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Dieser Beitrag ist Teil von Die ökonomischen Bedingungen einer neuen Sicherheitsarchitektur für Deutschland und Europa

Nach langem Ringen hat sich die Europäische Union (EU) erst im letzten Jahr auf eine umfassende Reform ihrer Fiskalregeln geeinigt. In wesentlichen Punkten hat diese Reform wichtige Verbesserungen gebracht. Verglichen mit dem alten Regelwerk folgen die neuen EU-Fiskalregeln stärker makroökonomischer Logik, sind besser auf die individuelle Situation der Mitgliedstaaten abgestimmt und führen deshalb gerade für hoch verschuldete Länder zu sinnvolleren Schuldenabbaupfaden.

Und trotzdem passen sie schon wenige Monate nach ihrer Einführung nicht mehr zu den fiskalpolitischen Realitäten auf dem europäischen Kontinent. Spätestens seit der Wahl Donald Trumps herrscht in Europa große Einigkeit darüber, dass die EU massiv und schnell in die eigene Verteidigungsfähigkeit investieren muss. Wirtschaftlich und politisch wird das nur gelingen, wenn große Teile dieses Aufwuchses erst einmal über Schulden finanziert werden können, bevor sie dann langfristig über höhere Einnahmen oder Kürzungen an anderen Stellen gedeckt werden müssen. Doch das neue Regelwerk lässt für eine solche Schuldenfinanzierung der zusätzlichen Verteidigungsausgaben in nur sehr wenigen Ländern ausreichend Spielraum. Hinzu kommt, dass der Fall Deutschland gerade eindrucksvoll beweist, dass die Regeln für Länder mit Schuldenständen nahe der 60 % zu makroökonomisch fragwürdigen Ergebnissen kommen.

Die deutsche Reform der Schuldenbremse wurde von Märkten und in anderen Mitgliedstaaten bejubelt. Auch die Europäische Kommission fordert von Deutschland seit Jahren eine Ausweitung seiner Investitionstätigkeit. Trotzdem könnte die nächste Bundesregierung ihren neuen Investitionsspielraum insbesondere im Rahmen des neuen Sondervermögens für Infrastruktur und Klimaschutz nun kaum nutzen, ohne gegen die EU-Regeln zu verstoßen. Ökonomisch ist das wenig sinnvoll, politisch wird es kaum durchzuhalten sein.

Aus all dem folgt: Die Regeln müssen angepasst werden, wenn sie dem notwendigen Aufwuchs der Verteidigungsausgaben und mehr Investitionen in (Ländern wie) Deutschland nicht im Weg stehen sollten.

Doch die EU-Kommission sieht das bisher anders: Sie will keine Änderung der Regeln. Stattdessen schlägt sie vor, die neuen Regeln in der Anwendung so sehr zurechtzubiegen, dass sie neuen Verteidigungsausgaben nicht im Weg stehen. Das kann kurzfristig Abhilfe schaffen, wäre aber dennoch ein Fehler. Die EU-Fiskalregeln basieren in erster Linie auf Glaubwürdigkeit und Gruppenzwang. Beides ist akut gefährdet, wenn die Kommission schon im ersten Anwendungsjahr signalisiert, dass die Regeln maximal kreativ interpretierbar sind. Dann verlieren sie de facto ihre Bindungswirkung, denn dann werden alle Mitgliedstaaten ihrerseits eine maximal kreative Interpretation zu ihren Gunsten einfordern. Das Ergebnis wäre eine Schwächung der EU-Finanzarchitektur zum schlechtmöglichsten Zeitpunkt – das Letzte, was Europa angesichts der vielen globalen Brandherde braucht, ist eine Neuauflage der Eurokrise.

Stattdessen sollte die EU die Fiskalregeln noch einmal gezielt anpassen. Eine Reform sollte zum einen alle zusätzlichen Verteidigungsausgaben über 2 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bis zu einem noch zu bestimmenden neuen NATO-Ziel für acht Jahre von den Fiskalregeln ausnehmen. Zum anderen sollte sie Ländern mit Schuldenquoten von unter 90 % gegen Investitions- und Reformzusagen dauerhaft höhere Verschuldungsspielräume einräumen. Angesichts der gerade erst abgeschlossenen Reformdebatte mag das politisch aufwendig und zermürbend scheinen. Unter einigen schlechten Optionen ist es aber derzeit die mit Abstand beste.

