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Dieser Beitrag ist Teil von Die ökonomischen Bedingungen einer neuen Sicherheitsarchitektur für Deutschland und Europa

Zeitenwende war das Wort des Jahres 2022. Es fand, unverändert, sofort Eingang in die englische Sprache. So wie Weltanschauung, Weltschmerz. Und Kindergarten. Mehr Worte braucht man auch nicht, um die deutsche Verteidigungspolitik der letzten Jahrzehnte zusammenzufassen.

Die eigentliche Zeitenwende aber fand nicht im Jahr 2022 statt, nicht am 24. Februar 2022, als Putin Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Auch nicht 2014 mit der Annexion der Krim. Auch nicht im Juli 2008, als russische Truppen in Georgien einfielen. Und auch nicht in diesen Tagen, in denen sich die USA von Europa und der NATO zu verabschieden scheint. Die entscheidende Zeitenwende, die alle weiteren bedingt hat, wurde 1989 mit dem Mauerfall und dem Ende des Warschauer Paktes zwei Jahre später eingeläutet. Um es in den Worten des Butter-Kanonen-Bildes zu formulieren: Moskau konnte mit seiner ineffizienten zentralen Planwirtschaft nicht mehr mitrüsten (Kanonen produzieren), ansonsten wären keine Ressourcen für zivile Güter (Butter) übrig geblieben.1

Die Zeitenwende fand in den Köpfen der Deutschen statt – fairerweise muss man hinzufügen, zum Teil auch in denen mancher europäischer Nachbarn, wenn auch nicht in denen der ehemaligen Moskauer Satellitenstaaten –, fast so, als sei ein Schalter umgelegt worden, ein zukünftiger Krieg auch nur als Möglichkeit wurde wegdefiniert. Bis 1990 hatten die Verteidigungsausgaben in Deutschland sich auf mindestens 2,5 % des Bruttosozialproduktes belaufen, zwischenzeitlich auf deutlich über 3 %, und die Ausgaben für soziale Sicherung hielten sich mit den Ausgaben für Verteidigung ungefähr die Waage. Beide machten jeweils rund 25 % der Ausgaben des Bundes aus. Aber wo keine Kriegsbedrohung, wer braucht dann noch Verteidigung, denn gegen wen eigentlich? Man nannte es „Friedensdividende“, und die galt es jetzt zu verteilen, vor allem, aus Sicht eines auf Wiederwahl bedachten Politikers, welch schöne Wahlgeschenke würde man verteilen können. Folgerichtig wurden die Verteidigungsminister dann auch nicht mehr „Bundesminister für Verteidigung“, sondern Bundesminister gegen Verteidigung. Und die Ausgaben für soziale Sicherung stiegen auf mehr als das Viereinhalbfache derer für Verteidigung.

Niemand fragte, warum wir den Kalten Krieg gewonnen hatten. Es wäre vielleicht zu einem Systemvergleich ausgeartet – Marktwirtschaft versus Sozialismus – und wir waren ja gerade erst wiedervereinigt worden. Das kapitalistische mit dem sozialistischen Deutschland. Und schlimmer: Niemand blickte zurück in die Geschichte, noch nicht einmal in die der ersten Hälfte des Jahrhunderts, als nach den schrecklichen Erfahrungen des „Großen Krieges“ – man wusste ja 1918 nicht, dass nur 21 Jahre später der nächste Krieg folgen würde, erst dann begann man mit dem Zählen – sich die Welt in pazifistischen Wunschvorstellungen erging.

Das amerikanische Merriam-Webster Dictionary nennt „Weltanschauung“ eine Ideologie, das Oxford Dictionary eine besondere Sicht der Welt. Man könnte auch Glauben sagen, man glaubt etwas, Wissen spielte keine Rolle mehr. So wie man in den 1920er- und 1930er-Jahren glaubte, der Pazifismus würde den Weltfrieden bescheren. Nur hat dieser Pazifismus Hitler nicht nur fast den Sieg geschenkt, er hat Hitler überhaupt erst zum Krieg ermutigt. Die Rechnung ist ganz einfach. Wann fange ich keinen Krieg an? Wenn die Kosten zu hoch sind. Wovon hängen die Kosten ab? Von der militärischen Stärke des Gegners.

