2004 war ein Maifeiertag wie kein anderer. Zehn Länder traten zum 1. Mai der EU bei, was einen noch nie dagewesenen Sprung in der Zahl der Mitgliedstaaten bedeutete und die EU-Bevölkerung um fast 75 Mio. Menschen vergrößerte, von denen etwas mehr als die Hälfte allein aus Polen kam. 2008 kamen Bulgarien und Rumänien hinzu, was weitere 28 Mio. Menschen zu EU-Bürgern machte. Von den fast 500 Mio. Einwohnern der damaligen EU lebten mehr als ein Fünftel in einem der zwölf neuen Mitgliedstaaten (NMS). Die bloße Zahl der Einwohner unterschätzt jedoch die Tragweite dieses Ereignisses. Abgesehen von Zypern und Malta1 waren alle Beitrittsländer erst kurz zuvor aus dem politischen Schatten der Sowjetunion – zu der die drei baltischen Staaten auch gehörten – herausgetreten und hatten sich in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedliche Weise von der zentralen Wirtschaftsplanung verabschiedet. Alle hatten einen mehr oder weniger großen Transformationsschock erlitten. Das Pro-Kopf-Einkommen lag ganz erheblich unter dem Durchschnitt der EU15. Das enorme Ausmaß des Ereignisses blieb den Zeitgenossen in den alten und neuen Mitgliedstaaten nicht verborgen.
In den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern hoffte man, dass der Beitritt zur EU, die Teilnahme am Binnenmarkt und auch am Euroraum den Lebensstandard nach den in manchen Fällen traumatischen Erfahrungen der 1990er Jahre erhöhen würde. Öffentliche Mittel zur Verbesserung der Infrastruktur und private Investitionen zur Modernisierung und Erweiterung des Kapitalstocks, zur Steigerung der Produktivität und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen würden in Anspruch genommen werden. Der Zugang zu einem großen Markt würde dazu beitragen, Größenvorteile zu erzielen, während bessere Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten im Ausland die Qualifikationen verbessern würden. Sorge bereiteten vor allem eine ausländische Vorherrschaft in Schlüsselunternehmen und -sektoren – über das hinaus, was bereits während des Privatisierungsprozesses in einigen Ländern geschehen war – und nicht zuletzt, dass Agrarland in ausländischen Besitz fallen könnte.
In den alten Mitgliedstaaten hofften die Unternehmen auf Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften und Investitionsmöglichkeiten, die es ihnen ermöglichen würden, ihre Lieferketten neu zu gestalten. Der Acquis communautaire sollte einen ungehemmten Wettbewerb um Sozial- und Umweltstandards durch Unternehmen aus den NMS verhindern. Die größte Befürchtung war, dass der Zuzug von Arbeitskräften den Wettbewerb am unteren Ende der westlichen Arbeitsmärkte verschärfen würde, was die ohnehin schon zunehmende Ungleichheit noch verstärken würde. Der berühmt-berüchtigte „polnische Klempner“ wurde als Bedrohung für kleine Unternehmen (und letztlich auch für die Steuereinnahmen) angesehen, während in einigen Kreisen die Gefahr eines „Wohlfahrtstourismus“ angeführt wurde. Für die beiden wichtigsten Punkte, den Erwerb von Grundstücken und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, wurden Übergangsfristen festgelegt. Die EU15-Länder konnten den Zugang zum Arbeitsmarkt für bis zu sieben Jahre beschränken, wovon insbesondere Deutschland und Österreich, nicht aber Irland, das Vereinigte Königreich und Schweden Gebrauch machten (Galgóczi et al., 2009a). Ebenso war eine erst schrittweise Einführung des Erwerbs von Ackerland erlaubt.
Wir konzentrieren uns im Folgenden auf soziale und arbeitsmarktpolitische Fragen: Haben sich die Hoffnungen und Befürchtungen bewahrheitet? Welche politischen Maßnahmen wurden ergriffen, um soziale und arbeitsmarktpolitische Probleme zu lösen? Welche Anhaltspunkte lassen sich aus den Erfahrungen für künftige Osterweiterungen ableiten?
