WD: Migrationsforschung hat zwei Seiten. Es gibt ein Land, aus dem emigriert wird und ein Land, in das migriert wird. Welche Entwicklungen sehen Sie seit der letzten großen Einwanderungswelle nach Deutschland, die u. a. durch den Bürgerkrieg in Syrien ausgelöst wurde?
CD: Deutschland war immer ein attraktives Land für Arbeitsmigranten und ist schon seit den 1950er Jahren ein Einwanderungsland. Alleine in den 1960er Jahren bis zur ersten Ölkrise 1973 ist der Anteil an der Arbeiterschaft der im Ausland Geborenen enorm gestiegen. Was sich jetzt verändert hat, ist, dass viele dieser Migrationsströme nicht mehr über den Arbeitskanal kommen, sondern über den Flüchtlingskanal. Das bringt natürlich viele Probleme mit sich. Arbeitsmigranten und Flüchtlinge unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Flüchtlinge kommen oft unvorbereitet, haben nicht beabsichtigt zu emigrieren und sind daher auch schwieriger in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Arbeitsmigranten sind in der Regel vorbereitet und kommen wegen der Arbeitsplätze. Es gibt daher sehr große Unterschiede zwischen diesen beiden Migrationsbewegungen. Wir haben für verschiedene europäische Länder inklusive den USA Flüchtlingsmigranten mit Wirtschaftsmigranten verglichen (Brell et al., 2020). Hinsichtlich der Arbeitsmarktintegration zeigen sich erhebliche Unterschiede. Es ist unglücklich, wenn diese beiden Arten der Immigration vermischt werden. Die Arbeitsmigration ist eine gewollte Immigration von beiden Seiten. Die Flüchtlingsmigration wird durch die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und die entsprechenden Anhänge geregelt. Das sind unterschiedliche Migrationsbewegungen, die man weiterhin trennen sollte, da sie mit unterschiedlichen Herausforderungen einhergehen.
Wir haben in den 2010er Jahren direkt nach der großen Rezession starke Migrationsbewegungen aus den europäischen Ländern gesehen, die viel stärker von der Rezession betroffen waren als Deutschland. Das hat in Deutschland zu einer Entlastung des engen Arbeitsmarktes geführt. Nach der großen Rezession haben wir kontinuierlich einen engen Arbeitsmarkt gesehen, teilweise bedingt durch demografische Entwicklungen, aber auch durch eine große Nachfrage nach Arbeitskräften, insbesondere am unteren Rand der Ausbildungsverteilung. Die Migrationsbewegungen über die letzte Dekade bestehen teilweise aus Arbeitsmigranten – vor allen aus den europäischen Ländern – aber auch stark aus Migranten, die aufgrund von Fluchtbewegungen zu uns kommen – sehr intensiv seit der Syrienkrise.
Große Unterschiede zwischen Arbeits- und Flüchtlingsmigration
WD: Einer der aktuellen Krisenherde als Auslöser von Migrationsbewegungen ist der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Gibt es bereits erste Ergebnisse über die Integration ukrainischer Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt? Aktuell lässt sich überhaupt noch nicht absehen, wie lange diese Situation anhält, selbst wenn viele Ukrainer vielleicht gerne zurück würden, um ihr Land wieder aufzubauen.
CD: Da schneiden Sie ein ganz besonderes Problem an. Hier kommt es zu einer bestimmten Abwägung. Wenn Menschen zu uns kommen, ob wie jetzt aus der Ukraine oder vor 20 bis 25 Jahren aus der Balkanregion oder aus anderen Ländern, in denen ein Konflikt herrscht, dann sind das keine dauerhaften Arrangements. Nach der Balkankrise sind z. B. sehr viele Migranten, die aus dem damaligen Jugoslawien zu uns gekommen sind, auch wieder zurückgeschickt worden. Für Migranten bedeutet das, dass es nicht klar ist, wie dauerhaft man sich überhaupt in Deutschland aufhält. Das verringert die Anreize, sich in die deutsche Gesellschaft oder auch in den Arbeitsmarkt einzubringen, z. B. durch Investitionen in das Humankapital insbesondere die Sprache, anders als es bei geplanten ökonomischen Migrationen der Fall ist.
