Im Mai 2024 jährte sich der EU-Beitritt von Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn – zusammen der sogenannte Visegrád-Bund – sowie Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Malta und Zypern zum zwanzigsten Mal. Daran anschließend fanden im Juni 2024 die Europawahlen für die Neubesetzung des Europäischen Parlaments statt. Die nationalen Wahlsiege im Jahr 2023 von Donald Tusks Bündnis in Polen und von Petr Pavel in Tschechien sowie die hohe Relevanz der NATO lassen unabhängig vom Ausgang der Europawahlen hoffen, dass die proeuropäische Ausrichtung des Visegrád-Bundes aus dessen Gründungszeit zu Beginn der 1990er Jahre zurückkehrt (Zachová, 2023).
Im Konvergenzbericht der Europäischen Kommission wird alle zwei Jahre über den Fortschritt für eine potenzielle Einführung des Euro berichtet (EU-Kommission, 2022). Geprüft wird dabei, ob der Umsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion ausreichend nachgekommen wird. Dieser Konvergenzbericht konzentriert sich vor allem darauf, ob die einzelnen Mitgliedstaaten die Konvergenzkriterien Preisstabilität, Tragfähigkeit der öffentlichen Hand, Wechselkursstabilität und Konvergenz der Langfristzinssätze erfüllen. Andere interessante Konvergenzindikatoren, wie Einkommen, Produktivität, Lohnstückkosten oder die Lohnquote, bleiben jedoch unberücksichtigt. Dabei ist der Vergleich der Lohnstückkosten und der Lohnquote informativ für die Beurteilung, ob sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer annähert. Zudem wird für die Bevölkerung beispielsweise in den Visegrád-Staaten eine Annäherung des Einkommens- und damit Wohlstandsniveaus sicherlich mitbestimmend dafür sein, ob sie sich zum europäischen Einigungsprozess zugehörig fühlt und eher proeuropäisch stimmt oder nicht.
Dieser Aufsatz analysiert für die Jahre 1995 bis einschließlich 2023 die Entwicklung der Lohnstückkosten auf Stundenbasis im verarbeitenden Gewerbe. Dieses wird betrachtet, weil sich die außenwirtschaftlichen Verflechtungen auf den Handel mit Industriegütern konzentrieren. Die Lohnstückkosten ergeben sich gemäß Formel (1):
(1) Lohnstückkosten = Arbeitnehmerentgelte je Beschäftigtenstunde / reale Arbeitsstundenproduktivität
Die Arbeitnehmerentgelte umfassen die Arbeitskosten für Unternehmen, da sie die Bruttolöhne und -gehälter sowie die Sozialbeiträge der Arbeitgeber enthalten. Gleichzeitig sind sie ein Indikator für das Wohlstands- und Einkommensniveau in einem Land. Denn die Produktivitätsfortschritte im verarbeitenden Gewerbe werden zu einem gewissen Grad in das Lohngefüge der gesamten Volkswirtschaft übertragen (Balassa, 1964; Samuelson, 1964). In Formel (1) ist die reale Arbeitsstundenproduktivität als reale Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde enthalten. Betrachtet man statt der realen die nominale Wertschöpfung, erhält man die realen Lohnstückkosten, die näherungsweise die Arbeitseinkommensquote darstellen. Im Folgenden wird für die realen Lohnstückkosten der Begriff Lohnquote auf Stundenbasis gemäß Gleichung (2) verwendet:
(2) Lohnquote = Arbeitnehmerentgelte je Beschäftigtenstunde / nominale Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde
Das Bindeglied zwischen Lohnstückkosten und Lohnquote ist somit die Preisentwicklung, die hier mit dem Deflator bezogen auf die Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe gemessen wird.