Ergebnisse nach 2004
Eine umfassende Bewertung der Entwicklungen nach dem Beitritt würde die Berücksichtigung einer Vielzahl von Themen erfordern (Andor, 2019; Landesmann und Székely, 2021). Wir konzentrieren uns hier auf einige wichtige quantitative und qualitative Indikatoren.
Am offensichtlichsten und aus wirtschaftlicher Sicht am bedeutensten ist die ganz erhebliche Konvergenz des Pro-Kopf-Outputs. Die Konvergenz mit einem Trend nach oben war eine Flut, die alle Boote der ost-und mitteleuropäischen (OME) Länder anhob, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße (vgl. Abbildung 1). Die Spanne des Pro-Kopf-BIP unter Berücksichtigung von Preisniveauunterschieden im Vergleich zur alten EU15 ist von knapp 30 % bis 75 % auf über 60 % bis fast 90 % gestiegen. Länder wie Litauen, Rumänien und Polen, haben sich in dieser Hinsicht stark verbessert, andere, wie die Slowakei und Ungarn, weniger. Die einzelnen Länder haben zu unterschiedlichen Zeiten besser abgeschnitten, aber im Allgemeinen zeigt sich ein Muster, bei dem sich ein zunächst rascher Aufholprozess nach der globalen Finanz- und Eurokrise deutlich verlangsamte, in den 2020er Jahren aber wieder beschleunigte; letztere Entwicklung spiegelt zum Teil die schwache Leistung Westeuropas wider. Die Zahlen zum Pro-Kopf-BIP geben allerdings ein übertriebenes Bild der Konvergenz des Lebensstandards wieder. Ein großer Teil der Gewinne, die durch die beträchtlichen ausländischen Direktinvestitionen der Vergangenheit erzielt wurden, wird repatriiert und kommt eher dem ausländischen als dem inländischen Verbrauch zugute.
Abbildung 1
Pro-Kopf-BIP in % der EU15 zu Kaufkraftparitäten
Quelle: AMECO.
Es steht allerdings zu befürchten, dass die OME-Länder eine Version der „middle-income-traps“ erleben könnten. Bykova et al. (2021) verweisen auf die übermäßige Abhängigkeit von ausländischen Direktinvestitionen und ein Niedriglohn-Niedrigsteuer-Modell. Die daraus resultierende Erosion der öffentlichen Dienstleistungen (insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswesen) sowie die unzureichende Entwicklung der Infrastruktur stellen infrage, ob sie den Übergang zu einem neuen und nachhaltigen Wirtschaftsmodell auf der Grundlage einer höheren Wertschöpfung schaffen können.
Die anfänglich großen Einkommensunterschiede führten erwartungsgemäß zu einer erheblichen Abwanderung von Arbeitskräften. Die Zahlen sind aufgrund der weit verbreiteten Kurzaufenthalte und Rückwanderungen (zirkulärer Migration) ungenau. Als Anhaltspunkt lässt sich jedoch sagen, dass im Jahr 2007 1 Mio. Bürger aus den 8 OME-Beitrittsländern zusätzlich in der EU15 registriert waren, verglichen mit dem Jahr 2004 – und mindestens ebenso viele aus Bulgarien und Rumänien (also schon vor deren Beitritt; European Integration Consortium, 2019, 1). Mit der Angleichung der Einkommens- und damit auch der Lohnniveaus und im Zuge der Wirtschaftskrise in West- und Südeuropa haben sich diese Ströme teilweise umgekehrt. Nach dem Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich wurde eine verstärkte Rückwanderung nach Polen, aber auch nach Estland beobachtet, was auf das erhebliche Wachstumsgefälle zwischen diesen Ländern und den früheren Zielländern und damit verbesserte Einkommenschancen im Ursprungsland zurückzuführen ist. Die Bevölkerungsstatistiken zeigen jedoch immer noch die Spuren der Abwanderung. Während sich die Mobilität innerhalb der EU positiv auf die Demografie der älteren EU-Mitgliedstaaten auswirkte, verschärfte sie im Osten die Probleme, die sich aus den niedrigen Geburtenraten und der kürzeren Lebenserwartung ergeben. Der Bevölkerungsrückgang wurde zum allgemeinen Muster in den „neuen“ Mitgliedstaaten im Osten.