Denken wir an das Beispiel Syrien. Der Konflikt ist sehr schnell entstanden. Eine hohe Fluchtwelle seit 2015 war die Folge. Nehmen wir den syrischen Bäcker, der nach Deutschland kommt und das Bäckerhandwerk in Deutschland nur vernünftig weiterführen kann, wenn er auch eine Ausbildung macht. Zertifizierungen sind in Deutschland sehr wichtig für den Arbeitsmarkt. Eine abgeschlossene Berufsausbildung gibt ihm die Möglichkeit, in Zukunft (mit noch zusätzlichen Zertifikaten) selbstständig zu werden usw. Aber wenn er dann möglicherweise nach fünf oder sechs Jahren nach Syrien zurückmuss, dann interessiert das in Damaskus keinen Menschen, ob er nun eine deutsche Lehrausbildung absolviert hat oder nicht. Aber während der drei Ausbildungsjahre sind die Löhne sehr viel geringer, sodass sich diese Investition nur lohnt, wenn er auch dauerhaft in Deutschland bleibt. Das ist ein Problem bei dieser Art der Migration, dass die Dauerhaftigkeit der Migration für beide Seiten sehr unsicher ist, was dazu führen kann, dass die Anreize, sich in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt einzubringen, durch Investitionen, die teuer sind für den Migranten, dadurch natürlich geringer sind.
WD: Was negative Folgen für beide Seiten nach sich zieht, wenn man sich am Anfang entschieden hat, diese Berufsausbildung nicht zu machen, weil man dachte, man kehrt schnell zurück.
CD: Ganz genau. Das führt zu vielen Fehlentscheidungen. Wir haben das gesehen bei den Gastarbeiterbewegungen, wo viele eigentlich mit einer temporären Absicht gekommen sind, dann die entsprechenden Investitionen nicht getätigt haben und zum Schluss doch dauerhaft geblieben sind. Derartige Entscheidungssituation haben wir untersucht und stellen genau dar, wie die Karrierepfade der Migranten betroffen sind (Adda et al., 2022).
WD: Ist die Auswanderungsbewegung aus Deutschland heraus signifikant?
CD: Wenn die Möglichkeiten woanders besser sind, dann gehen Leute natürlich. Im wissenschaftlichen Bereich war das und ist das ein Thema. In den USA sind die Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten oft besser. Emigration mag auch in anderen einzelnen Bereichen attraktiv sein, aber ich denke nicht, dass Deutschland eines der Länder ist, das darunter besonders leidet. Ich war gerade gestern in Portugal, da haben wir auch über dieses Thema gesprochen. Portugal hat da ein größeres Problem und Albanien hat ein Riesenproblem. In Deutschland hält sich das sehr stark in Grenzen. Man versucht in anderen europäischen Ländern durch Steuererleichterungen die Leute in den sehr ausbildungsintensiven Berufen zurückzugewinnen.
Klimawandel als weiterer Treiber von Migration
WD: Inwieweit wird der Klimawandel ein Treiber für zukünftige Migrationsbewegungen sein?
CD: Der Klimawandel wird sicherlich ein weiterer Treiber sein für zukünftige Migrationsbewegungen. Im Augenblick wird Klimaveränderung als hauptsächlicher Migrationsgrund noch dominiert von Verfolgung und Konflikten in den Herkunftsregionen, dem Fehlen funktionierender Institutionen und einem Mangel an Sicherheit und Zukunftsperspektiven. Dies wird sicherlich durch den Klimawandel verstärkt. Das ist die große Herausforderung für uns. Wenn wir uns die Flüchtlingsmigrationsströme der letzten Jahrzehnte ansehen, sind das natürlich immer Bewegungen, die durch Konflikte in den Herkunftsregionen initiiert wurden. Was jetzt im Mittleren Osten passiert, der Ukrainekonflikt, die Unsicherheit in vielen afrikanischen Ländern, führt dazu, dass sich viele Menschen auf den Weg nach Europa machen. Diese Ströme werden zunehmen. Afrika steht vor einem riesigen Bevölkerungswachstum, zwischen 2019 und 2050 wird sich die Bevölkerung verdoppeln. Zur gleichen Zeit sind die Länder mit dem größten Bevölkerungswachstum oft auch die Länder mit den größten Instabilitäten und einem Mangel an Sicherheit für ihre Bürger.
