Maßnahmen ergriffen haben, leidet der Handel am wenigsten stark. Dass die Sanktionen wirtschaftlich wirken, sieht man auch an der Tatsache, dass die russische Ölsorte Urals seit April 2022 um zwischen 35 US-$ und 22 US-$ pro Fass billiger gehandelt wird als die vergleichbare Nordseesorte Brent.

Abbildung 5
Veränderung des Außenhandels der EU27 mit Russland Oktober 2022 relativ zu Oktober 2021
Veränderung des Außenhandels der EU27 mit Russland Oktober 2022 relativ zu Oktober 2021

Die Tabellen zeigen den Wert des Monats Oktober 2022 relativ zum Wert des Monats Februar 2022. Saisonal und kalenderbereinigte Daten.

Quelle: Eurostat.

Neben der Wirkung der Sanktionen auf den bilateralen Handel Russlands mit den sanktionierenden Ländern stellt sich die Frage, ob Russland auf andere Märkte ausweichen kann, um die Sanktionen des Westens zu umgehen. Schließlich umfasst die Liste der sanktionierenden Länder wichtige Handelspartner Russlands wie die Türkei, Indien oder China nicht. Die Entwicklungsländer haben sich komplett der Sanktionen enthalten. Es ist daher zu erwarten, dass es zu einer Handelsumlenkung zugunsten dieser Länder kommt. Bisher ist der Effekt vor allem im Bereich des Handels mit Rohöl sichtbar; hier ist mit Indien ein großer neuer Käufer aufgetaucht (Darvas und Martins, 2022). China scheint ebenfalls nicht im großen Ausmaß als Ersatzmarkt einzuspringen, weil dafür die Transportkapazitäten fehlen. Daten über globale Schiffsbewegungen sprechen hier eine klare Sprache. Die Koalition der sanktionierenden Länder versucht, ihre Sanktionen zu extraterritorialisieren, indem sie Finanz- oder Versicherungsdienstleistungen, die für die Abwicklung von Geschäften Dritter mit Russland erforderlich sind, sanktioniert. Sie könnte noch weiter gehen und auch Länder sanktionieren, die weiter mit Russland Handel treiben. Das würde vermutlich zu Gegenreaktionen der Drittstaaten führen und ist daher potenziell gefährlich.

Aber die Handelsumlenkungseffekte könnten die Vernichtung von Handel zwischen Russland und den traditionellen Partnerländern nicht kompensieren. Das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil Russland wohl schon vor den Sanktionen mit Indien Geschäfte abgewickelt hätte, wenn das für beide Seiten lukrativer gewesen wäre. Felbermayr et al. (2023) haben Modellsimulationen angestellt, die zeigen, welche Effekte eine Entkoppelung der russischen Wirtschaft von jener der sanktionierenden Länder in der langen Frist haben wird.

Es zeigt sich, dass der bilaterale Handel fast zur Gänze verschwinden würde (vgl. Abbildung 6). Das geht über die bisher tatsächlich zu beobachtenden Effekte hinaus, weil die Unterstellung in der Simulation jene einer völligen Handelsunterbrechung ist. In dieser Situation kommt es langfristig zu erheblicher Handelsumlenkung. Die Exporte Russlands in Drittstaaten würden um fast 60 % zulegen (allerdings von oft niedrigen Niveaus ausgehend), die Exporte der sanktionierenden Länder blieben hingegen weitgehend unverändert. Die Importe Russlands aus Drittstaaten (vor allem China) würden sogar sinken, weil die Sanktionen Russland langfristig wirtschaftlich schaden. Daher sind die Einkommen Russlands kleiner und die Nachfrage nach Gütern insgesamt geringer. Die sanktionierende Koalition würde hingegen mehr aus Drittländern einkaufen – vor allem Rohstoffe. Der Gesamteffekt bliebe aber überschaubar. Die Gesamtexporte Russlands würden um ca. 45 % fallen. Das zeigt, dass die Handelsumlenkung die Handelszerstörung durch die Sanktionen nicht aufwiegen kann. Daraus resultiert dann auch eine Verringerung des realen Pro-Kopf-Einkommens um fast 10 %. Auch die sanktionierende Koalition muss mit insgesamt geringeren Exporten rechnen; die Einkommenseffekte wären mithin ebenfalls negativ, aber, in Prozentpunkten betrachtet, um den Faktor 50 kleiner. Obwohl die Koalition der sanktionierenden Länder relativ klein ist, fügen die Maßnahmen des Westens Russland in der langen Frist erheblichen Schaden zu. Im Jahr 2022 wird mit einer Schrumpfung der russischen Wirtschaft um etwa 3,5 % gerechnet, im Jahr danach um etwa 2,5 %. Ohne die Sanktionen wäre sie vermutlich gewachsen, kumulativ sind 2022 und 2023 4 % realistisch. Damit zeigt sich, dass die simulierten 10 % Einbruch der Wirtschaftsleistung durchaus plausibel sind. Die Analyse von Felbermayr et al. (2023) zeigt allerdings, dass innerhalb der Koalition der sanktionierenden Länder starke Heterogenitäten existieren. So liegt der langfristige Schaden im Baltikum bei ca. 2 % der Wirtschaftsleistung pro Kopf, in Norwegen steigt sie hingegen (aufgrund positiver Handelsumlenkungseffekte) um fast 1 %. Deutschland hätte langfristig mit einem Schaden von 0,4 % zu rechnen. Die USA kommen hingegen ohne Nachteile aus dem Wirtschaftskrieg.