Im Folgenden wird ein möglicher Konvergenzprozess seit 2004 zwischen den vier Visegrád-Ländern sowie Ostdeutschland mit Frankreich und Westdeutschland als Benchmarks betrachtet.1
Streuung der Lohnquote sank in den vergangenen 20 Jahren
Gegenüber dem Beitrittsjahr 2004 hat sich die Streuung zwischen den Lohnquoten der Visegrád-Länder, den zwei deutschen Landesteilen und Frankreich deutlich verringert (vgl. Abbildung 1). Der Durchschnitt der Lohnquoten sank in den betrachteten Regionen von 61,5 % vor dem EU-Beitritt (1995) bis zum Beitritt auf 57,1 % (2004), veränderte sich danach jedoch kaum (2023: 57,2 %). Gleichzeitig streute die Lohnquote 2023 von 51,1 % (Ungarn) bis 63,0 % (Frankreich) nur mehr in einer Spanne von 12 Prozentpunkten. 1995 waren es noch 20 Prozentpunkte (von 53,6 % in Tschechien bis 73,8 % in Deutschland) und 2004 ebenso viel (von 49,3 % in der Slowakei bis 70,8 % in (West-)Deutschland). Insgesamt sind die Lohnquoten in den Visegrád-Ländern Polen (2004 bis 2023: +5,1 Prozentpunkte), Tschechien (+1,7 Prozentpunkte) und Slowakei (+2,0 Prozentpunkte) seit dem EU-Beitritt erkennbar gestiegen und haben sich Ostdeutschland angenähert, liegen jedoch nach wie vor unter denen von Frankreich und Westdeutschland.
Abbildung 1
Lohnquote auf Stundenbasis im verarbeitenden Gewerbe
Quelle: Eurostat (Stand: April 2024), VGRdL (Stand: April 2024), Institut der deutschen Wirtschaft.
Konvergenz der Lohnstückkosten im verarbeitenden Gewerbe deutlich
In Ostdeutschland sowie in den Visegrád-Ländern waren die Arbeitskostensteigerungen und Arbeitsproduktivitätsänderungen deutlich größer als in Westdeutschland und in Frankreich. Damit spricht einiges für einen noch nicht abgeschlossenen Konvergenzprozess der Wettbewerbsfähigkeit im verarbeitenden Gewerbe der betrachteten Länder und Regionen.
Die Lohnquoten haben sich einander angenähert. Deutliche Unterschiede gibt es jedoch in den Komponenten der Lohnquote. Das zeigt sich besonders bei der Preisentwicklung. Einerseits stiegen die Preise in Frankreich, Deutschland und der Slowakei in den beiden Dekaden von 1995 bis 2014 nur moderat oder sanken sogar. Andererseits gab es in Tschechien und vor allem in Polen und Ungarn starke Preisanstiege in der Dekade vor dem EU-Beitritt. Auch die Wechselkursanpassungen der nationalen Währungen gegenüber dem Euro waren in der letztgenannten Dreiergruppe hoch, wodurch in Polen und Ungarn der in Euro gerechnete Preisauftrieb stark gedämpft wurde. Die Spanne in der Preisentwicklung unter den betrachteten Ländern war somit besonders in der Dekade vor und unmittelbar nach dem EU-Beitritt besonders hoch. So stiegen die Preise in der Slowakei, dem bisher einzigen zum Euroraum gehörenden Visegrád-Land, zwischen 1995 und 2004 nur um jahresdurchschnittlich 0,4 Punkte und gingen von 2004 bis 2014 dann sogar um jährlich mehr als 2 Punkte zurück (vgl. Tabelle 1)2. In Ungarn stiegen die Preise dagegen in der Dekade vor dem EU-Beitritt um 7,8 Punkte pro Jahr und legten in der Folgedekade noch immer um jährlich knapp 4 Punkte zu. Polen verzeichnete vor dem EU-Beitritt hohe Preisanstiege (+6,3 Punkte pro Jahr), während die Preise in der Dekade danach zurückgingen (-0,7 Punkte pro Jahr). In Tschechien stiegen die Preise vor dem EU-Beitritt um jährlich 3 Punkte, während sie in den zehn Jahren danach um 1,4 Punkte pro Jahr sanken. Im Vergleich dazu gingen die Preise in Frankreich in beiden Dekaden leicht zurück, während sie in Deutschland zuerst annähernd konstant blieben und dann moderat anstiegen. In der letzten Dekade von 2014 bis 2023 nahm die Preisdynamik in den Visegrád-Ländern wieder zu, wobei sich die Werte bei einer Spanne zwischen 1,6 Punkten (Tschechien) und 5,9 Punkten (Ungarn) einander annäherten. Auch in Frankreich (+2,0 Punkte pro Jahr) und Deutschland (+2,2 Punkte) fiel die Preisdynamik höher aus als in der Vorperiode.