Arbeits- und Wirtschaftsmigration mit Blick auf den Arbeitskräftemangel gestalten
WD: Sie haben bereits betont, wie wichtig es ist, zwischen Arbeitsmigration und Flüchtlingsbewegungen zu unterscheiden. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt führt der demografische Wandel nicht nur zu einem Fachkräftemangel, sondern verstärkt einen generellen Arbeitskräftemangel. Wie sieht es denn bezogen auf den Arbeitskräftemangel in den umliegenden Länder aus? Verschärft eine Migration nach Deutschland nicht die Situation auf Arbeitsmärkten in den umliegenden Ländern, z. B. des Schengenraums?
CD: Nicht unbedingt. Wir haben ja unterschiedliche Entwicklungen. Es ist immer schade, wenn Länder, die eine große junge Bevölkerung haben, diese nicht in produktive Prozesse einbinden können. Wir sehen in Südamerika, auch in Afrika, Länder mit einer sehr jungen Bevölkerung, wo diese allerdings keine Arbeit finden. Das ist ein doppelter Verlust. In Deutschland ist es umgekehrt. Wir arbeiten gerade an einer Studie, wo wir uns die Veränderung der Ungleichheit anschauen. Einkommensungleichheit ist sehr stark zurückgegangen in Deutschland – bereits vor der Einführung des Mindestlohns. Das ist teilweise darauf zurückzuführen, dass der deutsche Arbeitsmarkt sehr eng geworden ist. Es gibt weniger Arbeitnehmer, die ihre Arbeit anbieten, relativ zur Nachfrage. Zum Teil hängt dies mit der Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge zusammen. Teilweise lässt sich dieses Problem mit Migration lösen, was auch getan wurde. Wir haben einen sehr starken Anstieg der im Ausland Geborenen an der deutschen Arbeiterschaft über das letzte Jahrzehnt gesehen.
Eine vernünftige Migrationspolitik muss sich an den Anforderungen des Arbeitsmarktes ausrichten, aber sie muss auch mit einer Integrationspolitik einhergehen. Wir haben da Fehler gemacht mit der Gastarbeiterimmigration. Da hat man sich um Integration wenig gekümmert. Das hat zu Segregation geführt. Ganz besonders krass ist das in Frankreich passiert mit den Menschen aus dem Maghreb, was immer noch für extreme soziale Spannungen sorgt. Das muss man frühzeitig angehen.
Eine Arbeitsmarktpolitik, die sich teilweise auf Migration stützt, muss also mit einer vernünftigen Integrationspolitik einhergehen und darf nicht am Arbeitsmarkt vorbeigehen. Es gibt bestimmte Mangelberufe, bestimmte Grundvoraussetzungen, sich in den deutschen Arbeitsmarkt einzubringen und dementsprechend muss man auch Migrationspolitik gestalten. Ich halte es für verkehrt, Flüchtlingspolitik mit Arbeitsimmigrantenpolitik komplett zu vermischen. Das sind zwei unterschiedliche Arten der Migration, man kann da Brücken bauen, aber man muss da vorsichtig sein, diese beiden Arten der Migration auch auseinanderzuhalten. Arbeitsmigration können wir sehr viel besser kontrollieren und auch entsprechend mit den Anforderungen des deutschen Arbeitsmarktes abstimmen als die Flüchtlingsmigration. Aber man muss natürlich in einem Land wie Deutschland die demografische Veränderung auch mit einer starken Kapitalisierung der Wirtschaft angehen. Und dazu gehören dann diese Self-Check-outs im Supermarkt oder Restaurant, wo es keine Angestellten mehr gibt.
