Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Durch den wachsenden Stimmenanteil der Parteien an den politischen Rändern rückt folgende Frage in den Fokus: Wie können sich die Parteien der politischen Mitte von diesen Rändern abgrenzen und gleichzeitig eindeutige Alleinstellungsmerkmale herausbilden? Die Analyse der programmatischen Ähnlichkeiten verschiedener Parteien zeigt zwar eine Abgrenzung der Zentrumsparteien von den Positionen der AfD, die Parteien der Mitte aber nähern sich in ihren Inhalten tendenziell sogar an. Das ist ein Problem. Denn wer gewählt werden will, braucht die Abgrenzung von der politischen Konkurrenz.

Seit Jahrzehnten wird intensiv darüber debattiert, ob die parteilichen Unterschiede in der politischen Mitte1 durch programmatische Annäherungen – insbesondere zwischen den lange Zeit dominierenden „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD – zunehmend verschwimmen und es kaum noch erkennbare Differenzen zwischen den Parteien aus der Mitte des politischen Spektrums gibt. Wagschal und König (2014) thematisieren in diesem Zusammenhang das Risiko einer wachsenden Demokratieunzufriedenheit, welches bei einer abnehmenden Unterscheidbarkeit der Zentrumsparteien an Bedeutung gewinnen könnte. Der rasante Aufstieg der AfD in den letzten Jahren hat dieser Debatte eine neue Dimension hinzugefügt, da sie als alternative Kraft am rechten Randes der Parteienlandschaft als erstarkender Konkurrent der etablierten Parteien erscheint. Zusätzlich zu Faktoren wie dem Wahlerfolg der Parteien oder ihren Koalitionspräferenzen sowie gemeinsam gesammelten Regierungserfahrungen ist ihre sachpolitische und inhaltliche Positionierung von entscheidender Bedeutung für die Koalitions- und Regierungsbildung (Debus, 2022). Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, anhand der Daten des Wahl-o-Mats die programmatische Positionierung der Parteien zueinander zu analysieren und insbesondere zu untersuchen, wie sich die programmatische Distanz zwischen den Parteien seit 2002 entwickelt hat.

Bestimmung der programmatischen Distanz

Als bekanntes Maß parteilicher Übereinstimmung dient beispielsweise die Links-Rechts-Skala im Bezug auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie Skalen zur parteilichen Einordnung in gesellschaftlich progressive oder traditionelle politische Haltungen. Für diesen Beitrag jedoch nutzen wir die verfügbaren Daten des Wahl-O-Mats aus dem Zeitraum 2002 bis 2024, um die programmatische Ähnlichkeit der politisch relevantesten Parteien der letzten Jahre (CDU/CSU2, SPD, FDP, Grüne, AfD und Linke) zu illustrieren. Der Wahl-O-Mat wird von der Bundeszentrale für politische Bildung bereitgestellt und dient zur Untersuchung der Übereinstimmung der politischen Ansichten von Nutzern mit den Positionen der Parteien. Hierzu werden die Haltungen zu spezifischen politischen Themen abgefragt. Er genießt große Beliebtheit bei der Wahlbevölkerung sowie bei Forschern, die die Daten insbesondere heranziehen, um zu Fragen im Bereich der politischen Informationsmittel, Wähler­mobilisierung oder Parteipositionierung zu forschen. Der Wahl-O-Mat kann daher als „exzellentes Instrument, um die politischen Positionen von Parteien zu messen und zu vergleichen“, angesehen werden (Fratzscher, 2024). Der Wahl-O-Mat wurde erstmals zur Bundestagswahl 2002 eingeführt und ermöglichte bis ins Jahr 2008 nur die Auswahl von im Parlament vertretenen oder chancenreichen Parteien. Seit dem Jahr 2009 werden auch kleinere Parteien berücksichtigt und die Zahl der Fragen ist gestiegen.

Zur Bestimmung der parteiprogrammatischen Übereinstimmungen berechnen wir in diesem Beitrag eine Kennzahl auf Basis der Übereinstimmung zweier Parteien im Bezug auf die Angaben zu den spezifischen Fragen im Wahl-O-Mat (Bolte, 2024).3 Im Wahl-O-Mat gibt es nur drei Antwortmöglichkeiten, nämlich „stimme zu“, „neutral“ und „stimme nicht zu“. Wir nutzen die Manhattan-Distanz4 als Maßzahl für die Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit der parteilichen Orientierung. Diese gibt die absolute Distanz zwischen den Antworten auf jede Frage an und verwendet eine gleiche Gewichtung für jede Frage. Sie dient somit als Index für die programmatische Distanz.5 Je mehr Unterscheidungen in den Antworten auf die Fragen des Wahl-O-Mats und je größer diese zwischen den respektiven Parteien sind, umso höher ist die programmatische Distanz. Sie kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen.