Die Römer hatten das schon vor 2000 Jahren erkannt: „Si vis pacem para bellum“ – wenn Du Frieden willst, bereite Dich auf den Krieg vor. Wer die Worte zum ersten Mal in genau dieser Form sprach, ist unklar. Ein bisschen könnte es sogar Küchenlatein sein. Der dahinterstehende Gedanke aber ist das Wichtige. Manche schreiben ihn Cicero zu, 43 vor Christi, manche die Idee sogar Plato. Am nächsten kommt vielleicht Flavius Vegetius Renatus, ein Militärtheoretiker um 400 nach Christi, mit „Qui desiderat pacem, bellum praeparet“. Denn wie eigentlich überall, wenn etwas gelingen soll, muss auch der Krieg geübt werden, nur üben muss man immer vor der Aufführung, nicht währenddessen oder gar danach.2

Aber es gibt einen großen Unterschied zu allem anderen, was man üben oder proben kann, um es dann auch zu zeigen und aufzuführen. Am besten wird dieser Unterschied durch das Motto des 1946 gegründeten Strategic Air Command verdeutlicht, also dem Teil der US-amerikanischen Luftwaffe, dessen Aufgabe es in einem nuklearen Krieg gewesen wäre, aus der Luft den Zweitschlag zu führen (Atomwaffentragende U-Boote gab es erst später): „Peace is our profession“, Frieden ist unser Beruf. Natürlich musste man auch einen Zweitschlag führen üben, aber genauso natürlich wollte man das nie umsetzen müssen. Nur, es war wichtig, den Gegner wissen zu lassen, dass man das kann, und dass man es auch tun würde. Abgekürzt nannte man es die „MAD-Strategie“, eine Buchstabenspielerei: was auf den ersten Blick verrückt („mad“) klang, die Vernichtung der Welt zu üben, es waren die jeweils die Anfangsbuchstaben von „Mutually Assured Destruction“, d. h. man versicherte sich, sich gegenseitig zu zerstören, und damit würde auch niemand einen Erstschlag versuchen.

Das Strategic Air Command war, wie man in der Spieltheorie sagt, ein Signal, es sollte sowohl Fähigkeit als auch Entschlossenheit signalisieren. Will man jemandem möglichst einfach die Essenz von Signalspielen vermitteln, so wäre es keine schlechte Wahl mit dem „Dating Game“ zu beginnen. Ein junger Mann hat sich unsterblich verliebt und – so hätte man es früher einmal formuliert – hält um die Hand einer jungen Dame an. Doch könnte es sich bei dem Freier genauso gut auch um jemanden handeln, der weniger ehrenhafte Absichten hat. Und so weiß sie nicht, wie sie sich entscheiden soll. Die Lösung ist ein Signal. Da ihm ein „ja“ von ihr wesentlich mehr bedeuten würde als dem, für den sie nur eine unter vielen ist, könnte er seine Absichten dadurch signalisieren, dass er ihr ein Geschenk macht, dass für den anderen, bedingt durch das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens, zu teuer wäre. Im Spiel wäre das dann zum Beispiel ein Diamantring (Dixit & Skeath, 1999, S. 412ff). Doch was wie eine nette Geschichte – didaktisch nie schlecht – erscheinen mag, die wichtigste Lektion kann schon gelernt werden: Signale müssen etwas kosten, denn sonst könnte jeder sie senden, egal was seine Absichten sind, oder für das Dating Game, eine Rose für einen Euro würde es nicht tun.