WD: Das ist auch eine positive Nachricht, dass Migration keineswegs ein Nullsummenspiel ist, sondern hilft über Ländergrenzen hinweg Arbeitsangebot dort, wo es im Überfluss vorhanden, in Regionen zu lenken, wo dieses Potenzial aktuell nicht vorhanden ist. Die Ergebnisse Ihrer Forschung zeigen immer wieder, dass die wichtigste Integration im Arbeitsmarkt passiert (z. B. Arendt et al., 2022). Dadurch, dass jemand erst mal in Arbeit ist und sich in diesem Rahmen gegebenenfalls weiterqualifiziert und von dieser Position heraus auf andere Stellen weiter bewirbt, die dann näher an seinem eigentlichen Ausbildungsstand sind.
CD: Der Arbeitsmarkt ist der beste Integrator. Eine Integration in den Arbeitsmarkt sollte mit Weiterbildungsmaßnahmen Hand in Hand gehen. Ich halte es nicht für vorteilhaft, wenn man Leute erst mal sehr lange ausbildet und dann versucht, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Der Arbeitsmarkt macht das teilweise selber. Man lernt die Sprache, wenn man mit deutschen Arbeitnehmern zusammenarbeitet oder wenn man deutsche Beschreibungen lesen muss etc. Man lernt bestimmte Produktionsabläufe, wenn man auf dem Arbeitsmarkt tätig ist und die Weiterbildungsmaßnahmen müssen dann intelligent parallel ablaufen. Parallel ist sehr viel besser als seriell.
Das ist genau die Idee der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft, dass die Länder, in denen ein Arbeitskräfteüberhang besteht, entlastet werden dadurch, dass Arbeitnehmer in die Länder migrieren, wo das Gegenteil der Fall ist. Das hat hervorragend funktioniert nach der großen Rezession, wo viele Arbeitnehmer aus den östlichen und südlichen europäischen Ländern für einige Jahre zu uns gekommen sind und dann auch wieder zurückgekehrt sind.
Tarifautonomie ein wichtiger Faktor am Arbeitsmarkt
WD: Aktuell wird die Erhöhung des Mindestlohns auf etwa 15 Euro diskutiert. Denken Sie, dass das Auswirkungen haben wird auf die Migration nach Deutschland oder ist das eigentlich kein Migrationsthema, sondern ein Thema für Arbeitnehmer, die bereits in Deutschland sind?
CD: Ich bin ein großer Freund der Tarifautonomie, die in Deutschland auch recht gut funktioniert hat. Damit beschäftigt sich unsere jüngste Forschung (Dustmann et al., 2024a). Wir haben eine Schließung der Lohnschere bereits vier Jahre vor der Einführung des Mindestlohns 2015 in Deutschland beobachtet. Das liegt an verschiedenen Prozessen, aber teilweise auch an dem Erstarken der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern. Die Einführung des Mindestlohns hat 2015 sicherlich nicht zu Arbeitsplatzverlusten geführt, das hat unsere eigene Forschung gezeigt (Dustmann et al., 2022). Aber die Tarifautonomie ist ein ganz wichtiges Instrument, das man nicht vernachlässigen darf.
Sehr schwierig, auf Ihre Frage zu antworten, was die Migration angeht. Man müsste sich die Daten anschauen, wie sich das auswirkt auf ausländische Arbeitnehmer. Das ist eine zwiespältige Sache. Wir haben sehr intensiv darüber nachgedacht, wenn Arbeitnehmer mit ausländischer Herkunft zu Löhnen arbeiten, die unterhalb ihrer Produktivität liegen (wie wir z. B. in Dustmann et al. 2024b zeigen), dann heißt das, dass eine Erhöhung des Mindestlohns vorteilhaft ist für diese Arbeitnehmer, weil sie auch dann weiterbeschäftigt werden, wenn sich der Lohn erhöht, der für diese Arbeit bezahlt werden muss. An der Evidenz dazu arbeiten wir im Augenblick noch.
WD: Die Ergebnisse präsentieren Sie dann auf der Tagung des Vereins für Socialpolitik?
CD: Ich werde sicherlich Ergebnisse unserer jüngeren Forschung präsentieren. Gute empirische Forschung dauert sehr lange. Wir arbeiten oft mindestens fünf Jahre an einer guten Studie. Das ist einfach sehr zeitintensiv.
