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Unter jungen Erwachsenen in Deutschland vergrößert sich die Schere in den Bildungsabschlüssen: Zwischen 2015 und 2022 stieg sowohl der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne berufsbildenden Abschluss (von 13 % auf 16 %) als auch derjenigen mit Hochschulabschluss (von 30 % auf 37 %), während der Anteil derjenigen mit mittlerem Abschluss um 13 Prozentpunkte zurückging.1 Hintergrund dieser bipolaren Entwicklung sind ungleiche familiale Ausgangsbedingungen und das Unvermögen des Bildungssystems, diese Nachteile auszugleichen, was nach wie vor zu einem engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Bildungsbeteiligung und Bildungserwerb führt. Die Bedeutung der Herkunftsunterschiede zeigt die Prävalenz der drei Risikolagen: 10 % der unter 18-Jährigen leben in Haushalten ohne erwerbstätige Eltern (soziale Risikolage), 22 % in monetärer Armutsgefährdung (finanzielle Risikolage) und 15 % in Haushalten ohne Elternteil mit Hochschulreife oder abgeschlossener Berufsausbildung (bildungsbezogene Risikolage). 31 % aller Minderjährigen sind von mindestens einer Risikolage betroffen, sogar 4 % von allen drei Risiken zugleich. Kinder in Alleinerziehendenfamilien und Familien mit Migrationsgeschichte sind überdurchschnittlich gefährdet: Die Wahrscheinlichkeit für mindestens eine Risikolage liegt in diesen Familien bei rund 60 %.

Sozial ungleiche Zugangschancen zu früher Bildung untermauern den langjährig bekannten Effekt: Kinder, die schon elternhausseitig von weniger Bildungsressourcen profitieren, haben zusätzlich auch einen geringeren Zugang zu außerfamilialen Lerngelegenheiten in der Kita. So sind Kinder mit Migrationsgeschichte in der Kindertagesbetreuung weiter unterrepräsentiert; zudem steigt die Kitanutzung mit dem elterlichen Bildungsstand und der mütterlichen Erwerbsintensität. Soziale Gradienten beim Zugang zu Kindertagesstätten lassen sich vor allem auf unzureichende Bedarfsdeckungen zurückführen, insbesondere im U3-Bereich und in Westdeutschland. Weitere Gründe sind unterschiedliche Nutzenbewertungen des Kitabesuchs und individuelle Entscheidungen der familialen Lebensführung, unterschiedlich lange Wegstrecken zur Kita sowie Sprachbarrieren und fehlendes Institutionenwissen zur Kitaplatzvergabe. Durch gezielte Informationsangebote an Eltern lässt sich die Kitanutzung allerdings signifikant steigern. Experimentelle Studien geben zudem Hinweise auf einrichtungsseitige Diskriminierung.

Die ungleichen Bildungschancen setzen sich in der Schule fort. Der Anteil der leseschwachen Viertklässler hat zugenommen, insbesondere bei Kindern aus sozial schwachen Elternhäusern. Gezielte Leseförderung, etwa mit digitalen Geräten, könnte hier prinzipiell kompensieren, erreicht diese Effekte aber faktisch nicht. 32 % der Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Elternhäusern, jedoch 78 % der Kinder aus akademisch geprägten Elternhäusern erhalten am Ende der Grundschulzeit eine Gymnasialempfehlung; Unterschiede bestehen auch bei gleichen Noten. Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status setzen ihre Gymnasialempfehlung viel seltener um. Aufgrund primärer und sekundärer Herkunftseffekte erhalten sie diese jedoch auch seltener. Die Forschung belegt bereits seit Langem, dass Eltern, aber auch Lehrer:innen als „signifikante Andere“ einen maßgeblichen Einfluss auf die Bildungs­aspirationen junger Menschen ausüben. Die sozialen Disparitäten setzen sich am Ende der Schullaufbahn fort: 6,9 % der Schüler:innen verließen die Schule 2022 ohne Abschluss, darunter hatte ein Viertel keinen deutschen Pass. 78 % der Kinder aus akademischem Elternhaus, aber nur 25 % anderer Kinder nahmen ein Studium auf. Zwar ist eine intergenerationale Aufwärtsmobilität in den erworbenen Bildungszertifikaten sichtbar, aber kürzere Aufstiege sind häufiger als längere: Unter Studienberechtigten sind Übergänge ins Studium am häufigsten (seltensten) bei Eltern mit Universitäts-(Hauptschul-)abschluss. Dabei lassen sich auch beim Hochschulzugang soziale Herkunftseffekte durch gezielte Aufklärung reduzieren. Selbst bei den Bildungsabbruch­mustern zeigen sich Herkunftseffekte: Ausbildungs­abbrüche sind häufiger unter Jugendlichen mit maximal erstem Schulabschluss bzw. unter solchen mit Migrationshintergrund. Studienabbrechende aus akademischen Haushalten wechseln häufiger in ein anderes Studium, andere Abbrechende wechseln eher in eine Berufsausbildung. Ein Drittel der Ausbildungsabbrüche führt in instabile weitere Bildungsverläufe, mit dem höchsten Risiko (41 %) bei Personen mit maximal erstem Schulabschluss. Junge Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status der Eltern münden häufiger als andere in fragmentierte Verläufe mit Arbeitslosigkeitsepisoden oder längerer Verweildauer im Übergangssektor. An allen beschriebenen Stufen und Übergängen werden individuelle Bildungschancen ungleich behandelt und das Fachkräftepotenzial bleibt ungenutzt.