Tabelle 1
Zerlegung der Lohnquote auf Stundenbasis im verarbeitenden Gewerbe
1995 bis 20041 | 2004 bis 2014 | 2014 bis 2023 | |||||
---|---|---|---|---|---|---|---|
Land | Komponente | NW | ECU/Euro | NW | Euro | NW | Euro |
Frankreich | + Ø Arbeitnehmerentgelte je Stunde | 2,92 | 2,86 | 2,77 | 1,51 | ||
- reale Arbeitsstundenproduktivität | 4,06 | 4,06 | 2,40 | 0,10 | |||
= Lohnstückkosten | -1,14 | -1,20 | 0,37 | 1,42 | |||
- Preise | -0,80 | -0,85 | 0,232 | 2,04 | |||
= Lohnquote | -0,35 | -0,35 | 0,59 | -0,62 | |||
Deutschland | + Ø Arbeitnehmerentgelte je Stunde | 2,27 | 1,79 | 2,29 | 2,75 | ||
- reale Arbeitsstundenproduktivität | 2,63 | 2,63 | 1,99 | 1,43 | |||
= Lohnstückkosten | -0,37 | -0,84 | 0,30 | 1,33 | |||
- Preise | 0,17 | -0,30 | 0,77 | 2,15 | |||
= Lohnquote | -0,54 | -0,54 | -0,47 | -0,82 | |||
Westdeutschland | + Ø Arbeitnehmerentgelte je Stunde | 1,59 | 2,30 | 2,59 | |||
- reale Arbeitsstundenproduktivität | 2,08 | 2,03 | 1,25 | ||||
= Lohnstückkosten | -0,48 | 0,27 | 1,34 | ||||
- Preise | 0,29 | 0,80 | 2,12 | ||||
= Lohnquote | -0,78 | -0,54 | -0,78 | ||||
Ostdeutschland | + Ø Arbeitnehmerentgelte je Stunde | 1,93 | 2,58 | 3,94 | |||
- reale Arbeitsstundenproduktivität | 4,54 | 1,89 | 2,71 | ||||
= Lohnstückkosten | -2,60 | 0,68 | 1,23 | ||||
- Preise | -0,23 | 0,50 | 2,33 | ||||
= Lohnquote | -2,37 | 0,18 | -1,10 | ||||
Polen | + Ø Arbeitnehmerentgelte je Stunde | 10,15 | 6,19 | 5,04 | 5,83 | 7,92 | 7,01 |
- reale Arbeitsstundenproduktivität | 4,70 | 4,70 | 6,35 | 6,35 | 2,69 | 2,69 | |
= Lohnstückkosten | 5,45 | 1,49 | -1,32 | -0,53 | 5,24 | 4,32 | |
- Preise | 6,32 | 2,36 | -0,74 | 0,05 | 3,56 | 2,64 | |
= Lohnquote | -0,87 | -0,87 | -0,57 | -0,57 | 1,68 | 1,68 | |
Tschechien | + Ø Arbeitnehmerentgelte je Stunde | 9,16 | 10,09 | 3,22 | 4,69 | 5,62 | 7,14 |
- reale Arbeitsstundenproduktivität | 5,61 | 5,61 | 5,27 | 5,27 | 3,03 | 3,03 | |
= Lohnstückkosten | 3,54 | 4,48 | -2,05 | -0,58 | 2,59 | 4,11 | |
- Preise | 2,97 | 3,91 | -1,40 | 0,06 | 1,55 | 3,07 | |
= Lohnquote | 0,58 | 0,58 | -0,64 | -0,64 | 1,04 | 1,04 | |
Slowakei | + Ø Arbeitnehmerentgelte je Stunde | 9,68 | 9,35 | 5,22 | 8,06 | 6,35 | |
- reale Arbeitsstundenproduktivität | 11,16 | 11,16 | 7,14 | 7,14 | 3,63 | ||
= Lohnstückkosten | -1,49 | -1,81 | -1,92 | 0,92 | 2,72 | ||
- Preise | 0,38 | 0,05 | -2,35 | 0,49 | 2,76 | ||
= Lohnquote | -1,86 | -1,86 | 0,44 | 0,44 | -0,05 | ||
Ungarn | + Ø Arbeitnehmerentgelte je Stunde | 11,94 | 7,22 | 5,36 | 3,31 | 8,07 | 5,71 |
- reale Arbeitsstundenproduktivität | 6,25 | 6,25 | 2,51 | 2,51 | 1,01 | 1,01 | |
= Lohnstückkosten | 5,69 | 0,97 | 2,85 | 0,81 | 7,06 | 4,70 | |
- Preise | 7,79 | 3,07 | 3,91 | 1,86 | 5,94 | 3,58 | |
= Lohnquote | -2,10 | -2,10 | -1,05 | -1,05 | 1,12 | 1,12 |
1 2000-2004 für Westdeutschland (ohne Berlin) und Ostdeutschland (mit Berlin), da die Arbeitsstunden in der VGRdL erst ab 2000 verfügbar sind. NW: Nationale Währung, ECU: European Currency Unit. Veränderung in log-Punkten über eine Periode (1 log Punkt von x = 100 * Δln(x) ≈ % Veränderung). Die Arbeitsproduktivität ist die reale Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde. Die Lohnstückkosten sind Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmerstunde dividiert durch die reale Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigenstunde. Die Veränderung der Preise entspricht der Veränderung des Wertschöpfungs-Deflators für das verarbeitende Gewerbe. Die Länderdaten beruhen auf Eurostat-Daten (Stand: April 2024) und die Regionaldaten für Ost- und Westdeutschland auf VGRdL-Daten (Stand: April 2024).