Deskriptive Erkenntnisse

Im vorliegenden Datensatz sind 64 Wahlen abgebildet, wobei 58 auf Landesebene und sechs auf Bundesebene enthalten sind. Sie umfassen den Zeitraum 2002 bis zur letzten Landtagswahl 2024 in Brandenburg.6 Die im verwendeten Datensatz vorhandenen Wahldaten werden in Tabelle 1 aufgelistet.

Tabelle 1
Verwendete Wahldaten aus dem Wahl-o-Mat
Wahl Jahre
Baden-Württemberg 2006, 2011, 2016, 2021
Bayern 2003, 2013, 2018, 2023
Berlin 2006, 2011, 2016, 2021, 2023
Brandenburg 2014, 2019, 2024
Bremen 2007, 2011, 2015, 2019, 2023
Deutschland 2002, 2005, 2009, 2013, 2017, 2021
Hamburg 2008, 2011, 2015, 2020
Hessen 2018, 2023
Mecklenburg-Vorpommern 2021
Niedersachsen 2008, 2013, 2022
Nordrhein-Westfalen 2005, 2010, 2012, 2017, 2022
Rheinland-Pfalz 2006, 2011, 2016, 2021
Saarland 2004, 2012, 2017, 2022
Sachsen 2004, 2014, 2019, 2024
Sachsen-Anhalt 2006, 2016, 2021
Schleswig-Holstein 2005, 2012, 2017, 2022
Thüringen 2014, 2019, 2024

Nachfolgend illustrieren wir zuerst durch grafische Darstellung die Entwicklung der programmatischen Distanz zwischen den Parteien CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen, sowie gesondert zwischen jener etablierten Parteien und der Partei Die Linken sowie der AfD. Zudem präsentieren wir die Ergebnisse eines einfachen statistischen Testverfahrens, um die Signifikanz der Veränderung der Distanz zwischen den programmatischen Parteipositionen von 2002 bis 2024 zu überprüfen.

In Abbildung 1 wird die programmatische Distanz zwischen den Parteien CDU, FDP, SPD und Grünen dargestellt, welche auch als Zentrumsparteien oder Parteien der politischen Mitte bezeichnet werden können.7 Jeder Punkt in der Abbildung zeigt die politische Distanz zwischen verschiedenen Parteien bei einer bestimmten Wahl, wobei die unterschiedlichen Parteikombinationen farblich gekennzeichnet sind. Im Rahmen dieser grafischen Analyse wird deutlich, dass im historischen Vergleich eine markante Nähe zwischen der SPD und den Grünen sowie zwischen der CDU und der FDP besteht. Diese Parteien weisen im Durchschnitt die geringste programmatische Distanz zueinander auf. Zudem unterscheiden sich die Antworten der Grünen auf die Fragen im Wahl-O-Mat deutlich von den Positionen der CDU und der FDP. Die vorliegenden Daten deuten zudem auf eine moderate Übereinstimmung zwischen der SPD und der CDU beziehungsweise der FDP hin. Im Zeitverlauf ist keine zunehmende Pluralisierung der Positionen der Parteien in der politischen Mitte zu beobachten; vielmehr zeigt sich eine tendenzielle Annäherung der genannten Parteien.

Abbildung 1
Programmatische Distanz zwischen den Zentrumsparteien
Programmatische Distanz zwischen den Zentrumsparteien

Lesebeispiel: Der hellgrüne Punkt oben auf der senkrechten 2008-Achse bedeutet, dass im Betrachtungszeitraum die programmatische Distanz zwischen Grüne und CDU nie größer war als in diesem Jahr.

Quelle: Bolte (2024) und eigene Berechnungen.

Dennoch lässt sich auf Basis der vorliegenden Daten feststellen, dass sich keine wesentlichen Veränderungen in den grundlegenden politischen Lagern ergeben haben. Die vorliegenden Daten lassen die bekannten Lager erkennen, die auch durch andere Distanzanalysen oder die grundsätzliche gesellschaftliche Wahrnehmung gestützt werden, nämlich die Zuordnung der Grünen und der SPD auf der einen Seite sowie der CDU und FDP auf der anderen, welche jeweils große programmatische Übereinstimmungen aufweisen. Über die Zeit hinweg bleibt die Nähe zwischen der Union und der FDP sowie zwischen der SPD und den Grünen bestehen, was für stabile Parteilager und eine klare Unterscheidung der bürgerlichen von den eher linken Parteien spricht.