Der Bildungsbericht 20242 liefert zahlreiche Belege für die Bedeutung der sozialen Herkunft für Bildungsbeteiligung, -karrieren und -erwerb sowie deren Folgen für die beruflichen Positionierungen und damit für Verdienst- und Teilhabeperspektiven. Aus individueller wie aus gesellschaftlicher Sicht zeigt sich die Bedeutung sozialer Disparitäten: Das Elternhaus, eigene Schulleistungen, eigene Aspirationen und die Erwartungen von Eltern, Lehrkräften und Peers mit wechselseitigen Bezügen zueinander prägen den schließlich erreichten Bildungsabschluss, der eine entscheidende Determinante für den Berufserfolg ist. Unsere Gesellschaft hat noch keine geeigneten Werkzeuge entwickelt, um Ungleichheiten an den verschiedensten Stellen in der Bildungskarriere zu begegnen und zu kompensieren. Wertvolle Bildungs-, Teilhabe- und Wertschöpfungs­potenziale gehen so verloren. Damit kommt der Reduzierung des sozialen Gradienten bei den frühesten Lerngelegenheiten, insbesondere in der Familie, sowie bei allen folgenden Lerngelegenheiten eine entscheidende Bedeutung zu. Diese Erkenntnis ist nicht neu und sie birgt – angesichts der knappen öffentlichen Kassen und der Fachkräfteengpässe auch und gerade im Bildungssystem – aktuell besonders hohe Herausforderungen. Beides zwingt zu einer erhöhten Effizienz im Einsatz knapper personeller und finanzieller Mittel. Pionier­arbeiten der bildungsökonomischen Forschung haben gezeigt, dass die lebenslangen Erträge von Bildungsinvestitionen umso höher sind, je früher sie im Leben stattfinden.

Zur Überwindung der Ungleichheiten muss ganz früh angesetzt werden. Erst eine ausreichende Zahl an Plätzen in der frühen Bildung wird die ungleiche Beteiligung daran nachhaltig reduzieren. Das Erreichen einer Beteiligungsquote, die dem Platzbedarf von vor zehn Jahren entspricht, kann nur ein Zwischenschritt sein, die Ausbaubemühungen müssen mit unverminderter Kraft weitergehen; sowohl, um die Bildungschancen der Kinder gleich zu behandeln, als auch, um den Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Da sich Kinder mit ungünstigeren Voraussetzungen in bestimmten Kitas und Schulen kumulieren, benötigen diese besondere Unterstützung. Für das (Berufs-)Schulsystem soll das Startchancenpaket genau diese Aufgabe übernehmen; für die frühe Bildung oder spätere Weiterbildung gibt es keine vergleichbare Initiative(n). Während viele Branchen unter Fachkräftemangel leiden, (be)trifft uns dieser in der Bildung ganz besonders, denn die pädagogisch Tätigen von heute sollen die Fachkräfte unserer Gesellschaft von morgen ausbilden. Einsparungen bei deren Qualität treffen uns nicht nur heute, sondern mehrere Jahrzehnte lang immer wieder aufs Neue.

  • 1 OECD. (2023). Education at a Glance 2023: OECD Indicators. OECD Publishing.
  • 2 Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2024). Bildung in Deutschland 2024. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu beruflicher Bildung.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0112