Der scharfe Ost-West-Unterschied, welcher in der kartografischen Darstellung regionaler Wahlergebnisse zum Vorschein tritt, verändert sich deutlich, sobald man regionalspezifische Charakteristika berücksichtigt. Die höhere Präferenz für die AfD ist nach Berücksichtigung der Merkmale weniger ost-west-scharf. Stattdessen finden wir regionale Muster, in denen auch bestimmte Regionen im südlichen Deutschland einen erhöhten AfD-Anteil an der Wählerschaft aufweisen. Dennoch besteht im Osten weiterhin eine stärkere Präferenz für die AfD als in den anderen Landesteilen. Der verbleibende Unterschied kann als Differenz kulturell geprägter Werte interpretiert werden, aufgrund derer aktuelle Ereignisse, wie der Ukrainekrieg und die Migration, verschieden wahrgenommen und bewertet werden.
Nach der jüngsten Europawahl und den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen steht das Erstarken rechter Parteien im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. In Deutschland werden in diesem Zusammenhang besonders die Ost-West-Unterschiede im Wahlverhalten in den Blick genommen. Medienwirksame Karten, die den AfD-Stimmen-Anteil auf Kreisebene darstellen, verdeutlichen die politische Polarisierung entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze auf eindrucksvolle Weise (vgl. Abbildung 1). Allerdings sollte der Versuchung widerstanden werden, die DDR-Vergangenheit vorschnell als alleinige Erklärung heranzuziehen (Alesina & Fuchs-Schündeln, 2007; Runst, 2013). Vielmehr kann gezeigt werden, dass eine Vielzahl der Ost-West-Unterschiede, z. B. hinsichtlich Religiosität, Geschlechternormen und Wahlverhalten, bereits lange vor der deutsch-deutschen-Teilung bestanden (Becker et al., 2020, 2021). Tatsächlich wurde bereits argumentiert, dass Regionen mit einem hohen Stimmenanteil der NSDAP im Jahr 1933 ebenfalls einen höheren AfD-Stimmenanteil im Jahr 2017 aufweisen (Cantoni et al., 2019). Die Betrachtung historisch gewachsener kulturell-weltanschaulicher Unterschiede darf die aktuell bestehenden sozioökonomischen Ungleichheiten gleichwohl nicht außer Acht lassen. So wurde z. B. darauf hingewiesen, dass historisch langfristige Deindustrialisierungstendenzen (Schneider, 2020) und sozioökonomische Faktoren (Bartholomae et al., 2020; Ragnitz, 2016) einen Einfluss auf das Wahlverhalten haben.
Abbildung 1
Anteil der AfD-Stimmen in %, Europawahl 2024
Quelle: INKAR (2024), eigene Berechnungen
Unser Beitrag basiert insbesondere auf der Annahme, dass die kartografische Darstellung des AfD-Stimmenanteils leicht als rein kultureller oder ideologischer Unterschied missverstanden werden kann. Darum möchten wir zur aktuellen Debatte beitragen, indem wir das Abschneiden der AfD zunächst durch „harte“ (demografische und ökonomische) Faktoren erklären und die danach verbleibenden regionalen Unterschiede im Wahlverhalten (Residuen) grafisch darstellen. Unseres Wissens nach stellen wir damit zum ersten Mal eine solche Residuen-Karte als öffentliche Diskussionsgrundlage zur Verfügung. Wir hoffen, damit zu einem besseren Verständnis und einer verbesserten Einordnung der Wahlergebnisse beizutragen.