Abbildung 2 illustriert die Positionierung der Zentrumsparteien im Vergleich zu den zwei Parteien, welche im Links-Rechts-Spektrum als die wohl prominentesten Vertreter der Ränder angesehen werden können, nämlich die AfD rechts und Die Linke8 links des politischen Zentrums. Es lässt sich sowohl bei der Linken als auch bei der AfD eine klare Positionierung zu den anderen Parteien erkennen. Während Die Linke insbesondere programmatische Überschneidungen mit den Grünen und der SPD aufweist, hat sie eine umso distanziertere Positionierung gegenüber der CDU und FDP.

Abbildung 2
Programmatische Distanz zur AfD und Linken
Programmatische Distanz zur AfD und Linken

Quelle: Bolte (2024) und eigene Berechnungen.

Bei Betrachtung der AfD ergibt sich quasi ein inverses Bild. Die AfD steht programmatisch insbesondere der CDU und FDP näher und weist eine klare Distanz zu den Grünen und der Linken auf, während eine mittlere Übereinstimmung mit den Positionen der SPD besteht. Während die grafische Darstellung darauf hindeutet, dass sich die Position der Linken in Bezug auf die anderen Parteien im Zeitverlauf kaum verändert hat, zeigt sich jedoch eine leichte Divergenz der Zentrumsparteien und der Positionen der AfD.

Neben den grafischen Analysen wird in Tabelle 2 dargestellt, wie sich im Zeitverlauf die Distanz zwischen möglichen Koalitionsparteien entwickelt hat, um signifikante Trends bestimmen zu können. Hierfür wenden wir ein einfaches Testverfahren an, um die Nullhypothese zu untersuchen, dass keine Beziehung zwischen der Zeit und der programmatischen Distanz besteht. Dies erfolgt mithilfe eines einfachen t-Tests. Wenn der Koeffizient in der Spalte für die Veränderung gleich null ist, bedeutet dies, dass sich die programmatische Distanz im Zeitverlauf nicht verändert hat. Wenn der Koeffizient jedoch ungleich null ist, gibt es eine Veränderung der programmatischen Distanz im Zeitverlauf. Das Vorzeichen des Koeffizienten gibt dabei die Richtung der Veränderung der programmatischen Distanz im Verlauf der untersuchten Zeitperiode an (positiv oder negativ). Zudem lässt der p-Wert – also das statistisches Maß, wie wahrscheinlich es ist, dass ein beobachteter Unterschied zwischen Gruppen zufällig auftritt – eine Interpretation darüber zu, ob die Änderung der programmatischen Distanz zwischen den betrachteten Parteien auf einem bestimmten Signifikanzniveau signifikant ist und somit die Nullhypothese einer unveränderten programmatischen Distanz abgelehnt werden kann.

Tabelle 2
Veränderung der Distanz zwischen den Parteipositionen von 2002 bis 2024
Koalition Veränderung Koalition Veränderung
Grüne + AfD 0,011** SPD + CDU -0,006***
Linke + AfD 0,007* Grüne + CDU -0,006**
SPD + AfD 0,006* CDU + FDP -0,005***
CDU + AfD 0,002 SPD + Grüne -0,005**
Linke + Grüne 0,001 CDU + Linke -0,003
FDP + AfD 0 Grüne + FDP -0,003
FDP + Linke 0 SPD + FDP -0,002
Linke + SPD 0    

Die in der Tabelle verwendeten Sterne repräsentieren das Signifikanzniveau der geschätzten Koeffizienten und den dazugehoerigen p-Wert: * für p < 0,1, ** für p < 0,05 und *** für p < 0,01. Zum Beispiel beduetet der P-Wert 0,011, dass die beobachtete statistische Signifikanz stark genug ist, um die Nullhypothese bei einem Signifikanzniveau von 5 % abzulehnen.

Quelle: Bolte (2024) und eigene Berechnungen.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass insbesondere eine zunehmende Abgrenzung der Zentrumsparteien von den Positionen der AfD beobachtet werden kann. Diese zeigt für die Grünen, die Linken, und die SPD signifikante Werte; also für die Parteien des politisch linken Lagers. Auf der anderen Seite lässt sich erkennen, dass die Zentrumsparteien sich vereinzelt in ihrer Positionierung annähern. Insbesondere die signifikante Annäherung der Parteipositionen von SPD und CDU, CDU und FDP, Grünen und CDU sowie SPD und Grünen – den wohl wichtigsten Parteien in der Regierungsbildung auf Landes- und Bundesebene in den betrachteten Jahren – ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung.