Die neuen EU-Fiskalregeln: Kaum Platz für schuldenfinanzierte Verteidigungsausgaben

Die EU-Mitgliedsländer werden ihre Verteidigungsausgaben in den kommenden Jahren massiv und schnell steigern müssen. Seit 2021 haben viele Mitgliedstaaten ihre Militärausgaben zwar deutlich ausgeweitet (Abbildung 1). Wenn Europa seine Verteidigung aber in den kommenden Jahren tatsächlich deutlich stärker als bisher in die eigenen Hände nehmen möchte, wird das nicht reichen. Ein neues Ausgabenziel ist noch nicht definiert. Inzwischen gehen die meisten Expert:innen aber von Größenordnungen von mindestens 3 % aus; die tatsächlichen Bedarfe könnten noch deutlich darüber liegen.

Abbildung 1
Durchschnittliche Militärausgaben in der EU
Durchschnittliche Militärausgaben in der EU

Quelle: SIPRI (2025).

Dabei handelt es sich bei Verteidigungsausgaben nicht im klassischen Sinne um Investitionen. Positive Effekte auf Wachstum und Wachstumspotenzial sind zwar möglich, aber ein Nebeneffekt der getätigten Ausgaben. Entsprechend finanzieren sich Militärausgaben nur in seltenen Fällen systematisch selbst und sollten langfristig durch höhere Steuern oder Einsparungen in anderen Bereichen getragen werden. Dennoch spricht einiges dafür, einen massiven Aufwuchs der Verteidigungsausgaben kurzfristig über höhere Defizite zu finanzieren, solange Staaten sich höhere Defizite leisten können: Zum einen sind die heutigen Ausstattungsslücken in vielen Mitgliedsländern über Jahrzehnte entstanden. Die Kosten, um diese Lücken nun schnell zu füllen, sollten entsprechend über einen längeren Zeitraum gestreckt und nicht nur einer Generation aufgebürdet werden. Zudem wäre eine Finanzierung aus den laufenden Haushalten weder politisch noch ökonomisch sinnvoll: Die dazu notwendigen Steuererhöhungen oder Einsparungen würden die Wirtschaft in einer ohnehin fragilen Lage weiter belasten und die politische Unterstützung für notwendige Aufrüstung absehbar schwächen.

Vorschlag der Kommission: Flexibilität über nationale Ausweichklauseln

In der EU herrscht daher mittlerweile weitgehend Einigkeit darüber, dass die zusätzlichen Verteidigungsausgaben neue Schulden notwendig machen. Allerdings wäre das bei regulärer Anwendung der neuen EU-Fiskalregeln derzeit in keinem Mitgliedsland möglich. Keiner der bisher zwischen Kommission und Mitgliedstaaten vereinbarten Ausgabenpfade lässt einen starken schuldenfinanzierten Aufwuchs der Verteidigungsausgaben zu. Für die allermeisten Mitgliedstaaten würde er mit der Eröffnung eines Defizitverfahren einhergehen – entweder weil sie zu stark vom vereinbarten Ausgabenpfad abweichen müssten oder weil die zusätzlichen Schulden sie über die 3 %-Defizitgrenze bringen würden. Für die sechs Länder, die sich bereits in einem Defizitverfahren befinden, würde ein solcher Aufwuchs zusätzlichen Anpassungsdruck bedeuten und könnten am Ende des Weges sogar zu finanziellen Sanktionen führen.

Um das zu verhindern, schlägt die Europäische Kommission vor, das neue Regelwerk für den Verteidigungsbereich flexibel anzuwenden. Die Europäische Kommission (2025) fordert alle Mitgliedsländer dazu auf, bei ihr die Aktivierung der sogenannten nationalen Ausweichklauseln zu beantragen. Diese Möglichkeit erlaubt es Mitgliedstaaten, von den vereinbarten Ausgabenpfaden abzuweichen, wenn „außergewöhnliche Umstände, die sich der Kontrolle des Mitgliedstaats entziehen und erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen des betreffenden Mitgliedstaats haben“ vorliegen. In diesem Fall kann der betroffene Mitgliedstaat eine Aktivierung ersuchen, über die der Rat dann auf Empfehlung der Kommission entscheidet.