In Bezug auf die Gesamtbevölkerung zeigt Abbildung 2, dass vor dem Hintergrund eines bescheidenen Bevölkerungswachstums in der EU insgesamt (3,7%) zwischen 2004 und 2023 Litauen, Bulgarien und Lettland einen Bevölkerungsverlust von über 15 % zu verzeichnen hatten; Rumänien und das später hinzugekommene Kroatien verloren etwa 10 %, wobei Ungarn und Polen ebenfalls schrumpften. Griechenland war das einzige alte Mitgliedsland mit einem Bevölkerungsverlust. Abbildung 3 zeigt, dass der prozentuale Rückgang des Anteils der Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren zwischen 2004 und 2023 in den neuen Mitgliedstaaten deutlich stärker ausgeprägt ist als in den alten Mitgliedstaaten. Allerdings muss die Ausgangssituation in dieser Hinsicht günstiger gewesen sein, denn die Slowakei, Litauen, Ungarn und Polen haben im Jahr 2023 einen Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, der über dem Durchschnitt der EU27 liegt.
Abbildung 2
Veränderung der Bevölkerung, 2004 bis 2023
Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen.
Abbildung 3
Veränderung des Bevölkerungsanteils der 15- bis 64-Jährigen, 2004 bis 2023
Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen.
In den Beitrittsländern trug die Abwanderung zur Lösung einiger sozialer Probleme bei, da sie Menschen Chancen eröffnete, die in ihrem Heimatland keine angemessene Perspektive hatten. Sie erwarben im Ausland Sprachkenntnisse und andere Fähigkeiten, auch wenn viele von ihnen, zumindest anfangs, keine ihren Qualifikationen entsprechende Arbeit finden konnten.2 Aber aus europäischer Sicht war es suboptimal, wenn qualifizierte Ärzte und Ingenieure Obst pflückten und kellnerten. Und in den NMS begannen die Alarmglocken zu läuten, als sie feststellten, dass die Abwanderung schwerwiegende Auswirkungen auf bestimmte Sektoren oder Regionen hatte, wobei das Gesundheitswesen das größte Problem darstellte, da die Abwanderung nicht nur zu einem Mangel an Fachärzt:innen, sondern auch an Krankenhaus- und Pflegepersonal führte, was die Kapazität der nationalen Gesundheitsdienste stark beeinträchtigte. In einigen Ländern kam es auch zu schwerwiegenden regionalen Ungleichgewichten, häufig mit boomenden Hauptstädten aber verarmtem und entvölkertem Hinterland.
Diese Aspekte könnten eine teilweise Erklärung für den scheinbaren Widerspruch zwischen der Unterstützung für Anti-EU-Parteien und den günstigen makroökonomischen Daten in vielen Beitrittsländern bieten. Die Region hatte in diesem Zeitraum keinen allgemeinen Anstieg der Einkommensungleichheit zu verzeichnen (vgl. Abbildung 4), sodass dies keine plausible Erklärung ist.3 Zunächst ist anzumerken, dass Umfragen in den meisten OME-Ländern durchweg eine EU-freundliche Einstellung erkennen lassen (viel stärker als in einigen west- und nordeuropäischen Ländern). Die politische Unterstützung für nationalistische Parteien könnte zum Teil die Erfahrungen aus der Zeit vor dem Beitritt widerspiegeln, in der viele Bürger das Gefühl hatten, dass ihr nationales Erbe verhökert wurde und dass Ausländer wichtige Industriesektoren beherrschten. In diesem Sinne wird zwar anerkannt, dass die EU eine positive Rolle gespielt hat – und man ist sich der beträchtlichen Transfers bewusst, die sich auf 2 % bis 4 % des BIP belaufen (Grieveson, 2019) – aber, dass dies nur eine „teilweise Entschädigung“ für das frühere Trauma ist.