Ein Beispiel für Signaling aus dem militärischen Bereich: Um einem potentiellen Angreifer klar zu machen, dass sein Angriff ihn teuer zu stehen kommen wird, muss man, wie oben bereits erwähnt, seine Verteidigungsfähigkeit „beweisen“, muss sie auch demonstrieren können. Dies macht man in Manövern oder militärischen Übungen. Und deswegen lädt man Militärbeobachter des Gegners ein. Damit er sehen kann, was ihn erwarten würde.3

Weitere Funktionen von Signalen

Signale können aber nicht nur Fähigkeiten, sondern auch Entschlossenheit vermitteln. Ein Beispiel ist der von Trump befohlene Raketenangriff vom 3. Januar 2021 auf die Fahrzeugkolonne von General Qasem Soleimani, Kommandeur der für die Unterstützung von islamistischen Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah sowie Anschläge auf US-Bürger im Nahen Osten verantwortlichen Quds-Brigade der iranischen Revolutionsgarde. Soleimani wurde wie beabsichtigt dabei getötet. Jack Carr, ein ehemaliger Navy Seal, brachte die dahinterstehende Logik auf den Punkt: „I didn’t celebrate. I didn’t cheer. I didn’t gloat. … Iranian political and military leadership, including Gen. Soleimani, neglected one of the most ancient maxims in the history of warfare: know thy enemy“ (Carr, 2020). Mit anderen Worten, es ging nicht um Rache für getötete Amerikaner. Es war ein Versprechen an Irans Führung, und Soleimanis Nachfolger, dass sie in Zukunft mit der gleichen Entschlossenheit Amerikas zu rechnen hätten.

Bleiben jedoch Signale aus, könnte es zu einem unbeabsichtigten Trugschluss kommen. Ein Beispiel wäre, den Gegner über eigene militärische Fähigkeiten im Unklaren zu lassen, d. h. das Gegenteil von dem zu machen, was militärische Übungen als Signal so interessant macht. Ein anderes die Nicht-Reaktion Amerikas, von den üblichen martialischen Worten einmal abgesehen – aber Worte, zur Erinnerung, können niemals ein Signal sein, denn Signale müssen etwas kosten –, auf den Angriff von Al-Qaeda auf die USS Cole am 12. Oktober 2000 im Hafen von Aden, bei dem 17 amerikanische Seeleute ihr Leben verloren und 39 verwundet wurden. In persönlichen Gesprächen haben mir Analysten gesagt, dass Al Qaeda daraus möglicherweise den Trugschluss gezogen hat, dass Amerika es selbst bei größeren Angriffen, vielleicht aus Angst vor negativen Reaktionen in den Medien auf mögliche Kollateralschäden oder zivile Opfer bei Vergeltungsangriffen, auch nur bei Worten belassen könnte. Hätte Osama Bin Laden die Antwort der USA auf 9/11 geahnt – ihm wurde mit Operation Enduring Freedom quasi der Boden unter den Füßen weggezogen und Al Qaeda war, wie die Brookings Institution es formulierte, ohne ein Zuhause nur noch „a shell of its previous self“ (Riedel, 2019) –, hätte er vielleicht von den Anschlägen am 11. September 2001 Abstand genommen.

Mangelnde Entschlossenheit

Was das alles mit der Zeitenwende, nicht der von Olaf Scholz, nein, mit der richtigen, der Friedensdividendenzeitenwende, zu tun hat? Auf dem NATO-Gipfel 2002 in Prag wurde ein Preis festgelegt, 2 % vom Bruttosozialprodukt sollte jedes neu in die NATO aufgenommene Land für Verteidigung aufwenden, was aber bald auf alle NATO-Mitgliedsländer erweitert wurde, da es ansonsten schlecht zu verkaufen gewesen wäre, weil die alten Mitgliedstaaten – Deutschlands Anteil lag schon unter 1,4 % – dies schon lange nicht mehr leisteten. Nur, dass wenige alte Mitgliedsländer das umsetzten, Deutschland ging erst einmal in die Gegenrichtung, 1,07 % im Jahr 2005. Konnte man Putin einen Vorwurf daraus machen, dass er das als Signal mangelnden Verteidigungswillens gelesen hat und zwölf Jahre später die Krim annektierte, worauf die NATO sich auf ihrem Gipfel in Wales erneut gegenseitig der 2 % versicherte? Putin beobachtete weiter, als 2017 der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz verkündete, „Wir Europäer dürfen uns der Aufrüstungslogik eines Donald Trump nicht unterwerfen“ (Tagesspiegel, 2017), obwohl Präsident Trump lediglich an die (gemeinsam beschlossene!) Zwei-Prozent-Vereinbarung erinnert hatte, und der Vize-Parteivorsitzende der SPD, Ralf Stegner, auf die Bekundung der CSU, sie wolle das Zwei-Prozent-Ziel erreichen, antwortete „Wir haben in Deutschland andere Sorgen als sinnlose Aufrüstung“ (RDN, 2022). Deutschland signalisierte weiter seinen Weltschmerz, vom Merriam-Webster Dictionary als „mentale Depression oder Apathie, verursacht durch einen Vergleich des tatsächlichen Zustands der Welt mit einem Ideal“ umschrieben. Es war auch ein Signal mangelnder Entschlossenheit. Ein Signal dafür, dass Deutschland nicht länger als verlässlicher NATO-Partner angesehen werden konnte.