Abbildung 6
Langfristige Effekte eines vollständigen Decouplings Russlands vom „Westen“

in %

Langfristige Effekte eines vollständigen Decouplings Russlands vom „Westen“

Annahme: Handel zwischen EU, US, UK, JPN, CAN, KOR (= US+EU) und RUS wird komplett eingestellt.

Quelle: Eurostat, Felbermayr et al. (2023).

Schlussfolgerungen

Geopolitische Konflikte werden zunehmend mit ökonomischen Mitteln ausgetragen. Blackwill und Harris (2016) sprechen daher von „Krieg mit anderen Mitteln“. Die Sanktionen des Westens gegen Russland nach dessen Angriff auf die Ukraine und Russlands Gegensanktionen sind ein Beispiel für die Verwendung wirtschaftlicher Interdependenz als Waffe. Spätestens seit dem Februar 2022 ist klar, dass die Phase geopolitischer Ruhe in der Weltwirtschaft endgültig vorbei sein dürfte. Die Zeitenwende, von der in der Politik im Jahr 2022 oft die Rede war, hat sich in Wahrheit aber rund um das Jahr 2008 ereignet. Seither wächst der Weltgüterhandel nicht mehr schneller als die globale Güterproduktion. Die Zahl an protektionistischen Maßnahmen nimmt zu. Waren vor 15 Jahren noch etwa 200 Wirtschaftssanktionen auf Länderpaarebene aktiv, so ist die Zahl im Jahr 2022 auf ca. 600 gestiegen. Der Einsatz von negativen Wirtschaftssanktionen für geopolitische Zwecke mag humaner sein als der Einsatz von Waffen; gleichwohl ist er teuer und hat Nebeneffekte. Daher ist es von großer Bedeutung, dass sich die Regierungen über ihre geostrategischen Rivalen gut informieren, ihre und die eigenen Verletzlichkeiten gut kennen und den geoökonomischen Instrumentenkasten modernisieren. Sie müssen ihr Wissen über die globalen Lieferketten vergrößern und die Anreize der Unternehmen besser verstehen, damit sie rational handeln können.

Es ist klar, dass der Staat angesichts geopolitischer Spannungen Eingriffe in den Freihandel erfolgreich begründen kann. Denn die Unternehmen internalisieren nicht, welche machtpolitischen Auswirkungen ihre Import- oder Export­entscheidungen haben; dafür sind auch große Konzerne systemisch zu unbedeutend. Es liegt mithin eine sicherheitspolitische Externalität vor, die es zu minimieren gilt. Alles, was es den Unternehmen erleichtert, ihre Beschaffungs- und Absatzmärkte zu diversifizieren, hilft. Hohe Zölle sind dabei sicher nicht förderlich; ganz im Gegenteil, Handelsabkommen wie etwa jenes der EU mit Korea schaffen Möglichkeiten der Diversifizierung unter Bedingungen der Rechtssicherheit. Kreditgarantien des Bundes, die bisher nur für Exportgeschäfte verfügbar sind, sollten auch für Importe nutzbar sein. Insgesamt sollte die Politik auf Konsistenz ihres Gesamtansatzes achten. Soll zur Reduzierung der sicherheitspolitischen Externalität die Diversifizierung der Beschaffung steigen, könnte sich ein Lieferkettengesetz, das pro Lieferant zusätzliche fixe Kosten verursacht, als Bumerang herausstellen. Ebenso könnte es langfristig schädlich sein, bei Lieferkettenproblemen den betroffenen Unternehmen großzügig zu helfen. Denn dann verfestigt sich die Erwartung, dass bei geoökonomisch verursachten Lieferkrisen eine vorab erfolgte Verengung der Lieferantenbasis durch staatliche Hilfen kompensiert wird. Eine solche „Vollkaskoversicherung“ von Unternehmen bei Produktionsausfällen führt zu übertriebener Risikonahme und verstärkt die sicherheitspolitische Externalität.