In der Verordnung ist diese Abweichung als individuelle Möglichkeit für einzelne Mitgliedsländer in besonderen Umständen angelegt. Um der aktuellen Situation gerecht zu werden, schlägt die Kommission nun aber vor, nationale Ausweichklauseln „koordiniert“ anzuwenden. Dabei soll die Klausel für alle Länder aktiviert werden – allerdings ausschließlich für Ausgaben im Verteidigungsbereich. Für alle anderen Bereiche sollen die vereinbarten Ausgabenpfade weiterhin regulär gelten.

Zudem soll es auch für Abweichungen im Verteidigungsbereich eine Obergrenze für zusätzliche schuldenfinanzierte Ausgaben in Höhe von 1,5 % des BIPs im Vergleich zum Referenzjahr 2021 geben. Aufwüchse, die darüber hinausgehen, müssen im Rahmen der regulären Ausgabenpfade finanziert werden. Damit möchte die Kommission verhindern, dass Länder wie Polen oder Estland, die ihre Verteidigungsausgaben in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg bereits deutlich erhöht und dafür anderweitig gespart haben, von der neuen Regel benachteiligt werden. Diese Länder können die bereits bestehende Differenz zu 2021 nun für zusätzliche Ausgaben in anderen Bereichen nutzen. Für Länder wie Italien oder Portugal, die ihre Militärausgaben seit 2021 kaum erhöht haben, entsteht zusätzliche Flexibilität ausschließlich im Verteidigungsbereich (Abbildung 2). Zudem sollen die Ausweichklauseln zunächst allgemein für vier Jahre gelten. Dann laufen auch die derzeit vereinbarten Ausgabenpfade aus. Ab diesem Zeitpunkt müssten die Mitgliedsländer ihre Verteidigungsausgaben dann wieder innerhalb der dann neu zu bestimmenden Ausgabenpfade finanzieren.

Abbildung 2
Wachstum der Verteidigungsausgaben
Wachstum der Verteidigungsausgaben

Die Angaben für 2024 sind Schätzungen.

Quelle: eigene Darstellung basierend auf NATO (2024).

Auf den ersten Blick scheint der Vorschlag der Kommission eine pragmatische Möglichkeit zu sein, auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren, ohne die gerade erst beschlossene Reform neu aufrollen zu müssen. Das übersieht allerdings, dass er mit erheblichen Risiken für die Glaubwürdigkeit der Finanzarchitektur der EU einhergeht. Tatsächlich wäre es ein gravierender Fehler, mittelfristig auf diese Lösung zu bauen.

Problem 1: Kaum Differenzierung zwischen Ländern

Die vorgeschlagene Anwendung der nationalen Ausweichklauseln unterscheidet kaum zwischen der makroökonomischen Ausgangslage verschiedener Mitgliedsländer. Dabei war ein zentraler Fortschritt bei der Reform der EU-Fiskalregeln, dass Ausgabenpfade und damit Schuldenabbaupläne sehr viel stärker als bisher auf das individuelle Schuldentragfähigkeitsrisiko der jeweiligen Mitgliedstaaten abgestimmt werden können. Der Vorschlag der Kommission für den Fall der Ausweichklauseln steht nun quer zu dieser Philosophie. Alle Mitgliedsländer erhalten einen zusätzlichen jährlichen Verschuldungsspielräum von 1,5 % des BIP unabhängig von Schuldenquoten, aktuellen Defiziten oder Wachstumsprognosen.

Das wäre kein Problem, wenn die Schuldentragfähigkeit in allen Mitgliedstaaten über jeden Zweifel erhaben wäre. Leider ist das nicht der Fall. Tatsächlich verfügen viele EU-Länder derzeit über erheblichen zusätzlichen Verschuldungsspielraum. Das gilt etwa für Länder wie Dänemark oder die Niederlande, deren Schuldenquoten und Defizite die Maastricht-Grenzen aktuell nicht verletzen. Es gilt auch für Länder wie Deutschland oder Finnland, die zwar oberhalb der 60-Prozent-Marke liegen, sich angesichts ihrer makroökonomischen Gesamtlage aber in größerem Umfang weiter verschulden können, ohne die Tragfähigkeit ihrer öffentlichen Finanzen ernsthaft zu gefährden.