Quelle: Eurostat, VGRdL, Institut der deutschen Wirtschaft.
In den gestiegenen Preisen der Beitrittsländer drückt sich zum Teil aus, dass mit steigendem Wohlstandsniveau auch das Preisniveau ansteigt. Dies gilt jedoch vorrangig für die Lebenshaltungskosten der privaten Haushalte sowie für die Zunahme der Arbeitskosten. Denn auch die Beschäftigten in Dienstleistungsberufen wollen am Produktivitätsfortschritt teilhaben und können deshalb ebenfalls höhere Löhne einfordern. Bis zum EU-Beitritt ist in den Visegrád-Ländern außer in der Slowakei auch der Deflator für die Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes deutlich gestiegen. Bezogen auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit konnte dies durch Abwertungen der nationalen Währungen in Polen und Ungarn ausgeglichen oder zumindest abgemildert werden, wie ein Blick auf die Lohnstückkostenentwicklung zeigt. So stiegen in Polen und Ungarn die Lohnstückkosten in Landeswährung gerechnet zwischen 1995 und 2004 pro Jahr um 5,5 bzw. 5,7 Punkte, auf Eurobasis gerechnet war der Anstieg dagegen moderat mit durchschnittlich einem Punkt jährlich. Die Slowakei konnte ihre Lohnstückkosten sowohl auf Nationalwährungsbasis als auch auf Eurobasis gerechnet deutlich senken. Die Tschechische Krone wertete dagegen in diesem Zeitraum sogar auf, sodass dort in der Dekade vor dem EU-Beitritt die Lohnstückkosten auf Eurobasis um 4,5 Punkte stiegen. In der Dekade nach dem EU-Beitritt gingen die Lohnstückkosten auf Nationalwährungsbasis in allen Visegrád-Ländern bis auf Ungarn zurück. In diesem Zeitraum werteten die drei betrachteten Nicht-Euro-Länder und die Slowakei bis zur Einführung des Euro im Jahr 2009 auch gegenüber dem Euro auf. Die Slowakischen Lohnstückkosten stiegen dadurch auf Eurobasis leicht an. In der letzten Dekade von 2014 bis 2023 kam es wieder zu deutlichen Anstiegen des Deflators und der Lohnstückkosten, die in den Visegrád-Ländern auf Eurobasis zwischen 2,6 und 4,7 Punkten pro Jahr lagen. Somit verschlechterte sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Visegrád-Länder gegenüber Deutschland und Frankreich, wo die Lohnstückkosten lediglich um 1,3 bzw. 1,4 Punkte pro Jahr stiegen.
Die Lohnstückkosten steigen auf Nationalwährungsbasis, wenn die Arbeitskosten je Stunde schneller steigen als die auf die Erwerbstätigenstunde gerechnete Produktivität. Die stark steigenden Lohnstückkosten deuten daher auch auf eine hohe Dynamik bei den Arbeitskosten hin. Tatsächlich sind in fast allen Visegrád-Ländern die Arbeitskosten je Stunde in der Dekade vor dem EU-Beitritt im Jahresdurchschnitt im zweistelligen Bereich gewachsen. Nur Tschechien und die Slowakei verfehlten diese Marke mit Anstiegen von 9,2 bzw. 9,7 Punkten pro Jahr knapp. In der Dekade nach dem EU-Beitritt war die Arbeitskostendynamik weit schwächer und lag in den Visegrád-Ländern zwischen gut 3 Punkten (Tschechien) und gut 5 Punkten (Polen, Slowakei und Ungarn). In der letzten Dekade (2014 bis 2023) legten die Arbeitskosten dann wieder beschleunigt zu: Die Steigerungsrate lag zwischen rund 6 Punkten (Tschechien und Slowakei) und um die 8 Punkte (Polen und Ungarn). Zu berücksichtigen sind hier auch die Anstiege der Inflation, die in Verbindung mit den weltweiten Lieferengpässen und den Energiepreisanstiegen im Zuge des Kriegs in der Ukraine stehen. Gleichwohl blieb die Arbeitskostendynamik in Deutschland (2,8 Punkte pro Jahr) und in Frankreich (1,5 Punkte) weit hinter diesen Werten zurück.