Kein Schutz gegen Luftangriffe

George Orwell sagte einmal: „Wenn das Denken die Sprache korrumpiert, korrumpiert die Sprache auch das Denken“. Mit Deutschlands gelebtem Weltschmerz stand nicht nur zu wenig Geld für Verteidigung zur Verfügung, sondern es wurden mit dem wenigen Geld auch falsche Beschaffungsentscheidungen getroffen – „Krieg“ war zum Unwort geworden, man war ja vom dauerhaften Frieden beseelt. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Stabilisierungsfregatte“ F-125-Klasse der Deutschen Marine, die im Übrigen von der Bundeswehr selbst so genannt (Bundeswehr, o. D. -a) wird. Sie ist auf „Stabilisierungseinsätze ausgelegt wie Seeraumüberwachung in Krisenregionen weltweit wie etwa bei Missionen für Embargokontrollen oder Anti-Piraterie-Operationen“, soll „maritime Sicherheit auch in weit entfernten Seegebieten gewährleisten“ (Bundeswehr, o. D. -b), aber andere auch nur ein kleines bisschen weiter entfernt fahrende Schiffe – wie z. B. Handelsschiffe im roten Meer – kann sie, obwohl aktuell modernste Fregatte der Deutschen Marine, nicht gegen Luftangriffe mit Lenkwaffen verteidigen, kann also eine der eine Fregatte erst definierenden Aufgaben (Linder, 1993) nicht erfüllen, und sich selbst auch nur bedingt verteidigen, soll heißen, erst wenn die anfliegende Rakete bereits die äußerste Zone, innerhalb derer US-Fregatten typischerweise abfangen, durchflogen hat. So musste die „Baden-Württemberg“, ein Schiff der F-125-Klasse, nachdem sie als Teil einer Weltumrundung mit einem begleitenden Versorgungsschiff die Straße von Taiwan durchfahren hatte – ohne jeden Zweifel eine große nautische Leistung gleichwohl wie ein Signal für Deutschlands Eintreten für das immerhin von der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen vorgesehene Recht auf friedliche Durchfahrt; ja, Deutschland hatte wieder einen Bundesminister für Verteidigung –, leider von einer Durchfahrt durch das Rote Meer Abstand nehmen und den weiten Weg um das Kap der Guten Hoffnung gehen, denn man konnte nicht sicher sein, ob ihr Raketenangriffe der Huthi nicht zum Verhängnis werden würden. (Im Übrigen ist „maritime Sicherheit“ zum neuen Modewort der Marine geworden, oder vielleicht besser: ihr verordnet worden; von Seekrieg spricht man nicht mehr.)