In anderen EU-Ländern besteht dagegen tatsächlich Grund zur Sorge. Die italienische Staatsschuldenquote liegt derzeit bei 137 %, das jährliche Defizit bei 4 % des BIP. In Frankreich ist die Staatsverschuldung in den letzten Jahren auf 113 % des BIP gestiegen und die Regierung kämpft seit Monaten darum, ein Defizit von über 6 % in den Griff zu bekommen – bislang mit gemischter Bilanz. Das ist besonders prekär, weil sowohl Italien als auch Frankreich derzeit hohe Defizite fahren, obwohl sich ihre Wachstumsraten in den letzten Jahren durchaus sehen lassen konnten. Das schränkt den Spielraum auf mögliche wirtschaftliche Schwächephasen zu reagieren, schon heute erheblich ein. Bislang stuft der Internationale Währungsfonds das Schuldentragfähigkeitsrisiko der beiden Länder als moderat ein. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist aber, dass sowohl Italien als auch Frankreich ihre Schulden im Rahmen glaubwürdiger EU-Fiskalregeln in den nächsten Jahren erheblich reduzieren.

Abbildung 3
Staatsverschuldung und Haushaltsdefizite 2024
Staatsverschuldung und Haushaltsdefizite 2024

Die gestrichelten Linien zeigen die Maastrichtkriterien für die jährliche Neuverschuldung (3 % des BIP) und die Schuldenquote (60 % des BIP).

Quelle: eigene Darstellung basierend auf Europäische Kommission (2024).

Eine kluge Ausnahmeregel müsste diese Unterschiede berücksichtigen. Staaten, die sich zusätzliche Verschuldung problemlos leisten können, sollten in den nächsten Jahren so viel Spielraum wie nötig bekommen, um die Verteidigungsfähigkeit des Kontinents auch auf Kosten neuer Staatsschulden zu stärken. Für Länder, deren Schuldentragfähigkeit ernsthaft in Frage steht, sollte die finanzpolitische Stabilisierung weiterhin Priorität haben – selbst wenn das bedeutet, dass sie im Verteidigungsbereich einen geringeren Beitrag leisten als andere. Die platte Anwendung der nationalen Ausweichklausel auf alle Länder ist keine solche kluge Ausnahme.

Problem 2: Wenig Planungssicherheit

Finanzpolitisch braucht es im Verteidigungsbereich in den nächsten Jahren Planungssicherheit auf zwei Ebenen. Erstens benötigen Länder, die sich mehr Verschuldung leisten können, ausreichend Planungssicherheit, um langfristige Aufträge im großen Umfang an die Industrie zu vergeben. Nur so können Rüstungsunternehmen ihre Produktionskapazitäten hochfahren, Skaleneffekte erzielen und Kosten senken. Gleichzeitig muss aber auch klar sein, ab wann Mitgliedsländer ihre Verteidigungsausgaben wieder innerhalb der regulären Haushaltsplanung finanzieren müssen. Nur dann entsteht der notwendige politische Druck, die eigentlich konsumtive Militärausgaben mittelfristig tatsächlich durch höhere Steuern oder Einsparungen zu decken.

Nationale Ausweichklauseln bieten keines von beidem. Laut Vorschlag der EU-Kommission sollen sie zunächst nur für vier Jahre gelten. Das ist ein zu kurzer Zeithorizont für die meisten Beschaffungsverträge, die jetzt geschlossen werden dürften. Im nächsten Planungszyklus müssten Mitgliedsländer ihre Ausgaben dann wieder im Rahmen ihrer Ausgabenpfade finanzieren. Wenn Schuldenquoten und Defizite aufgrund der Ausweichklauseln in den nächsten Jahren steigen, müsste dann sogar zusätzlich konsolidiert werden. Das gibt kaum Zeit oder Platz für Projekte, die Europas Verteidigungslücke glaubhaft schließen könnten. Es bedeutet aber auch, dass der politische Druck, die Ausweichklauseln einfach zu verlängern, enorm sein wird. Als Ad-Hoc-Instrument könnte die Kommission das ohne Probleme tun – eine Verlängerung um ein, zwei oder sogar vier Jahre wäre jederzeit möglich.