Abbildung 4
Gini-Index, 2004 bis 2021
Quelle: World Bank World Development Indicators.
In den EU15-Ländern wurde die Zuwanderung von Arbeitskräften durch die Übergangsregelungen gesteuert, was häufig Auswirkungen hatte, die von den politischen Entscheidungsträgern sicherlich nicht beabsichtigt waren. Die auffälligste Auswirkung war, dass die mobilsten, d. h. auch die jüngsten und qualifiziertesten Arbeitskräfte aus Mitteleuropa, die aus Gründen der Nähe (und bis zu einem gewissen Grad auch der Sprache) nach Deutschland und Österreich gegangen wären, verstärkt in das Vereinigte Königreich und nach Irland gingen. Im Jahr 2012 lebten im Vereinigten Königreich mehr als 700.000 OME-8-Bürger, während die Migranten aus den 2008 beigetretenen Ländern, Bulgarien und Rumänien, vor allem nach Italien und Spanien gingen, wo 2012 jeweils etwa 750.000 Personen aus diesen Ländern lebten (Galgóczi et al., 2012, 11-12).
Studien deuten darauf hin, dass selbst in Gebieten mit einer hohen Konzentration von Migranten aus den NMS die Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit und die allgemeinen Auswirkungen auf die Löhne begrenzt waren. Es ist jedoch plausibel, dass es einen dämpfenden Effekt auf die Entwicklung der Niedriglöhne gab, und die genauen Kausalkanäle schwer zu entschlüsseln sind. Die Erweiterung – einschließlich der damit glaubwürdigen Drohung die Produktion zu verlagern – hat mit Sicherheit dazu beigetragen, das sehr schwache deutsche Nominallohnwachstum in den frühen 2000er Jahren zu erklären. Der Wettbewerb um Arbeitsplätze und Löhne wirkte sich nicht zuletzt zu Ungunsten von Migranten von außerhalb der EU (und nicht zu Ungunsten einheimischer Arbeitnehmer) aus (European Integration Consortium 2009, 86 ff.). Als sich die Einkommensunterschiede schlossen, die Arbeitsmarktchancen in den Herkunftsländern verbesserten, während die südeuropäischen Zielländer und Irland von der Eurokrise und das Vereinigte Königreich vom Brexit betroffen waren, kam es zu erheblichen Rückwanderungsströmen.4
Was die Befürchtungen hinsichtlich eines Sozialleistungstourismus betrifft, so kam eine frühere detaillierte Studie, die sowohl deskriptive Statistiken als auch multivariate Regressionen verwendete, zu dem Schluss: “public concern about welfare abuse by immigrants is probably misplaced” (European Integration Consortium 2009, 113). Die Wahrscheinlichkeit, dass NMS-Zuwanderer beitragsabhängige Leistungen in Anspruch nahmen, war sicherlich geringer als bei Einheimischen, und das Bild hinsichtlich der beitragsunabhängigen Leistungen war gemischt und uneindeutig.
Die Politik reagiert
Neben der sehr wichtigen Rolle, die die Kohäsionsfonds und andere Nettotransfers aus dem Haushalt spielen, die in der Regel jährlich 2 % bis 4 % des Bruttonationaleinkommens ausmachten, wurde eine Reihe wichtiger sozialpolitischer Initiativen ergriffen, die vor allem auf Probleme im Zusammenhang mit der Erweiterung zurückzuführen sind.
Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern
Die erste große Debatte über die Ost-West-Arbeitsmobilität konzentrierte sich auf Arbeitnehmer, die von ihren Unternehmen vorübergehend von einem Land in ein anderes entsandt werden. Sie machen einen bescheidenen Anteil an der Gesamtbeschäftigung aus, der sich auf etwa 1,2 Mio. bis 1,5 Mio. Arbeitnehmer beläuft, hauptsächlich in arbeitsintensiven Sektoren wie dem Baugewerbe. Entsandte Arbeitnehmer sind per definitionem nicht in den lokalen Arbeitsmarkt und die Gesellschaft integriert und verbleiben in den Sozialversicherungssystemen des Heimatlandes. Das Entsendeland ist jedoch verpflichtet, die Beiträge (Rente, Arbeitslosigkeit usw.) auf transparente Weise einzuziehen – und dies gegebenenfalls gegenüber der Regierung des Aufnahmelandes nachzuweisen, um unlauteren Wettbewerb bei Sozialstandards vorzubeugen.