Diskussion und Ausblick

Unsere Methodik zur Bestimmung der programmatischen Distanz zwischen den Parteien stimmt mit der von Wieland (2024) überein. Jedoch offenbaren sich beim Einsatz und der Interpretation des Wahl-O-Mats einige limitierende Faktoren, darunter die unklare Gewichtung der für die Wahlbevölkerung relevantesten Fragen sowie die unzureichende Bestimmung der exakten Parteipositionen, da diese nicht direkt von den Parteien selbst angegeben werden. Zudem weist Wieland (2024) auf mögliche strukturelle Änderungen im Design der Fragen des Wahl-O-Mats hin, bei denen erst seit 2009 die Positionen kleinerer Parteien aufgeführt werden und die Zahl der zu beantwortenden Fragen zugenommen hat, was einen Vergleich der Ähnlichkeit der Parteien über die Zeit erschwert. Zukünftig könnte jedoch insbesondere der Vergleich mit den Erkenntnissen aus anderen Erhebungen der Parteipositionen weiter ausgebaut werden.

An dieser Stelle kann z. B. der CHE-Datensatz von Jolly et al. (2022) angeführt werden, welcher eine umfassende Entwicklung der Parteipositionierungen in einer Vielzahl europäischer Länder ermöglicht, die durch die Bewertung von Expertengruppen gewonnen wird. Diese Erkenntnisse lassen sich jedoch nicht auf Wahlen auf Ebene der Bundesländer übertragen, sondern beziehen sich ausschließlich auf die Einordnung im Kontext der europäischen Nationalstaaten. Nichtsdestoweniger sind auch Jolly et al. (2022) in der Lage zu zeigen, dass die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts durch sehr stabile Parteipositionierungen im europäischen Raum gekennzeichnet sind.

Ein umfassender Überblick über die potenziellen Nachteile der grundsätzlichen parteilichen Orientierungsschätzung bietet Debus (2009), der auf weitere Möglichkeiten zur Schätzung verweist, wie z. B. durch regelmäßige Meinungsumfragen, Expertenbefragungen, Befragungen von Parlamentariern oder eine strukturierte Analyse der Parteiprogramme. In diesem Zusammenhang könnte eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Parteien, politischen Institutionen, Experten, und Wählern eine sinnvolle Überlegung sein, um eine zunehmend präzisere Bestimmung der Parteipositionierungen zu ermöglichen. Dies könnte wiederum dazu beitragen, die nicht vollständig transparenten parteilichen Klassifikationsmerkmale im Wahl-O-Mat zu hinterfragen und zu verbessern.

Zudem stellt sich die Frage einer möglichen Kausalität zwischen dem zunehmenden Zusammenwachsen des Meinungsbildes der politischen Mitte, deren wachsender Abgrenzung gegenüber der AfD und dem Erstarken anderer politischer Parteien welche eher dem politischen Rand zugeordnet werden können, wie z. B. dem aktuellen und schlagartigen Erscheinen der Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) auf dem politischen Parkett. Es bleibt zu klären, ob die politische Orientierung der Parteien an den Rändern als politischer Opportunismus angesehen werden kann, als Gegenpunkt zu den Parteien im „Establishment“, oder als gewollte parteipolitische Orientierung. Dies wird in den kommenden Jahren interessant zu untersuchen, insbesondere falls sich der aktuelle Stimmenzuwachs der AfD fortsetzt und sich gegebenenfalls auf Länderebene eine mögliche Regierung mit AfD-Beteiligung abzeichnet. Unabhängig von den programmatischen Übereinstimmungen erschwert insbesondere die Tatsache, dass aufgrund der erreichten Stimmanteile zunehmend keine lagerinternen Koalitionen mehr möglich sind (wie z. B. zwischen Grünen und SPD oder CDU und FDP), die Regierungsbildung zunehmend.