Der Vorschlag der Kommission kombiniert damit das schlechteste aus zwei Welten. Er bietet weder ausreichend Planungssicherheit für Mitgliedsländer und Industrie noch ein glaubwürdiges Ablaufdatum, das signalisiert, dass Verteidigungsausgaben mittelfristig nicht durch Schulden finanziert werden sollten. Beides wäre nur über eine echte Reform der Fiskalregeln zu erreichen.

Problem 3: Regulatorischer Free Jazz

Die Kommission verfolgt in ihrer Mitteilung ein klares Ziel: Sie will den Mitgliedstaaten mehr Spielraum für Militärausgaben ermöglichen, die Regeln aber sonst ganz normal weiter anwenden können. Das ist politisch nachvollziehbar, erzeugt aber ein Problem: Eine Sonderbehandlung bestimmter Ausgaben sehen die Regeln nicht vor. Eine goldene Regel für Verteidigungsausgaben (und auch für andere Ausgabenkategorien) war im Rahmen der gerade verabschiedeten Reform sogar explizit diskutiert und verworfen worden. Weil die Kommission aber die Wiedereröffnung der Regeln aus Angst vor Blockaden scheut, verlegt sie sich auf eine sehr kreative Interpretation der bestehenden Regeln.

Wichtigstes Beispiel: Laut Verordnung sollte die Aktivierung der Nationalen Ausweichklausel eigentlich dazu führen, dass das sogenannte Kontrollkonto keine Abweichungen vom Ausgabenpfad mehr verbucht. Dieses Kontrollkonto ist der zentrale Überwachungsmechanismus im neuen Regelwerk. Sobald es keine Abweichungen mehr registriert, können die Auslöseschwellen für ein Defizitverfahren nicht mehr erreicht werden. Entsprechend verliert die Kommission die Möglichkeit, Mitgliedsländer aufgrund einer Abweichung vom Ausgabenpfad ins Defizitverfahren zu befördern. Damit wären die Regeln de facto ausgesetzt.

Dies ist der Kommission offensichtlich bewusst: Sie interpretiert die Regeln deshalb so, dass sie das Kontrollkonto nur für Verteidigungsausgaben abschalten kann. Für alle anderen Ausgaben soll es weiter Abweichungen verbuchen können. Dies ist eine extrem weitgehende Interpretation des Wortlauts der Regeln – regulatorischer Free Jazz. Diese Art der kreativen Interpretation findet sich auch an anderen Stellen. Etwa, indem die Kommission einfach von einer Abschaltung der Defizit- und Schuldenstandsklauseln in den Regeln ausgeht, wenn die Ausweichklausel gezogen ist. Oder indem sie die Ausweichklausel erst einmal für vier Jahre einräumt, aber diese Flexibilitäten auch für Beschaffungsverträge einräumen will, die länger als vier Jahre laufen.

Inhaltlich sind all diese Schritte nachvollziehbar. Kreative Interpretationen der Regeln sind zudem nichts Ungewöhnliches. Die Kommission hat von dieser Möglichkeit immer wieder Gebrauch gemacht, zuletzt etwa, um in den späten 2010er Jahren mehr Investitionen zu ermöglichen. Dabei ist auch zweitrangig, ob die von der Kommission gewählten Interpretationen im engeren Sinne rechtlich zulässig sind: Die Regeln funktionieren nicht aufgrund ihrer rechtlichen Bindungswirkung und Einklagbarkeit, sondern aufgrund von Gruppenzwang unter den Mitgliedstaaten und wegen ihrer Signalwirkung gegenüber den Finanzmärkten.

Und hier ist das eigentliche Problem dieses Free Jazz‘: Er betrifft anders als in den 2010er Jahren nicht nur eine handvoll, sondern alle Mitgliedstaaten. Er ist sehr weit von Wortlaut und Systematik der Regeln entfernt. Und er findet im Jahr eins nach Inkrafttreten der Reform statt und damit zu einem Zeitpunkt, in der die neuen Regeln noch keinerlei Glaubwürdigkeit aufgebaut haben. Die große Gefahr ist daher, dass sich die Kommission mit dieser Interpretation selbst in eine tiefe Rücklage gebracht hat: Es ist schwer vorstellbar, dass es der Kommission vor dem Hintergrund ihrer eigenen regulatorischen Improvisationsübungen jetzt noch gelingt, Mitgliedstaaten davon abzuhalten, die Regeln auch außerhalb des Verteidigungsbereichs maximal kreativ auszulegen. So könnte es in den nächsten Jahren beispielsweise sehr schwer werden, Länder aufgrund eines volllaufenden Kontrollkontos in ein Defizitverfahren zu schicken: Sie können schlüssig argumentieren, dass das Konto in Zeiten der Ausweichklausel eigentlich vollständig abgeschaltet sein müsste.