Um Missbrauch zu bekämpfen und die Umsetzung und Auslegung der bestehenden Richtlinie aus dem Jahr 1996 zu verbessern, legte die EU-Kommission 2012 eine Durchsetzungsrichtlinie vor, die zwei Jahre später verabschiedet wurde. Damit wurde die gesamtschuldnerische Haftung im Bausektor eingeführt, die Liste der möglichen Kontrollmaßnahmen präzisiert und die Nutzung von Briefkastenfirmen verboten. Zwar wurden weiterhin Bedenken geäußert, doch boten die neuen Rechtsvorschriften wesentliche Verbesserungen in der Praxis.
Über die bessere Durchsetzung der Rechte entsandter Arbeitnehmer hinaus wurde 2016 die Diskussion über gleiches Entgelt wieder aufgenommen und eine gezielte Überarbeitung der Richtlinie von 1996 eingeleitet, die sich an dem Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsplatz“ orientiert. Erklärtes Ziel war es, unter Wahrung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs für gerechte Löhne und gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen Entsendeunternehmen und lokalen Unternehmen in den Aufnahmeländern zu sorgen.
In der neuen (2018 verabschiedeten) Richtlinie wurde festgelegt, dass ab dem ersten Tag der Entsendung für entsandte Arbeitnehmer dieselben Vergütungsregelungen gelten wie für lokale Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat, und die Regeln für den Leistungsbezug wurden präzisiert. Außerdem wurde das Konzept der Langzeitentsendung eingeführt, wonach ein Arbeitnehmer für einen längeren Zeitraum entsandt werden kann und nach Ablauf von zwölf Monaten – nach einer anfänglichen sechsmonatigen Verlängerung – in fast jeder Hinsicht dem Arbeitsrecht des Aufnahmelandes unterliegt. Außerdem wurde vorgeschrieben, dass die Arbeitsagenturen in den Aufnahmeländern den entsandten Arbeitnehmern die gleichen Bedingungen garantieren müssen, wie sie für Gelegenheitsarbeiter gelten, die in dem Mitgliedstaat beschäftigt sind, in dem die Arbeit ausgeführt werden soll.
Europäische Arbeitsbehörde
Nach Kontroversen über „Sozialdumping“ und „Armutsmigration“ wollte die EU-Kommission das Narrativ über Freizügigkeit in Richtung „faire Mobilität“ verschieben. Um die Umsetzung von Arbeitsmarktregeln zu überwachen, schlug Kommissionspräsident Juncker 2017 die Einrichtung einer neuen EU-Agentur vor: die Europäische Arbeitsbehörde (ELA). Im September 2021 bezog die ELA ihren Sitz in Bratislava. Die Ziele der ELA waren: die wirksame Durchsetzung der EU-Vorschriften zu gewährleisten, klare, zugängliche und transparente Informationen für Bürger und Arbeitgeber bereitzustellen, die Verwaltungszusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in Fragen der grenzüberschreitenden Mobilität zu unterstützen und die Zersplitterung (sowohl in Bezug auf das Fachwissen als auch auf die Zuständigkeit für die Durchsetzung) zu überwinden.