Insbesondere könnte es für die Zentrumsparteien, die über Jahre hinweg seit der Gründung der BRD das politische Zepter in der Hand hatten, von Interesse sein, wie durch klarere Parteiziele, die sich auch in der politischen Mitte voneinander abgrenzen, wieder Wähler begeistert werden können. Grundsätzlich kann die oft gemeinsame Regierungstätigkeit der Parteien in den vergangenen Jahren das Zusammenwachsen der Parteiprogramme der Zentrumsparteien CDU, SPD, Grünen und FDP erklären, um Konsens und Regierungsfähigkeit zu erleichtern. Aus dieser Perspektive könnte man unsere Erkenntnisse dahingehend interpretieren, dass sich die Koalitionsbildung der Zentrumsparteien auf Basis ihrer programmatischen Ausrichtung und Angleichung erleichtert. Dennoch sollte dem Argument Gehör geschenkt werden, dass es klarer parteilicher Abgrenzung bedarf, um politische Handlungsfähigkeit zu gewährleisten und Transparenz und Wiedererkennungswert für die Wähler zu garantieren.

Aktuell scheint das Bild bezüglich des Abschneidens der Zentrumsparteien im gesellschaftlichen Diskurs sehr getrübt, was sich auch regelmäßig in einem Verlust von Wählerstimmen widerspiegelt. Die Grünen verloren zum Beispiel im Jahr 2024 sogar ihre Repräsentanz in mehreren Landesparlamenten der Neuen Bundesländer. Ein weiteres Erstarken der Ränder könnte zu einer zunehmenden Schwächung des demokratischen Systems führen – schon heute ist die Konsens- und Regierungsbildung zunehmend erschwert. Es bleibt daher die Aufgabe der Parteien der politi­schen Mitte, weiterhin adäquate Abgrenzungsmöglichkei­ten und Erkennungsmerkmale im Zentrum des demokra­tischen Meinungsbildes zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne spricht Plasa (2024) auch von einer „Verengung der politischen Bandbreite“, die zum Erstarken der politischen Randparteien beigetragen hat. Als Reaktion sollten die Parteien des Zentrums effektive Strategien entwickeln, um der Polarisierung entgegenzuwirken. Zudem sollten sie alternative Ansätze gegenüber den politischen Rändern entwickeln, die über Verunglimpfungen hinausgehen und durch klare Parteipositionen den Wählern das Gefühl geben, für klare Standpunkte einzustehen. Angesichts des aktuellen Meinungstiefs, insbesondere der Grünen und der FDP, ist die Suche nach Profil auch durch Abgrenzung notwendig, um bestimmte Wählergruppen wieder für sich zu gewinnen. Eine zentrale Herausforderung der Zentrumsparteien ist eine klare programmatische Positionierung, um Wählerunzufriedenheit im Bezug auf Themen wie Migration und Wirtschaft effektiv anzusprechen. Das Ausnutzen dieser Unzufriedenheit durch Randparteien und deren starker Stimmzuwachs beeinträchtigt zunehmend die politische Handlungsfähigkeit.

Fazit

Die politischen Positionen der AfD und der Zentrumsparteien weichen zunehmend voneinander ab, während die Unterschiede zwischen den Positionen dieser Zentrumsparteien tendenziell geringer werden. Diese Entwicklung deutet darauf hin, dass die Standpunkte dieser Parteien in der politischen Mitte zueinander rücken, während sich gleichzeitig ein neuer rechter Pol bildet. Die aus den Wahl-O-Mat-Daten gewonnenen Erkenntnisse sollten mit Vorsicht interpretiert und künftig durch weitere Erhebungen ergänzt werden, da mögliche Messprobleme, zeitliche Inkonsistenzen sowie die reale politische Umsetzung der Parteipositionen und nicht nur deren Darstellung im Wahl-O-Mat berücksichtigt werden müssen. Daher bleibt es eine empirische und politische Herausforderung, die Positionen der Parteien und ihr Verhältnis zueinander präzise zu bestimmen.

Zwar kann eine einheitliche Programmatik der Zentrumsparteien die Konsens- und Kompromissfindung in Koalitionen erleichtern, doch besteht weiterhin die Herausforderung, die Parteiprofile zu schärfen, um einer verstärkten politischen und gesellschaftlichen Polarisierung entgegenzutreten, deren Gefahr für die demokratische Funktionsfähigkeit keineswegs unterschätzt werden sollte. Daher bleibt die Frage, ob deutlichere Profile der Zentrumsparteien zu einer größe­ren Wiedererkennung führen könnte, wodurch Wähler­abwanderungen zu den politischen Rändern vermindert werden könnten.

Die hier geäußerten Ansichten sind ausschließlich die des Verfassers und dürfen keinesfalls als offizieller Standpunkt der Europäischen Kommission angesehen werden.