Die hohen Anstiege der Arbeitskosten wurden in den Visegrád-Ländern durch große Zuwächse bei der Produktivität abgemildert oder sogar vollkommen kompensiert. So stieg auf Stundenbasis gerechnet die Produktivität in der Slowakei in der Dekade vor dem EU-Beitritt um mehr als 11 Punkte pro Jahr und damit noch schneller als die Arbeitskosten. Dies war auch in der Dekade nach dem EU-Beitritt der Fall, als die Produktivität dort immerhin gut 7 Punkte pro Jahr zulegte. In Polen, Tschechien und Ungarn lag der Produktivitätsfortschritt im Zeitraum von 1995 bis 2004 mit 4,7, 5,6 und 6,3 Punkten pro Jahr deutlich niedriger, aber gleichzeitig deutlich höher als in Deutschland (2,6 Punkte) und in Frankreich (4,1 Punkte). Polen und Tschechien konnten dieses Tempo zudem in der Dekade nach dem EU-Beitritt halten – lediglich Ungarn fiel deutlich zurück. Deutlich verlangsamt hat sich das Produktivitätswachstum in der letzten Dekade. In diesem Zeitraum wurden nur noch Zuwächse zwischen 1,0 Punkten (Ungarn) und 3,6 Punkten (Slowakei) erreicht.
Arbeitskosten- und Produktivitätsniveau: Visegrád-Länder inzwischen im Bereich der EU15
Die hohen Produktivitätssteigerungsraten der Visegrád-Länder haben auch zu einer Konvergenz hinsichtlich Arbeitskosten und Stundenproduktivität – jeweils in Euro je Stunde gerechnet – gegenüber Westdeutschland geführt (vgl. Abbildung 2). So betrugen die Arbeitskosten Tschechiens im Beitrittsjahr nur gut 15 % des westdeutschen Kostenniveaus. Dieser Prozentsatz ist mit 31 % jetzt doppelt so hoch. Noch dynamischer verlief der Aufholprozess in der Slowakei, das sein Kostenniveau von 12 % auf 29 % steigerte und dabei Ungarn deutlich überholte. Zum Vergleich lag das Kostenniveau in Griechenland zuletzt bei 21 % und in Portugal bei 27 % des westdeutschen Niveaus. Somit haben Tschechien und die Slowakei inzwischen diese beiden Länder überholt. Ungarn hat sich zwischen Griechenland und Portugal einsortiert und Polen liegt mit einem relativen Kostenniveau von 20 % nur noch knapp hinter Griechenland. Auch Ostdeutschland hat sich gegenüber Westdeutschland verteuert. War eine Arbeitsstunde dort im Jahr 2004 noch für 65 % des Westniveaus zu haben, sind es heute 75 %.
Abbildung 2
Arbeitskosten und Arbeitsproduktivität je Stunde im verarbeitenden Gewerbe
Westdeutschland = 100 %
Quelle: Eurostat (Stand: April 2024), VGRdL (Stand: April 2024), Institut der deutschen Wirtschaft.