Tabelle 1
Deskriptive Statistik
Variable | N | Mittelwert | Standardabw. | Minimum | Maximum |
---|---|---|---|---|---|
Europawahlergebnis 2024 AfD in % | 400 | 17,22 | 7,58 | 4,80 | 40,08 |
Zahl der Einwohner pro km², 2022 | 400 | 544,18 | 719,45 | 35,55 | 4.863,32 |
Durchschnittliche Arbeitslosenquote in %, 2012 bis 2021 | 400 | 5,65 | 2,51 | 1,45 | 14,25 |
Durchschnittlicher Binnenwanderungssaldo je 1.000 Einwohner, 2013 bis 2022 | 400 | 0,35 | 7,91 | -67,17 | 12,96 |
Kommunale Schulden in Euro je Einwohner, 2019 | 400 | 14.902,92 | 1.455,13 | 0 | 9,81 |
Personal der Kommunen je 10.000 Einwohner, 2019 | 400 | 152,91 | 58,18 | 0 | 598,50 |
Anteil Schutzsuchender an Bevölkerung in %, 2022 | 400 | 3,42 | 1,73 | 0 | 23,59 |
Anteil der Ausländer an den Einwohnern in %, 2022 | 400 | 12,95 | 5,64 | 3,55 | 38,97 |
Einbürgerungen je 1.000 Einwohner, 2022 | 400 | 1,05 | 0,69 | 0,03 | 4,25 |
Medianeinkommen der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten in Euro, 2021 | 400 | 3.356,25 | 438,52 | 2.507,48 | 5.090,88 |
Kaufkraft je Einwohner in Euro, 2021 | 400 | 25.477,12 | 2.317,95 | 0 | 36.714,60 |
Beantragte Unternehmensinsolvenzverfahren je 1.000 Betriebe, 2022 | 400 | 3,44 | 1,48 | 0,43 | 9,64 |
Anteil der Einwohner unter 18 Jahren an den Einwohnern in %, 2022 | 400 | 16,71 | 1,20 | 12,89 | 20,25 |
Anteil der Einwohner über 65 Jahren an den Einwohnern in %, 2022 | 400 | 19,71 | 2,65 | 13,53 | 28,52 |
Quelle: INKAR (2024), eigene Berechnungen
In der regionalen Verteilung des AfD-Stimmenanteils zur Europawahl zeigt sich neben den scharfen Ost-West-Unterschieden auch ein urbaner Effekt (vgl. Abbildung 1). Der Stimmanteil der AfD ist in Ostdeutschland um 17 Prozentpunkte höher als in Westdeutschland. Viele größere Städte (wie Berlin und München), aber auch kleinere Städte heben sich aufgrund geringer AfD-Stimmanteile deutlich von ihrem geografischen Umfeld ab. Anhand einfacher OLS-Regressionen schätzen wir zunächst den Einfluss von demografischen (Einwohnerdichte, Altersverteilung, Binnenwanderungssaldo der letzten zehn Jahre, Asyl- und Ausländeranteil sowie Einbürgerungen) und ökonomischen Einflussfaktoren (Arbeitslosigkeitsquote der letzten zehn Jahre, kommunale Schulden und Personal, Medianeinkommen und Kaufkraft, Unternehmensinsolvenzen) auf das Wahlverhalten. Tabelle 1 beschreibt die verwendeten Variablen, während die Ergebnisse in Tabelle 2 dargestellt werden.
Tabelle 2
Regressionsergebnisse
Abhängige Variable: Europawahlergebnis 2024 AfD in % |
||
---|---|---|
(1) | (2) | |
Zahl der Einwohner pro km², 2022 | 0,002*** | 0,001** |
Anteil der Einwohner unter 18 Jahren an den Einwohnern in %, 2022 | 1,077*** | 1,755*** |
Anteil der Einwohner über 65 Jahren an den Einwohnern in %, 2022 | 2,422*** | 1,953*** |
Durchschnittliches Binnenwanderungssaldo je 1.000 Einwohner, 2013 bis 2022 | -0,056* | -0,073*** |
Anteil Schutzsuchender an Bevölkerung in %, 2022 | -0,216 | -0,540*** |
Anteil der Ausländer an den Einwohnern in %, 2022 | 0,161* | 0,114 |
Einbürgerungen je 1.000 Einwohner, 2022 | -2,787*** | -1,396** |
Durchschnittliche Arbeitslosenquote in %, 2012 bis 2021 | 0,649*** | |
Kommunale Schulden in Euro je Einwohner, 2019 | -0,001*** | |
Personal der Kommunen je 10.000 Einwohner, 2019 | 0,022*** | |
Medianeinkommen der sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten in Euro, 2021 | -0,002*** | |
Kaufkraft je Einwohner in Euro, 2021 | -0,001*** | |
Beantragte Unternehmensinsolvenzverfahren je 1.000 Betriebe, 2022 | -0,361** | |
Konstante | -47,994*** | -32,566*** |
N | 400 | 400 |
R2 | 0,615 | 0,717 |
Angepasstes R2 | 0,608 | 0,707 |
Residuen Standardfehler | 4,745 (df = 392) | 4,101 (df = 386) |
F-Statistik | 89,403*** (df = 7; 392) | 75,110*** (df = 13; 386) |
*p<0,10; **p<0,05; ***p<0,01.