Europäische Säule der sozialen Rechte (EPSR)
Ebenfalls im Jahr 2017 haben die Staats- und Regierungschefs der EU die Europäische Säule sozialer Rechte (EPSR) verabschiedet. Dabei ging es in erster Linie darum, sich zur Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des europäischen Sozialmodells zu verpflichten, nachdem dessen Belastbarkeit und Nachhaltigkeit in den Jahren der Wirtschaftskrise und der Sparmaßnahmen infrage gestellt worden war. Die EPSR mit ihren drei Kapiteln und 20 Grundsätzen war aber auch eine Botschaft an die neuen Mitgliedstaaten, die sich beispielsweise während der Debatten über die Entsendung von Arbeitnehmern offener für den britischen Ansatz zeigten, d. h. für eine minimalistische Auslegung des sozialen Europas. Bei den Gesprächen im Vorfeld der EPSR war vor allem Ungarn bestrebt, die Initiative so schwach wie möglich zu gestalten. Nichtsdestotrotz wurde die Konvergenz als gemeinsames Ziel hervorgehoben und die Kommission führte eine Scorecard ein, um die Fortschritte zu überwachen und Fälle aufzuzeigen, in denen sie nicht ausreichend sind.
NMS-spezifische Politik – Integration der Roma
Nach der Osterweiterung mussten auch einige Besonderheiten der neuen Mitgliedstaaten stärker in den Mittelpunkt der Debatten auf EU-Ebene gerückt werden. Als Reaktion auf die besonderen sozialen Bedingungen in den NMS begann die EU, der Ausgrenzung der Roma mehr Aufmerksamkeit zu widmen. 2011 wurde ein europäischer Rahmen für Roma-lntegrationsstrategien geschaffen, mit dem Ziel, vier Schlüsselbereiche zu überwachen: Beschäftigung, Bildung, Gesundheit und Wohnen. Die EU ermutigte auch die Mitgliedstaaten mit großen Roma-Minderheiten (insbesondere die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien), EU-Mittel einzusetzen, um die Kluft zwischen den sozialen Bedingungen der Roma und der Mehrheitsbevölkerung zu schließen. Die Fortschritte waren jedoch langsam und hingen weiterhin vom Engagement der lokalen und nationalen Akteure ab.
Die Mindestlohnrichtlinie
Die Schwäche des sozialen Dialogs und der kollektiven Tarifverhandlungen ist ein bemerkenswertes Merkmal des sozioökonomischen Modells in der gesamten OME-Raumes, ein Erbe sowohl der kommunistischen Vergangenheit als auch des Transformationsschocks. Die Europäische Mindestlohnrichtlinie von 2023, die neben der Gewährleistung angemessener Mindestlöhne auch ehrgeizige Ziele für die Tarifverhandlungsabdeckung (80 % der Arbeitnehmer:innen) festlegt, dürfte sich langfristig positiv auswirken, indem sie neoliberale Entwicklungspfade ausschließt und ein integrativeres Wachstumsmodell fördert. Die Richtlinie muss jedoch noch auf nationaler Ebene umgesetzt werden, und die Bestimmungen über die Abdeckung durch Tarifverhandlungen sind nicht verbindlich.
Zusammenfassende Bewertung
Die Begriffe „Sozialdumping‘‘ und „polnischer Klempner“ sind aus dem öffentlichen Diskurs in Westeuropa so gut wie verschwunden, was darauf hindeutet, dass die damit verbundenen Befürchtungen inzwischen weitgehend überholt sind. Da die Arbeitslosigkeit, anders als in weiten Teilen des Zeitraums seit 2004, nun auf einem jahrzehntelangen Tiefstand liegt und sich in vielen Ländern und Regionen ein Fachkräftemangel abzeichnet, hat sich die Debatte weiterentwickelt. Der Wohlfahrtstourismus in den Westen war kein ernsthaftes Problem – auch wenn es sicherlich Fälle gibt, die sich für eine Skandalisierung in den Medien eignen: Die Migranten sind in der Regel jung und die Familienangehörigen sind im Osten geblieben. Es stimmt, dass Kontroversen im Zusammenhang mit der Ost-West-Migration in den Debatten im Vorfeld des Brexit im Vereinigten Königreich eine Rolle spielten. Im öffentlichen Diskurs in vielen Teilen Westeuropas, insbesondere aber in Großbritannien, wurden die Probleme übertrieben und die Vorteile der EU-internen Arbeitskräftemobilität weitgehend verschwiegen, sodass der britischen Öffentlichkeit vor dem Referendum 2016 ein verzerrtes Bild vermittelt wurde. Andererseits gab es ernsthafte Probleme durch den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften im Osten. Und da viele Migranten zumindest anfangs unter ihrem Qualifikationsniveau arbeiteten, kam es insgesamt zu einer EU-weiten Fehlallokation von Arbeitskräften. Im ersten Jahrzehnt nach der Erweiterung von 2004 nahm etwa die Hälfte derjenigen, die zum Arbeiten von Ost nach West zogen, Arbeitsplätze an, die ein niedrigeres Qualifikationsniveau erforderten, in denen sie aber das Doppelte oder Dreifache dessen verdienten, was ohne Migration möglich gewesen wäre. Diese Diskrepanz hat sich im Laufe der Zeit verringert, was sowohl auf die Rückkehrmigration als auch darauf zurückzuführen ist, dass die OME-Arbeitnehmer:innen allmählich in Beschäftigungsbereiche vordringen, die ihren Qualifikationen besser entsprechen.