Und wenn dann noch stolz erzählt wird, ein Schiff der F-125-Klasse sei am „Flagge zeigen“ der Deutschen Marine im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt in der Ostsee beteiligt gewesen (Steffens et al., 2022), dann zeigt das nur, wie falsch die wirklichen Aufgaben einer Marine (Turner, 1974) – im Unterschied zu einem nur für maritime
Sicherheit sorgen müssen – verstanden werden und wie wenig aus Marinegeschichte gelernt worden ist. Als Präsident Roosevelt im Dezember 1902 „Flagge zeigte“ und als Antwort auf die „friedliche Blockade“ Venezuelas durch Deutschland und England die Atlantic Fleet unter Admiral George Dewey in die Karibik beorderte, war das alles andere als nur ein Symbol, sondern ein Signal im Sinne der Spieltheorie, dass dem Deutschen Kaiser die Kampffähigkeit genauso wie die Entschlossenheit Amerikas für den Fall signalisierte, dass Deutschland keine Vermittlung durch den Internationalen Schiedshof in Den Haag akzeptieren würde. Um glaubhaft zu sein, musste Dewey kriegstüchtig sein. Wie alle Beteiligten sehen konnten, war dies auch der Fall (Hendrix, 2009). Ein anderes Beispiel: als die sechste US-Flotte im September 1970 Position im östlichen Mittelmeer bezog, signalisierte sie, dass sie auf der Seite Jordaniens in den Kampf gegen Syrien und die PLO eingreifen würde. Die Strategie, auch als „forward presence“ bekannt, zeigte Wirkung (Cutler, 2014). Beide Gegner zogen sich zurück. Würde freilich ein Konflikt in der Ostsee heiß werden, hätte eine F-125 zunächst alle Hände voll zu tun, sich selbst erst einmal in Sicherheit zu bringen.

Im Krieg geht es aber nicht nur um die (richtige!) militärische Ausrüstung im engeren Sinn, es geht auch um Resilienz, um die Verwundbarkeit ziviler Strukturen, darum, im Fall von Deutschland, die „Drehscheibe Deutschland“ funktionsfähig zu halten. Resilienz ist Bestandteil von Abschreckung. Zur Erinnerung, „Abschreckung“ muss nicht unmittelbar mit Schrecken verbunden sein wie bei der MAD-Strategie, sondern muss lediglich dem potenziellen Gegner – also Putin – signalisieren, dass die Kosten eines Angriffskriegs zu hoch sein werden. Aber je geringer die Resilienz, desto kürzer würde ein solcher Krieg werden. Je kürzer aber ein Krieg ist, umso geringer sind die Kosten für den Angreifer. Rüschkamp (2025) bringt es mit dem Titel seiner Masterarbeit auf den Punkt: „Keine Kriegstüchtigkeit ohne Resilienz“. Er muss aber mit der ernüchternden Feststellung schließen, dass Deutschland „aufgrund erheblicher Defizite in der zivilen Verteidigung nicht zur wirkungsvollen Abschreckung fähig ist“. Er schreibt weiter, dass der Mangel an gesamtstaatlicher Resilienz trotz aller Anstrengungen im Bereich der militärischen Verteidigung absehbar die durch Verteidigungsminister Boris Pistorius bis 2029 angestrebte Kriegstüchtigkeit verhindere: „[Deutschlands] zivile Verteidigung erscheint damit gegenwärtig als Achillesferse der Gesamtverteidigung des deutschen Beitrags zur Operationsführung der NATO in Europa.“4

Mangelnde zivile Verteidigung

Überraschend wurde nicht nur die Bundeswehr bei Auszahlung der Friedensdividende kannibalisiert, sondern auch die zivile Verteidigung. Die Verkehrsinfrastruktur zerbricht seit Jahren. Insofern sind auch das gerade verabschiedete Sondervermögen „Infrastruktur“ in Höhe von 500 Mrd. Euro über zwölf Jahre nicht etwa als ein Preis dafür zu sehen, dass Verteidigung bis auf die mageren 1,3 % oder 44 Mrd. aus der Schuldenbremse herausgenommen wurde, sondern es ist sehr wohl auch Teil der weiteren Verteidigung. Fehler bei der Architektur der kritischen Verkehrsinfrastruktur zeigen auf eine grenzenlose Naivität, wie im April 2024 zum Beispiel für die Eisenbahn deutlich wurde. Als ein Bagger im April 2024 nur ein Signalkabel der Deutschen Bahn in Elmshorn durchtrennte, war alles nördlich von Elmshorn vom Zugverkehr abgeschnitten. Dazu kommen Schwächen bei der Cybersicherheit und Lücken bei den Zuständigkeiten der jeweiligen Behörden, die zum Beispiel eine effektive – wenn überhaupt – Drohnenabwehr unmöglich machen, wie erst im vergangenen November vorgeführt, als eine den britischen Flugzeugträger HMS Queen Elizabeth ausspähende Drohne über dem Hamburger Hafen mühelos entkam.