Hohe Arbeitsproduktivität bis ins hohe Alter möglich
WD: Große deutsche Unternehmen wie SAP, Bayer und Volkswagen schnüren gerade sogenannte Abfindungspakete, überwiegend für sehr erfahrene Mitarbeiter. Wie ist Ihre Einschätzung dieser Maßnahmen vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels auf dem deutschen Arbeitsmarkt?
CD: Gegeben die demografische Entwicklung ist es für uns eine Notwendigkeit, aber auch eine große Herausforderung, ältere Arbeitnehmer produktiv weiterhin im Arbeitsmarkt zu belassen. Da ist ein gewisses Umdenken erforderlich. Man kann sicherlich Produktionsprozesse so verändern, dass sie auch von älteren Arbeitnehmern sehr gut ausgeübt werden können. Technologie ist da sehr hilfreich. Heutzutage ist ein Straßenbauarbeiter nicht mehr enorm physisch involviert in die Arbeiten, es gibt sehr viele Maschinen und das ist auch der Fall In vielen anderen Arbeitsabläufen. In vielen Bereichen sind ältere Arbeitnehmer dadurch, dass sie heute sehr viel gesünder sind, als das vielleicht noch vor 30 Jahren der Fall ist, auch sehr gut in der Lage, produktiver zu sein als jüngere Arbeitnehmer, weil sie erfahrener sind. Wir müssen einfach dahin kommen, dass wir Möglichkeiten schaffen, ältere Arbeitnehmer länger im Arbeitsmarkt zu belassen und die Arbeitsmarkterfordernisse so anzupassen, dass sie produktiv von älteren Arbeitnehmern ausgeführt werden können. Da gibt es viele Versuche aus asiatischen Ländern vor allem Japan und Singapur, von denen man lernen kann. Aber da sollte Deutschland auch selbst innovativ werden.
WD: Im politischen Diskurs wird häufig ein flexibleres Renteneintrittsalter diskutiert, was de facto darauf abzielt, dass der Renteneintritt im Mittel später stattfindet. Viele der Arbeitnehmer, die solche Angebote in Anspruch nehmen, z. B. die Rente mit 63, sind oftmals diejenigen, die noch in relativ guter körperlicher Verfassung sind und produktiv weiterarbeiten könnten. Viele Arbeitnehmer in körperlich anstrengenden Berufen können z. B. aus finanziellen Gründen diese Angebote nicht wahrnehmen.
CD: Wenn ich viel Geld gespart habe, dann ist die Notwendigkeit, weiterhin zu arbeiten natürlich geringer. Das ist hauptsächlich in den Gruppen der Fall, die Sie gerade erwähnt haben. Wenn ich ein recht geringes Einkommen hatte, über meinen Lebenszyklus hinweg, dann mag es vorteilhaft sein, noch etwas länger zu arbeiten. Es wird eine demografische Notwendigkeit sein, Arbeitnehmer länger im Arbeitsmarkt zu behalten. Und es ist natürlich für viele Arbeitnehmer auch ein Wunsch, sich länger im Arbeitsprozess zu bewegen. Für viele ist es nicht besonders attraktiv, den ganzen Tag zu Hause zu sitzen. Durch Flexibilisierungen, was die Stunden angeht usw. kann man Lösungen finden und ich denke, das wird auch passieren.
WD: Wenn wir über unsere ökonomischen Scheuklappen hinausschauen, ist ein Grund der Vereinsamung vor allem älterer Mitbürger der Ausstieg aus dem Arbeitskontext. Das soziale Umfeld wird dann schlagartig viel kleiner.
CD: Ganz genau. Da kann man auf Erfahrungswerte zurückgreifen, wie auch ältere Arbeitnehmer sich entsprechend einbringen können. Ich war gerade auf einer Sitzung eines großen Konglomerats in Portugal und war einer der jüngeren Besucher. Viele waren in den Achtzigern und es war schon erstaunlich, was die für Ideen und Beiträge beigesteuert haben. Heutzutage kann man schon bis ins hohe Alter produktiv bleiben.
WD: Gibt es Vorbilder für Deutschland? Japan z. B. fährt ein anderes Modell. Sie setzen anstelle von Migration auf Innovationen in der Robotik.