Quelle: INKAR (2024), eigene Berechnungen.
Wenn wir für demografische Variablen kontrollieren, zeigt sich, dass der Anteil der älteren (Ü65), aber auch der Anteil besonders junger Bürger (U18) einen positiven Einfluss auf den AfD-Stimmenanteil ausüben (Spalte 1). Interessanterweise finden wir einen positiven Effekt des Ausländeranteils, aber einen negativen Effekt der Einbürgerungen. Ersterer steht vermutlich für die Ankunft von Migranten in der jüngeren Vergangenheit, während letzterer zumindest teilweise die längerfristige Integration von Migranten abbildet. Im nächsten Schritt fügen wir die ökonomischen Variablen hinzu (Spalte 2). Während der starke positive Effekt der Arbeitslosigkeit zu erwarten war, sind der positive Einfluss von mehr Verwaltungspersonal und der negative Einfluss kommunaler Schulden etwas überraschend. Allerdings sind die Stärken der letzteren beiden Effekte recht gering. So verringern 1.000 Euro zusätzliche kommunale Schulden das erwartete Wahlergebnis der AfD um 1 %, während ein Personalzuwachs von 100 Mitarbeitenden das erwartete Wahlergebnis um 2,2 % erhöht, wenn alle anderen Faktoren konstant bleiben. Das Medianeinkommen sowie die Kaufkraft üben einen negativen Einfluss auf das AfD-Wahlverhalten aus.
Abbildung 2 stellt die Verteilung der Residuen der OLS-Regression dar. Sie kann als jener Teil der regionalen AfD-Präferenz interpretiert werden, der nicht durch die verwendeten demografischen und ökonomischen Merkmale erklärt wird und daher möglicherweise als kulturelle Prägung einer Region betrachtet werden kann. In der Karte fällt auf, dass die Ost-West-Unterschiede zwar weiterhin bestehen, jedoch deutlich schwächer ausgeprägt sind. Die Grenzen zwischen Niedersachen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sind weniger trennscharf als zuvor. Abgesehen von dem stark violett eingefärbten Kreis Lüchow-Dannenberg beobachten wir stattdessen einen heterogenen Flickenteppich, der sich von West nach Ost graduell verändert. Auch einige südliche Regionen Deutschlands weisen erhöhte AfD-Wahlquoten auf. Insgesamt sehen wir deutlich auffälligere punktuell-regionale AfD-Wahl-Präferenzen, etwa um Dresden, im südlichen Thüringen, aber auch in den ländlichen Räumen Bayerns und Baden-Württembergs sowie in einigen Städten innerhalb dieser Bundesländer. Auf Bundeslandebene heben sich Sachsen und Thüringen (und hier vor allem die ländlichen Regionen) nach wie vor durch ihre hohen AfD-Stimmanteile ab.
Abbildung 2
Verbleibende AfD-Präferenzen nach Einbezug demografischer und ökonomischer Merkmale
Die Abbildung basiert auf den Residuen der Regression in Spalte 3 in der Tabelle.
Quelle: INKAR (2024), eigene Berechnungen.