Doch genauso wie Lord Ismay, der damalige NATO-Generalsekretär zu dem Schluss kam, dass Krieg heute bei weitem nicht mehr nur eine militärische Angelegenheit sei, sondern „a trial of strength and willpower bet weenwhole nations or groups of nations“ (Bjørnsson, 2022), stellte Winston Churchill schon 1941 in einer Rede vor dem Britischen Parlament fest, dass nichts gefährlicher in Kriegszeiten sei als „to live in the temperamental atmosphere of a Gallup Poll, always feeling one’s pulse and tracking one’s temperature“ (Heinl, 1966). Angesichts des hybriden Kriegs Putins gegen Deutschland und den permanenten Versuchen der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung in Deutschland durch das Schüren von Ängsten wäre „in Zeiten der nationalen Bedrohung“ hinzuzufügen.

Es leitet unmittelbar über in das letzte Problem, dass der Rekrutierung. Es fehlt nicht nur an Waffen, es fehlt auch an Soldaten. Viele westliche Länder haben schon seit längerem Schwierigkeiten ihre Rekrutierungsziele zu erfüllen. An erster Stelle für diese Schwierigkeiten wird die Generation Z genannt, die eine geringere Bereitschaft als vorherige Generationen habe, sich in einem zumindest zu Beginn der Karriere von Befehl und Gehorsam dominierten Umfeld unterzuordnen, dagegen eine höhere Wertschätzung von flexiblen Arbeitszeiten – Kriege finden leider in der Regel nicht zwischen 9 Uhr und 15 Uhr statt – und von Freizeit (Kimmel, 2025). In Deutschland aber gibt es dazu noch ein besonderes Rekrutierungsproblem. Die Wehrpflicht wurde 2011 ausgesetzt, die Bundeswehr sollte auf 185.000 Soldaten verkleinert werden, doch die Zahl erwies sich bald als deutlich zu klein. Zurzeit fehlen mindestens 30.000 Soldaten und der Bedarf ist steigend. Aber wie soll jungen Menschen ein freiwilliger Wehrdienst mit der Perspektive, einmal Berufssoldat zu werden, schmackhaft gemacht werden, wenn das Wort „Patriotismus“ nach wie vor ein Tabu in der öffentlichen Diskussion ist (im Gegensatz übrigens zu allen unseren Partnern, und möglichen zukünftigen Gegnern) und Ralf Stegner den „Einsatz für Abrüstung und Diplomatie […] als zur DNA der Friedenspartei SPD gehörig“ bezeichnet und sich „gegen die lauten Rufe nach immer mehr Waffen bis hin zur nuklearen Aufrüstung in Europa, wir dürfen diesem Wahnsinn nicht unkontrolliert nachgeben“ (RND, 2022) stemmt? Und wie sollen Jugendoffiziere arbeiten, wenn die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auf die Forderung der Bundesbildungsministerin, Krieg und Zivilschutz in den Schulen zum Thema zu machen und dafür auch Jugendoffiziere in die Schulen einzuladen, mit dem Statement „Schule ist kein Ort der Nachwuchsrekrutierung für die Bundeswehr“ antwortet (GEW, 2024)?