CD: Das ist richtig, Deutschland tut allerdings auch viel im Bereich der Robotik. Deutschland ist neben Japan führend in der Robotik. Nicht nur aber auch aufgrund ähnlicher Industriestrukturen im Maschinen- und Anlagenbau und in der Produktion von Autos usw. Die japanische als auch die koreanische Gesellschaft finden es sehr schwer, den demografischen Veränderungen durch Migration zu begegnen, weil sie sehr homogene Gesellschaften sind, wo es für Migranten sehr schwierig ist, sich zu integrieren und die es auch sehr schwierig finden, Immigranten zu integrieren. Ich denke, das ist ein großer Nachteil dieser Gesellschaften. Das trifft in geringerem Ausmaß auch auf einige Länder in Europa zu. In Australien und in den USA ist Identität sehr viel einfacher definiert als das z. B. in Frankreich der Fall ist oder auch teilweise in Deutschland. Und das führt dazu, dass es einigen Ländern sehr viel einfacher fällt, Migranten in den Arbeitsmarkt aufzunehmen und dann auch gesellschaftlich zu integrieren, als anderen.
Forschungsdatenverfügbarkeit in Deutschland
WD: Wie sieht es bei der Datenverfügbarkeit für die Arbeitsmarktökonomik und Migrationsforschung aus? Sie erwähnten bereits, dass man die empirische Arbeitsmarktforschung in Fünfjahreszyklen denken muss, bis man z. B. einzelne Migrationswellen gut verstanden hat.
CD: Als ich angefangen habe, war Deutschland eine Datenwüste. Es gab das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) und das war es. Mittlerweile stellt sich das anders dar. Wir arbeiten heute mit administrativen Daten, vor allen Dingen das IAB unter der früheren Leitung von Joachim Möller und jetzt unter Bernd Fitzenberger hat einen enormen Beitrag geleistet, um Datenprodukte der deutschen und internationalen Forschergemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Auf der anderen Seite gibt es sehr viele Datenprodukte, die zwar vorhanden sind, aber wo die entsprechenden Institute die Verfügbarkeit der Daten doch sehr blockieren.
WD: Was würden Sie sich wünschen?
CD: Es gibt z. B. Außenhandelsdaten, die dezidiert Handelsbeziehungen auf sehr individueller Ebene darstellen und sehr wichtig sind, um Deutschlands Wettbewerbssituation in einer globalen Weltwirtschaft zu verstehen. Solche Daten sind in vielen anderen Ländern (z. B. in Dänemark und Frankreich) recht einfach erhältlich. In Deutschland ist der Prozess enorm umständlich, was dazu führt, dass deutsche Forscher mit Daten aus anderen Ländern arbeiten. Eine ähnliche Situation haben wir in vielen anderen Bereichen der empirischen Wirtschaftsforschung. Wir haben mittlerweile ein enormes Potenzial an sehr guten jungen angewandten Wissenschaftlern, die auch gerne mit deutschen Daten arbeiten wollen und sich dementsprechend mit einer deutschen Problematik auseinandersetzen wollen. Aber wenn man diese Daten nicht zur Verfügung hat, dann arbeiten sie für Frankreich oder Dänemark.
Wir arbeiten heutzutage mit zwei großen Gruppen von Datenprodukten. Zum einen Daten, die geschaffen werden für den wissenschaftlichen Gebrauch – das deutsche SOEP ist ein solcher Datensatz. Und dann gibt es verschiedene Datenprodukte, die eigentlich nicht primär für die Wissenschaft erhoben worden sind, sondern für andere Zwecke, z. B. für statistische Zwecke wie die Sozialversichertenstatistik. Das sind sehr mächtige Daten und wir haben mittlerweile sehr gut verstanden, mit diesen Daten zu arbeiten. Ich arbeite mit vielen dänischen Produkten, da kann ich diese administrativen Datensätze über Identifikationsnummern der Individuen komplett vernetzen. Zum Beispiel kann ich die Kriminalstatistik vernetzen mit den Arbeitsmarktdaten oder mit Informationen des sozialen Umfeldes während der Kindheit. Das heißt, man kann Forschung über soziale und wirtschaftliche Prozesse betreiben, die in Deutschland so auf gar keinen Fall möglich ist, weil es diese Verknüpfungen nicht gibt und weil auch die einzelnen Datensätze sehr schwierig zu bekommen sind. Die skandinavischen Länder sind absolut führend und dementsprechend wird eben auch sehr viel Forschung mit den skandinavischen Daten betrieben. Ich würde mir schon an vielen Stellen wünschen, dass man in Deutschland da etwas flexibler ist.