Aber Diversifizierung hilft nicht immer, denn für viele Rohstoffe steht nur eine sehr begrenzte Zahl von Lieferländern zur Verfügung. Daher kann es sinnvoll sein, dass die EU-Länder gemeinsame strategische Reserven für wichtige Rohstoffe anlegen und diese dann auch gemeinsam einsetzen. Außerdem könnten steuerliche Anreize für Lagerhaltung und zur Förderung von Recycling (urban mining, circular economy) effiziente und effektive Instrumente darstellen, um die Resilienz der Unternehmen und damit die Erpressbarkeit der Regierungen zu vermindern. Ganz oben auf der Prioritätenliste müssten auch eine erneuerte Außenwirtschaftsdiplomatie und strategische Partnerschaften zur Verfolgung eines „European Interest“ stehen.

Geoökonomisch ist die wichtigste Ressource der EU der Binnenmarkt. Das sollten sich die EU und die Mitgliedsländer bei der Ausformung der neuen Außenwirtschaftsstrategie „Open strategic autonomy“ stets vor Augen halten. Je tiefer, innovativer, größer und dynamischer der eigene Markt ist, umso mehr kann die EU mit der Androhung einer Verweigerung des Marktzutritts Drittstaaten beeindrucken. Nur dann werden neue Instrumente wie der CO2-Grenzausgleichsmechanismus, das Anti-Zwangs-Instrument (Anti-Coercion-Instrument) oder das Instrument für das internationale Beschaffungswesen (International Procurement Instrument) wirklich effektiv sein.

  • 1 Mit „Nettobestand“ ist die seit 2008 kumulierte Zahl der restriktiven Maßnahmen abzüglich der liberalisierenden Maßnahmen gemeint.

Literatur

Altmaier, P. (2019), Nationale Industriestrategie 2030: Strategische Leitlinien für eine deutsche und europäische Industriepolitik, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.

Blackwill, R. und J. Harris (2016), War by Other Means: Geoeconomics and Statecraft, Harvard University Press.

Braml, M. und G. Felbermayr (2022), Außenwirtschaftliches Gleichgewicht als Staatsziel im 21. Jahrhundert, Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft Focus Paper, |#1, Bertelsmann Stiftung.

Braml, M. und G. Felbermayr (2023), The measurement, structure and dynamics of the transatlantic current account, in E. Fahey (Hrsg.), Routledge Research Handbook on Transatlantic Relations, Routledge, im Erscheinen.

Dai, M., G. Felbermayr, A. Kirilakha, C. Syropoulos, E. Yalcin und Y. V. Yotov (2021), Timing the Impact of sanctions on trade, in P. Bergeijk (Hrsg.), The Research Handbook on Economic Sanctions, Edgar Elgar.

Darvas, Z. und C. Martins (2022), The impact of the Ukraine crisis on international trade, Bruegel Working Paper, 20.

Drezner, D., H. Farell und A. Newman (2021), The Uses and Abuses of Weaponized Interdependence, Brookings Institution Press.

Eppinger, P., G. Felbermayr, O. Krebs und B. Kukharskyy (2021), Decoupling Global Value Chains, CESifo Working Paper, 9079.

Felbermayr, G. und O. Krebs (2023), Der volkswirtschaftliche Schaden von Decoupling in Deutschland auf Bundes-, Kreis- und Sektorebene, Studie für die Stiftung Familienunternehmen, im Erscheinen.

Felbermayr, G., J. Gröschl und I. Heiland (2022), Complex Europe: Quantifying the Cost of Disintegration, Journal of International Economics, 138.

Felbermayr, G., Y. Wolfmayr et al. (2022), Strategische Außenwirtschaftspolitik 2030 – Wie kann Österreich Geoökonomie-Konzepte nützen? WIFO-Studie.

Felbermayr, G. und G. Wolff (2023), Wohin steuert die Weltwirtschaft?, Internationale Politik, 1, 18-25.

Felbermayr, G., H. Mahlkow und A. Sandkamp (2023), Cutting through the value chain: The long-run effects of decoupling the East from the West, Empirica, 2023.

Fukuyama, F. (1992), The End of History and the Last Man, Free Press.

Heiland, I. (2021), Global Risk Sharing Through Trade in Goods and Assets: Theory and Evidence, CEPR Working Paper, 14230.

Johnson, H. (1953), Optimum Tariffs and Retaliation, The Review of Economic Studies, 21(2), 142-153.

Kirilakha, A., G. Felbermayr, C. Syropoulos, Erdal Yalcin und Y. V. Yotov (2021), The Global Sanctions Data Base: An Update that Includes the Years of the Trump Presidency, in P. Bergeijk (Hrsg.), The Research Handbook on Economic Sanctions, Edgar Elgar.

Rodrik, D. (2011). The globalization paradox: democracy and the future of the world economy, W. W. Norton & Co.

Smith, A. (1776), An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Nachdruck, University of Chicago Press (1977).

Title:War by Other Means

Abstract:Since states have been fighting for power, they have used economic tactics in addition to military ones. Such trade policy measures for geopolitical purposes are discussed below. On the basis of Russia’s war of aggression, the West can justify these interventions in free trade. Companies do not internalise power-political effects, therefore states should reduce these security policy externalities.

Beitrag als PDF

© Der/die Autor:in 2023

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2023-0060