      • 1 Zwar ist das Konzept der politischen Mitte als Raum oder Kontinuum und nicht als Punkt, an dem sich linke und rechte Spektren treffen, ein fragwürdiges Konzept. Dennoch bezeichnen wir in diesem Projekt zur besseren Wiedererkennbarkeit die Parteien SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP als die „Zentrumsparteien der politischen Mitte“, im Gegensatz zu den Parteien Die Linke und AfD.
      • 2 Wir nutzen die Gesamtstimmen von CDU/CSU für unsere Analysen, verwenden im Beitrag jedoch CDU als Überbegriff für die beiden Unionsparteien.
      • 3In den Daten aus dem Open-Source-Repository von Felix Bolte fehlen 20 Wahlen, insbesondere in den Anfängen des Wahl-O-Mats bis zum Jahre 2009.
      • 4 Die Manhattan-Distanz ist ein Proximitätsmaß, also ein Maß für die Nähe beziehungsweise Distanz für metrische Variablen. Sie wird in der Regel nicht für echte Distanzen eingesetzt, sondern für Abstände von Variablen, zum Beispiel in Stichproben.
      • 5 Wir normieren die Manhattan-Distanz mit Hilfe der Zahl der zu beantwortenden Fragen in jeder spezifischen Ausgabe des Wahl-O-Mats. Eine Analyse verwandter Kennzahlen mit Hilfe z. B. von einem Verfahren mit Dummy-Variablen oder der Berechnung der euklidischen Distanz liefert keine anderen Erkenntnisse.
      • 6 Zwar schließt der Wahl-O-Mat auch die Europawahl mit ein. Diese entfernen wir jedoch aus dem Datensatz, um nur die auf Deutschland bezogenen Beobachtungen auf Bundes- und Landesebene zu untersuchen.
      • 7 Zudem zeichnen wir eine lineare Regressionslinie für jede Parteikombination in die jeweiligen Abbildungen ein, um die Dynamik der Parteipositionen im Zeitverlauf zu verdeutlichen.
      • 8 Für die Jahre von 2002 bis 2007 nutzen wir die Werte der PDS, welche 2007 in der Neugründung der Partei Die Linke aufgegangen ist, für unsere Analyse.

Literatur

Bolte, F. (2024). GitHub - gockelhahn/qual-o-mat-data: JSON data from Wahl-O-Mat. GitHub.

Debus, M. (2009). Analysing Party Politics in Germany with new Approaches for Estimating Policy Preferences of Political Actors. German Politics, 18(3), 281–300.

Debus, M. (2022). Parteienwettbewerb und Wahrscheinlichkeit verschiedener Koalitionsoptionen bei der Bundestagswahl 2021. Politische Vierteljahresschrift, 63(1), 73–88.

Fratzscher, M. (2024). AfD und BSW in Thüringen und Sachsen: Regierungsverantwortung wäre ein gefährliches Experiment. DIW aktuell, 95. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Jolly, S., Bakker, R., Hooghe, L., Marks, G., Polk, J., Rovny, J., Steenbergen, M. & Vachudova, M. A. (2022). Chapel Hill Expert Survey Trend File, 1999–2019. Electoral Studies, 75, 102420.

Plasa, W. (2024). Die Verengung der politischen Bandbreite. In W. Plasa (Hrsg.), Die verkommene Demokratie: Wie man regiert, ohne sich vom Volk reinreden zu lassen (S. 191–210). Springer.

Wagschal, U. & König, P. (2014). Alle gleich? Analyse der programmatischen Parteienunterschiede bei Bundestagswahlen auf der Basis des Wahl-O-Mats. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 45(4), 865–884.

Wieland, F. (2024). Party Proximities in Voting Advice Applications– Identifying Structural Breaks in Data from the German Wahl-O-Mat. Statistics, Politics and Policy.

Title:Party Positions: Rapprochement in the Middle and Increasing Distance to the AfD

Abstract:As fringe parties increasingly capture a larger portion of the votes, the issue of how centrist parties can set themselves apart from these extremes while establishing distinct characteristics has become more prominent in public and political debates. Despite analyses of programmatic overlaps between various parties indicating a separation of centrist parties from the far-right AfD (Alternative for Germany), there is no clear evidence that centrist parties hold uniquely defined stances among themselves. In this context, we have not observed a sharpening of the programmatic profiles of centrist parties since 2002.

Beitrag als PDF

© Der/die Autor:in 2024

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2024-0220

Mehr zu diesem Thema bei EconBiz