Wirtschaftspolitische Beratung und empirische Forschung
WD: Könnte man das dänische Modell einfach auf Deutschland in einer Art und Weise übertragen, die mit den deutschen Datenschutzregelungen konform wäre und es wird nur nicht gemacht?
CD: Das ist eine Interpretations- und Auslegungssache. Selbst innerhalb Deutschlands gibt es bei den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Auslegungen bei der Verfügbarkeit der gleichen Datenprodukte und es wird sehr viel gemauert. Das hängt auch damit zusammen, dass Deutschland sehr risikoavers ist und Veränderungen kurzfristig eine Menge Arbeit verursachen können. Die Datenschutzbestimmungen werden zum großen Teil auf europäischer Ebene geregelt, wozu das Vorgehen in Dänemark vollkommen konform ist. Wir brauchen Daten um eben auch wichtige Beiträge zu leisten für die Wirtschaftspolitik. Wenn wir die Prozesse und Abläufe nicht analysieren können, können wir sie nicht verstehen und dann können wir auch keine Politikempfehlungen geben. Je mehr Information wir haben in Form von Daten, desto besser können wir komplexe Abläufe verstehen, und desto besser können wir die Politik informieren und zu effizienteren Politikmaßnahmen beitragen.
WD: Wie ist Ihr Kanal in die wirtschaftspolitische Beratung in Deutschland?
CD: Zusammen mit Alexanda Spitz-Oener baue ich gerade ein neues Institut in Berlin auf, das „ROCKWOOL Foundation Berlin Institute for the Economy and the Future of Work“ (RFBerlin) und wir werden uns in die deutsche Politikdiskussion einbringen. In der Vergangenheit haben wir sehr viel in Großbritannien gemacht, da ich am University College London lehre und forsche. Nach dem Brexit war die Politikberatung durch Wissenschaftler nicht mehr so populär. Unter Tony Blair und auch in den 2010er Jahren unter der Cameron-Regierung haben wir z. B. intensiv zu den Fiskaleffekten der Migration, den Arbeitsmarkteffekten der Migration und den Effekten der Öffnung 2004 nach Ost- und Zentraleuropa gearbeitet.
Zu den Fiskaleffekten werden wir in Kürze ein Update publizieren, welches analysiert, ob Immigranten, unterschieden nach Herkunftsregionen, einen positiven oder negativen Beitrag im Fiskalsystem leisten. Die Studie bezieht sich auf Großbritannien, aber die Methode, die wir entwickeln, kann auch auf deutsche Daten angewandt werden. Das Narrativ der damaligen Cameron-Regierung war, dass der Beitrag negativ ist. Dadurch wollte man die Europäer überzeugen, dass sich England aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit herausziehen kann. Das war völlig falsch. In unserer ersten Studie zu diesem Thema (Dustmann & Frattini, 2014) wird dezidiert aufgezeigt, dass Migranten im Vergleich zu Einheimischen durch Steuerzahlungen einen sehr viel höheren Beitrag leisten, als sie an Transferzahlungen erhalten. Das liegt teilweise daran, dass die Ausbildung der Arbeitsmigranten bereits erfolgt ist, die Schul- und/oder Universitätszeit vom englischen Staat nicht bezahlt werden muss und z. B. ein polnischer Arbeiter nach England kommt und sofort produktiv ist, vielleicht zehn Jahre bleibt und dann nach Polen zurückkehrt. Das heißt, England braucht sich auch nicht an den Kosten für Erkrankungen im Alter oder für Rentenzahlungen zu beteiligen. Diese Art der Migration, die wir nach England gesehen haben, hat nicht nur den Arbeitsmarkt enorm entlastet, sondern war fiskalisch sehr vorteilhaft für England. Die Studie hatte damals für sehr viel Aufsehen gesorgt. Das passte vielen Leuten nicht, aber hat dazu geführt, dass nicht mehr behauptet werden konnte, dass Migranten aus Osteuropa Sozialschmarotzer wären, was vorher in vielen Medien so dargestellt wurde.