Sehr viel plausibler ist anzunehmen, dass die Kommission mit ihrer Interpretation die Regeln zumindest für die Dauer der Aktivierung der nationalen Ausweichklauseln bereits de facto ganz ausgeschaltet hat und sie auch bei Verstößen jenseits der Verteidigungsausgaben keine Durchsetzungsschritte mehr unternehmen wird.

Problem 4: Deutschland

Ob die Kommission eine Durchsetzung der Regeln trotz Ausweichklauseln in den kommenden Jahren im Kreuz hat, bleibt abzuwarten. Wenn sie allerdings mit ihrer Mitteilung politisch Recht behält und die Regeln für Ausgabenbereiche jenseits der Verteidigungsausgaben weiter anwendet, läuft sie absehbar in ein ganz anderes Problem: die neue deutsche Bundesregierung. Mit den weitreichenden Änderungen der Schuldenbremse und der Einrichtung des neuen Sondervermögens für Infrastruktur und Klimaschutz hat sich Deutschland auf einen Schlag einen erheblich größeren Verschuldungsspielraum geschaffen – und kommt damit absehbar in Konflikt mit den EU-Regeln.

Bisher war die Schuldenbremse für Deutschland für gewöhnlich restriktiver als die EU-Regeln (Guttenberg & Redeker, 2024). Allerdings wurde schon in der Endphase der Ampelregierung deutlich, als die Bundesregierung mit der Kommission den deutschen Ausgabenpfad zu verhandeln versuchte, dass zwischen der alten Schuldenbremse und den europäischen Fiskalregeln kein großer Spielraum bestand. Das liegt vor allem daran, dass Deutschlands Schuldenstand weiter knapp über 60 % liegt, seine Wirtschaft derzeit kaum wächst und eine alternde Bevölkerung mittelfristig wenig Wachstum und hohe Ausgaben bedeutet. Für diese Kombination spuckt die Berechnungsmethode unter den neuen Regeln einen relativ restriktiven Ausgabenpfad aus.

Mit der Grundgesetzreform ändert sich diese Ausgangslage fundamental. Plötzlich sind die EU-Regeln deutlich restriktiver als die Schuldenbremse. Die erhöhten Verteidigungsausgaben, die in der Schuldenbremse nun möglich sind, werden zwar zumindest in den ersten Jahren von der Ausweichklausel noch abgedeckt werden. Jenseits davon schaffen die beschlossenen Reformen aber großen zusätzlichen Spielraum, der zu einem Konflikt mit dem EU-Regeln führen dürfte: Die Länder erhalten 0,35 % des BIP jährlich als eigene strukturelle Verschuldungskomponente, dazu kommt das neue Sondervermögen mit etwas mehr als 1 % pro Jahr.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass durch Verschiebeeffekte innerhalb der Ausweichklausel ein Teil dieser zusätzlichen Schulden noch innerhalb der Regeln abbildbar sind: Sobald das Geld aus dem Sondervermögen in größerem Maße abfließt, wird Deutschland mit den Regeln kollidieren. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder die Bundesregierung hält sich an die Regel und stärkt damit die Glaubwürdigkeit der neuen EU-Regeln. Das hieße aber, dass kaum Geld aus dem Sondervermögen abfließen könnte, dass das Wachstum nicht angekurbelt würde und notwendige Infrastrukturinvestitionen weiter nicht getätigt würden. Wirtschaftspolitisch kann man sich das kaum wünschen. Politisch ist ohnehin nur schwer vorstellbar, dass Ursula von der Leyen ihrem Parteifreund Friedrich Merz höhere Infrastrukturinvestitionen versagt – nachdem die Kommission Deutschland seit Jahren zu genau diesen Ausgaben gedrängt hatte.