Von vielen Menschen in den Beitrittsländern wird die Integration als unvollständig empfunden: entweder, weil der Beitritt zum Binnenmarkt nicht mit dem Beitritt zur Eurozone gekoppelt wurde, oder wegen der Divergenz der Sozialmodelle und der fehlenden Konvergenz in Bezug auf die Arbeitsbeziehungen und den Wohlfahrtsstaat, oder wegen der Abweichungen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der damit verbundenen Korruptionsbilanz. Das Erleben solcher Erscheinungsformen des Ost-West-Gefälles kann dazu führen, dass man sich als „Bürger zweiter Klasse“ fühlt.
Auswirkungen auf künftige Erweiterungen
Anfang der 1990er Jahre öffneten sich die Staats- und Regierungschefs der EU für die Idee der Osterweiterung, wollten aber sicherstellen, dass der Beitritt auf der Grundlage vorher festgelegter Bedingungen (merit principle) erfolgt. Aus diesem Grund wurden 1993 die Kopenhagener Kriterien aufgestellt. Die strikte Anwendung dieses Ansatzes hätte jedoch zu einem langwierigen und schrittweisen Erweiterungsprozess geführt. Nach 1999 (nicht zuletzt nach der illegalen Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO) änderte sich der Ansatz, und die Politik wurde zu einer Mischung aus merit-orientierter und geopolitischer Politik. Heute, nach der russischen Aggression gegen die Ukraine, ist viel von einer geopolitischen Erweiterung die Rede: Die Erweiterung der EU um die Ukraine, Moldawien und den westlichen Balkan sollte erfolgen, um den russischen (und chinesischen) Einfluss in diesen Regionen zu begrenzen oder zu beseitigen. Diese geopolitischen Ambitionen müssen jedoch mit Sicherheit neu austariert und mit einem merit-orientierten Ansatz kombiniert werden und umfassende Reformen der Funktionsweise der EU als Ganzes (insbesondere regionale Transfersysteme, Abstimmungsverfahren im Rat) sind eine Voraussetzung dafür.
Die Osterweiterung hat trotz einiger Probleme zu Wohlstand und Stabilität geführt – sicherlich viel mehr als in einem alternativen Szenario, in dem die Region von der EU ausgeschlossen wäre. Aber die Erweiterung allein kann nicht alle Probleme der europäischen Nachbarschaftspolitik lösen. Die 20-jährige Erfahrung Ostmitteleuropas liefert wichtige Lehren für die Ausarbeitung einer neuen Erweiterungsstrategie, auch wenn eine künftige Beitrittsrunde ganz anders aussehen wird als die bisherigen; mit einigen zusätzlichen Schwierigkeiten (z. B. Kriegsfolgen, der notwendigen Dekarbonisierung) und einigen mildernden Faktoren (z. B. einer viel niedrigeren Arbeitslosigkeit). Die Marktintegration ist von entscheidender Bedeutung, aber sie wird weder wirtschaftlich noch politisch ohne einen umfangreichen öffentlichen Ressourcentransfer funktionieren. Die EU verfügt immer noch nicht über zentralisierte Investitionsfonds in ausreichender Größe. Als Teil einer umfassenderen Entwicklung hin zu einer europäischen Industriestrategie sollten politische Maßnahmen, die die digitale und grüne Transformation einbeziehen, im Mittelpunkt einer neuen Strategie für die inzwischen „alten“ Beitrittsländer stehen, die eine dauerhafte und kontinuierliche Konvergenz mit Westeuropa ermöglicht (Bykova et al., 2021).