Es gibt viele unterschiedliche Meinungen in der Ökonomie, auch aufgrund unterschiedlicher Forschungsergebnisse. Politiker sind demgegenüber oft aufgeschlossen, was mit dem übereinstimmt, was sie gerne umsetzen möchten. Das liegt außerhalb der Kontrolle der Wissenschaftler. Ich sehe unsere Forschung als einen wichtigen Beitrag dazu, zum einen bestimmte Linien zu ziehen (wie z. B. in der obigen Forschung zu den Fiskaleffekten der Immigration) und zum anderen Diskussionen anzuregen. Zum Beispiel haben wir 2009 aufgezeigt, dass in Deutschland die Einkommensungleichheit gestiegen ist (Dustmann et al., 2009). Das hatte bis dahin noch gar keiner gemerkt. Jetzt zeigen wir, dass die Einkommensungleichheit zurückgegangen ist (Dustmann et al., 2024a). In einem Papier zur Verlängerung des Mutterschutzes (Dustmann & Schoenberg, 2012) hatten wir gezeigt, dass dies keinen Einfluss auf die Ausbildung und Löhne der Kinder hat, obgleich das wiederholt behauptet worden war, eben auch als ein Grund für Verlängerungen des Mutterschutzes. Mittlerweile gibt es viele Studien, die genau das Gleiche finden wie wir. Bestimmte Themengebiete anzustoßen, wo dann mehr Forschung entsteht und dadurch einen Beitrag zu leisten für den Wissenspool, auf den die Politik zugreifen kann – das ist, wie ich unsere Rolle in der öffentlichen und politischen Diskussion sehe.
WD: Mit Simon Jäger ist gerade ein Arbeitsmarktökonom Berater im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geworden. Haben Arbeitsmarktökonomen also gerade eine gewisse Konjunktur in Berlin?
CD: Der Arbeitsmarkt ist immer wichtig gewesen. Produktion besteht aus zwei Bestandteilen, das eine ist Kapital und das andere ist Arbeit. Von daher ist der Arbeitsmarkt ein ganz wichtiger Faktor, den man verstehen muss, um gesamtwirtschaftliche Entwicklungen nicht nur zu verstehen, sondern auch einordnen zu können.
Das Interview mit Christian Dustmann führte Mark Kirstein (wissenschaftlicher Redakteur) am 28. Juni 2024.
Literatur
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Arendt, J. N., Dustmann, C. & Ku, H. (2022). Refugee Migration and the Labor Market: Lessons from 40 Years of Post-arrival Policies in Denmark. Oxford Review of Economic Policy, 38(3), 531–556.
Brell, C., Dustmann, C. & Preston, I. (2020). The Labor Market Integration of Refugee Migrants in High-Income Countries. Journal of Economic Perspectives, 34(1), 94–121.
Dustmann, C., Ludsteck. J. & Schönberg, U. (2009). Revisiting the German Wage Structure. Quarterly Journal of Economics 124(2), 843-881.
Dustmann, C. & Schoenberg, U. (2012). Expansions in Maternity Leave Coverage and Children‘s Long-Term Outcomes. American Economic Journal: Applied Economics, 4(3), 190–224.
Dustmann, C. & Frattini, T. (2014). The Fiscal Effects of Immigration to the UK. Economic Journal, 124(580), F593–F643.
Dustmann, C., Lindner, A., Schönberg, U., Umkehrer, M. & vom Berge, P. (2022), Reallocation Effects of the Minimum Wage. Quarterly Journal of Economics, 137(1), 267–328.
Dustmann, C., Gergs, C. & Schoenberg, U. (2024a), The Evolution of the German Wage Distribution Before and After the Great Recession, mimeo, University College London.
Dustmann, C., Ku, H. & Surovtseva, T. (2024b) Real Exchange Rates and the Earnings of Immigrants. Economic Journal, 134(657), 271–294.