Damit geht einher, dass das Lohnstückkostenniveau in Ostdeutschland niedriger ist als in Westdeutschland. Denn bei der zu Preisen und Wechselkursen von 2023 bewerteten Produktivität hat Ostdeutschland inzwischen 79 % des Westniveaus erreicht. Auch alle Visegrád-Länder erwirtschaften bei der Produktivität im Vergleich zu Westdeutschland ein höheres Niveau als dies bei den Arbeitskosten der Fall ist. Somit produzieren sie zu einem niedrigeren Lohnstückkostenniveau als Westdeutschland. Besonders hervorgetan hat sich wiederum die Slowakei. Betrug dort im Beitrittsjahr die Produktivität zu den damaligen Preisen und Wechselkursen bewertet knapp ein Fünftel des Westniveaus, hat sich diese Relation inzwischen auf gut zwei Fünftel verdoppelt. Auch wenn die Branchenstruktur unterschiedlich ist und daher Niveauvergleiche nur eingeschränkt aussagekräftig sind, haben die Visegrád-Länder somit bei den Arbeitskosten noch immer einen deutlichen Standortvorteil. Bleibt es beim bisherigen Konvergenztempo wird es noch rund 30 weitere Jahre dauern bis das erste Visegárd-Land die Hälfte des westdeutschen Kostenniveaus erreicht. Besonders lohnend sind daher Investitionen, die es ermöglichen, das heimische Produktivitätsniveau zumindest annähernd zu übertragen, um so ein niedriges Lohnstückkostenniveau erzielen zu können. Bei Investitionsentscheidungen sind allerdings nicht nur die Lohnstückkosten als wichtiger Indikator der preislichen Wettbewerbsfähigkeit relevant, sondern weitere Faktoren, wie die Infrastruktur, die Verfügbarkeit von Fachkräften und nicht zuletzt auch stabile und freiheitliche Rahmenbedingungen sowie offene Märkte.
Die deutlichen Produktivitätsfortschritte haben auch höhere Anstiege bei den Arbeitskosten verkraftbar gemacht. Diese sind wiederum eng mit den Anstiegen der Bruttolöhne je Stunde verbunden und stellen daher auch einen Einkommensindikator dar. Das Konvergenztempo erwies sich hier bisher als deutlich niedriger als zum Zeitpunkt der EU-Osterweiterung von der European Economic Advisory Group (EEAG) erhofft. Die EEAG hatte damals auf Grundlage eines Artikels von Barro und Sala-i-Martin simuliert, dass sich die Unterschiede zum Arbeitskostenniveau der EU jedes Jahr um 2 % reduzieren würden (EEAG, 2004, 99 f.). Bei diesem Konvergenztempo hätte Tschechien aus damaliger Sicht Ende der 2030er Jahre als erstes Visegrád-Land 50 % des deutschen Kostenniveaus erreicht (Schröder, 2004). Tatsächlich betrug das Konvergenztempo in dieser Ländergruppe maximal nur 1,1 %, sodass die 50 %-Marke bei gleichbleibendem Tempo nicht vor Mitte der 2050er Jahre erreicht werden dürfte. Dies ist jedoch genau das Konvergenztempo, das in vorherigen Studien für den Zeitraum von 1963 bis 2000 für das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in der EU gemessen wurde (Sinn und Ochel, 2003). Aus Sicht einer proeuropäischen Politik ist zudem erfreulich, dass unter den Visegrád-Ländern die Slowakei, die bereits 2009 der Eurozone beigetreten ist, das schnellste Konvergenztempo vorlegt.
- 1 Für eine umfassende Analyse der Lohnquote und ihrer Komponenten seit den 1970er Jahren unter den bedeutendsten westeuropäischen Industriestandorten siehe Schröder und Seele (2024).
- 2 Alle Werte in der Tabelle und in den folgenden Ausführungen sind Veränderungen in log-Punkten, was approximiert prozentualen Veränderungen gleicht. In diesem Beitrag schreiben wir zu besseren Lesbarkeit statt log-Punkte nur Punkte für die Veränderungen.
Literatur
Balassa, B. (1964), The purchasing-power parity doctrine: a reappraisal, Journal of political Economy, 72(6), 584-596.
EU-Kommission (2022), Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Konvergenzbericht 2022 (Bericht nach Artikel 140 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union).
EEAG – European Economic Advisory Group (2004), Report on the European Economy 2004.
Samuelson, P. A. (1964), Theoretical notes on trade problems, The review of economics and statistics, 145-154.
Schröder, C. (2004), Die industriellen Arbeitskosten der EU-Beitrittskandidaten, IW-Trends, 31(1), 1-9.
Schröder, C. und S. Seele (2024), Lohnquoten und Lohnstückkosten in Hochinflationsphasen, IW-Trends, 51(1), 19-26.
Sinn, H.-W. und W. Ochel (2003), Social Union, Convergence and Migration, CESIFO Working Paper, 961.
Zachová, A. (2023), Tschechischer Präsident: Visegrad muss wieder „pro-europäisch“ werden – Euractiv DE, Euractiv.