Die 27 aktuellen Mitgliedstaaten müssen ihre Integration weiter vertiefen, um die kritischen Herausforderungen für das Wirtschafts- und Sozialmodell im Kontext der Dekarbonisierung und der geopolitischen Spannungen zu bewältigen. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zu der Notwendigkeit, den Kandidatenländern eine rasche Beitrittsperspektive zu bieten. Um diese Spannung zu entschärfen, wurden zahlreiche Vorschläge für eine interne Differenzierung der Mitgliedschaft gemacht. Die Umsetzung eines solchen Schemas wird in den kommenden Jahren viel Einfallsreichtum seitens der nationalen und europäischen Politiker:innen erfordern.
- 1 Die beiden Mittelmeerinseln sind aufgrund ihrer geringen Größe und der Tatsache, dass sich ihre Ausgangsbedingungen und ihre spätere Entwicklung erheblich von denen der mittel- und osteuropäischen Ländern unterscheiden, von dieser Untersuchung weitgehend ausgenommen.
- 2Einen Überblick über die Erfahrungen der Länder bieten die Beiträge in Galgóczi et al. (2009b).
- 3Bulgarien ist das einzige Land, in dem der Gini-Koeffizient gestiegen ist (Angaben der Weltbank; bis 2021). Rumänien und vor allem Polen verzeichneten einen deutlichen Rückgang der Ungleichheit, ausgehend von einem hohen Ausgangsniveau, gemessen am Gini-Koeffizienten, während die Tschechische und die Slowakische Republik von einem niedrigen Ausgangsniveau aus weitere Verbesserungen erzielten.
- 4 Zum polnischen Fall siehe Anacka und Fihel (2012) und zu den Themen Rückkehrmigration und Qualifikation auch die anderen Beiträge in Galgóczi et al. (2012).
Literatur
Anacka, M. und A. Fihel (2012), Return migration to Poland in the post-accession period, in B. Galgóczi, J. Leschke und A. Watt (2012), EU Labour Migration in Troubled Times. Skills Mismatch, Return and Policy Responses, Ashgate, 143-167.
Andor, L. (2019), Fifteen Years of Convergence: East-West Imbalance and What the EU Should Do About it, Intereconomics, 54(1), 18-23.
Bykova, A., R. Grieveson, D. Hanzl-Weiss, G. Hunya, N. Korpar, L. Podkaminer, R. Stehrer und R. Stöllinger (2021), Avoiding a Trap and Embracing the Megatrends: Proposals for a New Growth Model in EU-CEE, wiiw Research Reports, 458, The Vienna Institute for International Economic Studies.
European Integration Consortium (2009), Labour mobility within the EU in the context of enlargement and the functioning of the transitional arrangements, Report for DG Employment, Social Affairs and Equal Opportunities.
Galgóczi, B., J. Leschke und A. Watt (2009a), Intra-EU labour migration – flows and policy responses, in B. Galgóczi, J. Leschke und A. Watt, EU labour migration since enlargement. Trends, impacts and policies, Ashgate, 1-28.
Galgóczi, B., J. Leschke und A. Watt (2009b), EU labour migration since enlargement. Trends, impacts and policies, Ashgate.
Galgóczi, B., J. Leschke, A. Watt (2012), EU Labour Migration in Troubled Times. Skills Mismatch, Return and Policy Responses, Ashgate,
Grieveson, R. (2019) EU eastward enlargement: A qualified success, wiiw News and Opinions, https://wiiw.ac.at/n-377.html (10. Juni 2024).
Landesmann, M. und I. P. Székely (Hrsg.) (2021), Does EU Membership Facilitate Convergence? The Experience of the EU‘s Eastern Enlargement – Volume I-II, Springer.