Wenn wir die Residuen in den östlichen und westlichen Kreisen nach Regionstyp darstellen, erkennt man, dass die sozioökonomischen Faktoren das Wahlverhalten in drei von vier Fällen gut erklären (vgl. Abbildung 3). Die Mittelwerte der Residuen sind nahe an der Null-Linie. Lediglich in ländlichen Räumen Ostdeutschlands liegen die AfD-Wahlquoten deutlich über jenem Wert, der durch die sozioökonomischen Merkmale der Kreise geschätzt wird. Kulturell-weltanschauliche Präferenzen stellen demzufolge hauptsächlich in diesen Regionen einen plausiblen Interpretationsansatz zur Erklärung des starken Abschneidens der AfD bei der Europawahl 2024 dar.
Abbildung 3
Verteilung und Mittelwerte der Residuen nach Regionstyp
Die Abbildung zeigt die Verteilung der Residuen unterteilt in ländliche und städtische Räume nach der Raumgliederung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Des Weiteren wird zwischen ost- und westdeutschen Kreisen unterschieden. Die schwarze, fett gedruckte Linie gibt den Median an. Die Box umrahmt die mittleren 50 % der Werte.
Quelle: INKAR (2024), eigene Berechnungen.
Schlussfolgerung
Wir zeigen, dass die scharfe Ost-West-Grenze in der kartografischen Darstellung des AfD-Stimmenanteils zum Teil durch sozioökonomische Unterschiede bedingt ist und sich nicht nur auf weltanschauliche Unterschiede zwischen Ost und West zurückführen lässt. Wenn man für diese Unterschiede in den Lebensumständen kontrolliert, zeigt sich eine weniger scharfe grafische Aufteilung in Ost und West. Stattdessen sehen wir beispielweise, dass sich die nördlichen Kreise in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen ähnlicher sind als es bei oberflächlicher Betrachtung des Wahlergebnisses erscheint, und dass bestimmte Regionen Bayerns und Baden-Württemberg ebenfalls eine stärkere rechte Prägung aufweisen.
Unsere Analyse zeigt weiterhin, dass in vielen Regionen Deutschlands der AfD-Stimmanteil durch „harte“ demografische und ökonomische Merkmale der Kreise erklärt werden kann. Das heißt, es gibt identifizierbare Lebensumstände der Menschen in diesen Regionen, die deren Wahlverhalten beeinflussen. Dies eröffnet grundsätzlich die Möglichkeit, durch politische Weichenstellungen diese Lebensumstände zu verändern. Gleichzeitig sind es vor allem ländliche Räume in Ostdeutschland, in denen diese Merkmale nicht ausreichen, um den hohen Stimmanteil der AfD zu erklären. Hier sind weitere Merkmale und somit unter anderem auch kulturelle und ideologische Faktoren relevant.
Literatur
Alesina, A. & Fuchs-Schündeln, N. (2007). Good-bye Lenin (or not?): The effect of communism on people‘s preferences. American Economic Review, 97(4), 1507–1528.
Bartholomae, F. W., Nam, C. W. & Rafih, P. (2022). Wahlerfolg der AfD und die Flüchtlingskrise: Spielen regionale Disparitäten eine Rolle? Wirtschaftsdienst, 102(11), 891–897.
Becker, S. O., Mergele, L. & Wößmann, L. (2020). The separation and reunification of Germany: Rethinking a natural experiment interpretation of the enduring effects of communism. Journal of Economic Perspectives, 34(2), 143–171.
Becker, S. O., Mergele, L. & Wößmann, L. (2021). Es liegt nicht alles am Sozialismus–über Ost-West-Unterschiede und ihre Ursprünge. Wirtschaftsdienst, 101(13), 32–36.
Cantoni, D., Hagemeister, F. & Westcott, M. (2019). Persistence and activation of right-wing political ideology.
INKAR – Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung. (2024). Laufende Raumbeobachtung des BBSR – INKAR Ausgabe 03/2024.
Ragnitz, J. (2016). Wahlerfolge der AfD im Osten – Reflex auf die ökonomische Lage? Wirtschaftsdienst, 96(10), 702-703.
Runst, P. (2013). Post‐socialist culture and entrepreneurship. American Journal of Economics and Sociology, 72(3), 593–626.
Schneider, L. (2020). Deindustrialisierung und Wahlverhalten. Wirtschaftsdienst, 100(10), 787–792.