Trump nutzt Uneinigkeit aus

Bei der Ukraine-Invasion geht es nicht nur um die Ukraine, sondern, um es mit den Worten des Direktors des “Russia and Eurasia Programme“ von Chatham House, James Nixey, zu sagen: „The Ukraine war is about testing Western resolve.“ (Chatham House, 2024) Und ein aufmerksamer Beobachter ist sicherlich auch China, denn eine Taiwan-Invasion könnte als nächstes anstehen (Schimmelpfennig, 2023). Doch leider steht auch Europas Entschlossenheit schon seit längerem auf dem amerikanischen Prüfstand, nicht erst seit Trump, schon Obama hatte 2009 ähnliches angemahnt (Spiegel, 2009). Aber Trump nutzt jetzt, was auch immer seine wahren Motive sind, das uneinige und vor allem immer noch nicht entschlossene Bild, das Europa bietet, gnadenlos aus, stellt die NATO öffentlich in Frage, verabschiedet sich von der Truman-Doktrin, nach der es die Politik der Vereinigten Staaten sein sollte, so Truman 1947 in einer Rede vor beiden Häuser des Kongresses, „to support free peoples who are resisting attempted subjugation by armed minorities or by outside pressures“ (National Archives, o. J.) und die fast 80 Jahre die Freiheit Europas garantiert hat. Nur noch wenige sind davon überzeugt, dass ein russischer Angriff auf ein europäisches NATO-Mitglied Artikel 5 auslösen, geschweige denn Amerika zu Hilfe eilen würde.

Ben Wallace, Verteidigungsminister der letzten konservativen britischen Regierung, ging so weit zu sagen: „I think Article 5 is on life support“ (BBC News, 2024). Die USA scheinen in Isolation zu gehen, und nur zur Erinnerung: Auch zu Beginn sowohl des Ersten als auch des Zweiten Weltkriegs waren die USA isolationistisch gewesen. (Und wer hofft, Trump könnte vielleicht Kraft fortgeschrittenen Alters doch etwas schneller von der Welt abtreten und dann wäre der Spuk vorbei, mit Vance und Hegseth haben die Vereinigten Staaten den schlechtesten Vizepräsidenten bzw. Verteidigungsminister aller Zeiten.)

Natürlich, mit der Entkopplung von Militärausgaben und Schuldenbremse ist viel erreicht, denn solange Verteidigungsausgaben auf die gleiche Ebene wie alle anderen Staatsausgaben gestellt werden, haben Politik und Wähler immer noch nicht verstanden, dass es keine freie Gesellschaft mehr geben wird, wenn sich eine Demokratie nicht verteidigen kann. Der BND-Präsident Bruno Kahl hat unlängst gefordert, Deutschland müsse erwachsen werden (Welt, 2025). Er hat dabei nicht nur die militärische, sondern auch die nachrichtendienstliche Seite im Auge. Aber wir müssen viel weiter unten anfangen, müssen aus dem Kindergarten raus und wieder lernen wie Erwachsene zu denken. Nicht nur können wir erst dann wieder international ernst genommen werden, es geht um nichts weniger als die Freiheit Europas und die Freiheit unserer Kinder. Anstatt uns immer wieder neu geschürten Kriegsängsten hinzugeben, sollten wir vielleicht über das Motto des US-amerikanischen Bundesstaates New Hampshire nachdenken: „Live Free or Die!”.

Nun, da Amerika seinen nuklearen Schutzschild für Europa zurückziehen könnte und wir damit quasi zwangsweise abgerüstet würden, eine Frage zum Schluss: Welche Länder haben eigentlich bislang nuklear abgerüstet? Richtig, die Ukraine ist – neben Südafrika – das einzige Land. Aber sie bekam Sicherheitsgarantien, unter anderem von Russland. Und keine zehn Jahre danach wurde die Krim durch Russland annektiert, und keine 18 Jahre danach sprach Wladimir Putin im russischen Fernsehen über „проведении специальной военной операции“, die „Spezial-Militäroperation“ Russlands gegen die Ukraine.