Das sehr viel wahrscheinlichere Szenario ist daher, dass die Bundesregierung sich einfach nicht um die europäischen Vorgaben kümmert. Sie könnte darauf hoffen, dass die Kommission im Zweifel Wege findet, für Deutschland ein Auge zuzudrücken, oder sich sogar ein Defizitverfahren aufhalsen lassen. Das Geld würde sie aber trotzdem weiter ausgeben.

Makroökonomisch gäbe es dafür sowohl aus deutscher als auch aus europäischer Perspektive gute Gründe: Deutschland braucht Investitionen für höheres Wachstum, Europa würde sowohl vom höheren deutschen Wachstum als auch von der besseren Infrastruktur in seiner Mitte profitieren und Deutschland kann sich die notwendigen Schulden leisten. Allerdings wären spätestens dann die Regeln endgültig jeglicher Glaubwürdigkeit beraubt.

Ausblick: Warum die Regeln geändert werden müssen

Alle vier Probleme führen auf einen klaren Lösungsweg: Eine gezielte erneute Änderung der Regeln. Zum einen könnten Verteidigungsausgaben über einer bestimmten Schwelle, etwa 2 % des BIP, für einen bestimmten Zeitraum, z. B. acht Jahre, von den Regeln ausgenommen werden. Dies wäre dann keine Interpretationsübung der Kommission, sondern eine klare Ansage des europäischen Gesetzgebers. Die Regeln würden damit außerhalb des Verteidigungsbereichs weiter glaubwürdig gelten. Zum anderen könnten die Regeln so angepasst werden, dass sie für Mitgliedstaaten mit Schuldenständen zwischen 60 % und 90 % mehr Verschuldung für wachstumsfördernde Investitionen zulassen, während sie für hochverschuldete Länder weiter restriktiv bleiben. Dies wäre voll im Geist der ursprünglichen Reform, die auf eine deutlich stärkere Berücksichtigung länderspezifischer Gegebenheiten abzielte.

Ohne eine solche Änderung wird die Kommission notgedrungen weiter auf Free Jazz zurückgreifen müssen. Ehrlicherweise wäre sie damit auch gut beraten, denn weder die Sicherheits- noch die makroökonomische Lage erlauben eine zu restriktive Handhabung der Regeln. Allerdings gefährdet dieser Free Jazz akut die Glaubwürdigkeit der Regeln in einem Moment, in dem ein robustes makroökonomisches Rahmenwerk wichtiger denn je ist, um eine neue Eurokrise schon im Keim zu ersticken. Gerade Ländern wie Deutschland, die immer an der Spitze der Regelverfechter waren, stünde es gut an, hier klar Stellung zu beziehen: Für eine Änderung der Regeln im Sinne eines glaubwürdigen Regelwerks – und der Sicherheit und des Zusammenhalts in Europa.

Literatur

Europäische Kommission. (2024). Annual macro-economic database of the European Commission‘s Directorate General for Economic and Financial Affairs (AMECO) [Datensatz].

Europäische Kommission. (2025). White Paper for European Defence and the ReArm Europe Plan/Readiness 2030. Communication from the Commission.

Guttenberg, L., & Redeker, N. (2024). Luft nach oben: Wieso die EU-Fiskalregeln Spielraum für eine Reform der Schuldenbremse lassen. Policy Brief. Bertelsmann Stiftung.

NATO. (2024, Juni 17.). Defence Expenditure of NATO Countries (2014-2024) [Pressemeldung].

SIPRI – Stockholm International Peace Research Institute. (2025). Military Expenditure Database.

Title: For More Security: Why and How the EU Should Reform the Fiscal Rules (Again)?

Abstract: Although the new EU fiscal rules improve the macroeconomic logic and differentiation, they offer very little leeway for urgently needed, debt-financed defence spending. However, the EU Commission‘s proposal to solve this via flexible escape clauses undermines the credibility of the rules. A new reform is necessary: defence spending above 2% of GDP should be exempted for a limited period of time and growth-promoting investments in countries with moderate levels of debt should be facilitated. This is the only way to reconcile security, fiscal stability and regulatory compliance in the long term.

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© Der/die Autor:in 2025

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2025-0067

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