  • 1 Der Ursprung des Bildes scheint auf die letzte Amtsrede des US-amerikanischen Außenministers William Bryon zurückzugehen, der aus Protest gegen die Entscheidung von Präsident Woodrow Wilson, die Militärausgaben der USA zu erhöhen, zurückgetreten war.
  • 2 Danach zu üben, ist freilich bei weitem nicht so absurd, wie es im ersten Moment klingt. „What is past is prologue“ steht vor den National Archives in Washington DC zu lesen, entnommen aus „Der Sturm“, von William Shakespeare. Es schließt insbesondere die Fehler der Vergangenheit mit ein, weswegen schon dadurch gelernt werden kann, dass man vor allem in der Vergangenheit verlorene Schlachten noch einmal schlägt, im Sandkasten oder als Simulation. Hält man aber an der Vergangenheit allein aus dem Grund fest, dass es immer schon so war, wird es gefährlich. Und nur weil Carl von Clausewitz einmal sagte, es gebe „keinen gefährlicheren Menschen für den Krieg als den Mathematiker, der alle Dinge in der Welt auf die Begriffe von Größen reduziert und alles Mögliche messen und berechnen will. Ein solch gefährlicher Mann ist überhaupt derjenige, der im Kriege bei dem engen Kreis der Vorstellungen einer Wissenschaft stehen bleibt“, darf das nicht bedeuten, dass man sich, wie die Führungsakademie der Bundeswehr das tut, vor modernen mathematischen Instrumenten wie dem der Spieltheorie verschließt, die im Übrigen in allen Armeen von Bedeutung schon lange Einzug in entsprechende Curricula gefunden hat, zumal doch Spieltheorie überhaupt keinen Widerspruch zu Clausewitz darstellt (Wulf, 2025).
  • 3 Hier ist auch ein bedeutender Unterschied in der Herangehensweise anderer NATO-Partner, insbesondere Amerikas, im Vergleich zu Deutschland zu erkennen. Während Amerika seine neuesten militärischen Errungenschaften und Fähigkeiten praktisch öffentlich am Rande von Militärtagungen präsentiert, wird in Deutschland alles sofort unter Geheimhaltung eingestuft und verhindert so eine effektive Zusammenarbeit zwischen militärischer und akademischer Welt.
  • 4 Seinen für den „2017 General Prize Essay Contest” des United States Naval Institute eingereichten Beitrag versah Captain Dale Rielage (2018) mit dem Titel „How We Lost the Great Pacific War”. Es ist ein fiktiver Brief des Kommandeurs der amerikanischen Pazifikflotte an den Chief of Naval Operations, in dem er die Niederlage seiner Flotte gegen einen nicht genannten Gegner – gemeint ist natürlich China – beschreibt und unter anderem beklagt, dass Amerika mit der falschen Metrik gearbeitet habe. Der Standard sei lediglich „deployable“ (stationierbar) anstelle von „combat ready“ (kampftüchtig) gewesen. Zur Erinnerung: Die bei der Bundeswehr genutzte F-125-Klasse ist noch nicht einmal guten Gewissens stationierbar. Der Artikel rüttelte die U.S. Navy wach, Rielage bekam folgerichtig den ersten Preis. Rüschkamp (2025) macht Ähnliches, indem er messerscharf Gründe benennt, warum es über ein Versagen der „Drehscheibe Deutschland“ zu einer Niederlage der NATO in einem künftigen Krieg gegen Russland kommen könnte. Seine Arbeit sollte Deutschland wachrütteln. Ob Rüschkamp einen Preis bekommen wird, ist fraglich.

Literatur

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Wulf, S. (2025). Clausewitz und klassische Spieltheorie: Ein Widerspruch? Hausarbeit im Rahmen des MFIS-Studiengangs. HSU Hamburg.

Title: A Turning Point: A Story of Weltschmerz from the Ideological Kindergarten

Abstract: Vladimir Putin underestimated the war against Ukraine on several levels, both in terms of the response within Ukraine and, above all, in terms of the response from the US and Europe. What can we learn from this? What policies should Europe pursue? What signals should it send to Putin to prevent him from attacking other European states? A game-theoretic analysis.

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© Der/die Autor:in 2025

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DOI: 10.2478/wd-2025-0069

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