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In den Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich um ihre künftigen Rechts- und Wirtschaftsbeziehungen geht es nicht nur um ökonomische Vorteile, sondern auch um die Vereinbarkeit von Rechtskulturen. Die Brexiteers verteidigen britisches Recht und den britischen Parlamentarismus gegen eine nicht nur bei der Rechtsetzung, sondern auch bei der Rechtsprechung integrationistische überstaatliche Entwicklung. Die britische Regierung lehnt für die Zukunft jegliche Rolle des Europäischen Gerichtshofs für die Gestaltung der Beziehungen mit der EU ab. Dies begrenzt die Möglichkeiten, ökonomische Vorteile zu verwirklichen.

In England ist die Vorstellung eines „global Britain“ verbreitet. Vollständige Autonomie mit Handelsschranken gegenüber der EU werde Großbritannien1 neue Möglichkeiten eröffnen, höhere Gewinne aus einem liberaleren Handel mit dem Rest der Welt zu erzielen (Fox, 2018). Gestützt wird dies allerdings durch keine einzige ernstzunehmende wirtschaftswissenschaftliche Studie. Der ideelle Vorteil größerer Autonomie gegenüber der EU wird mit wirtschaftlichen Nachteilen erkauft.

Carrère et al. (2020) haben die wirtschaftswissenschaftliche Literatur über die Auswirkungen des Brexit auf die britische Wirtschaft gesichtet und ihre eigenen Prognosen unter der Bezeichnung „die drei ehernen Gesetze des Brexit“ präsentiert: Erstens geht jedes denkbare Brexit-Szenario, auch das weiche, mit Verlusten für die britische Wirtschaft einher. Zweitens: Je härter der Brexit, desto höher sind die Verluste des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Allerdings würde, so das dritte Gesetz, selbst der härteste denkbare, der „No Deal“-Brexit, der britischen Wirtschaft keine desaströsen, wenn auch hohe Verluste zufügen. Apokalyptische Situationen sind also laut dieser Studie nicht zu erwarten, wobei sie das Zusammentreffen scheiternder Verhandlungen mit einem von einem anderen disruptiven Ereignis – dem der Corona-Krise – ausgelösten Wirtschaftseinbruch nicht im Blick haben konnte. Auf das Konto des Brexit allein würden jedenfalls BIP-Gesamtverluste gehen, die im Falle eines ausgehandelten Brexit mit Freihandel zwischen Großbritannien und der EU bei 2 % gegenüber 6 % bis 7 % bei einem harten Brexit betragen würden.2 In ihrer Größenordnung sind diese Verluste mit denen im Lehman-Krisenjahr 2008 vergleichbar. Aber auf Verluste müssen sich die Briten in jedem Fall einstellen; denn zu glauben, dass im Falle eines harten Brexit unter WTO-Regeln die Handelsströme von der EU auf ferne Länder umgelenkt und das vorherige Handelsvolumen erhalten werden könne, ist eine Illusion. Eine empirische Studie von Brakman et al. (2018) schließt mit folgenden Worten: „Wir bestätigen die substantiellen, negativen Handelsauswirkungen des Brexits für das Vereinigte Königreich, die EU und die wichtigsten Länder der Welt. Paradoxerweise kann nur ein Handelsabkommen mit der EU die Handelsverluste des Brexits ausgleichen“ (auch Dhingra et al., 2017; Mayer et al., 2019; Sampson, 2017; Berthou et al., 2020). Die Studien zu den ökonomischen Wirkungen des Brexit bestätigen die sogenannte Gravitationstheorie des internationalen Handels, wonach das Außenhandelsvolumen zweier Staaten mit sinkender geografischer Entfernung überproportional zunimmt (Krugman und Obstfeld, 2017). Wenn die britische Regierung trotz solcher Aussichten an ihrem Kurs in Richtung Autonomie festhält, lässt dies nur den Schluss zu, dass ökonomische Erwägungen nicht allein die britische Verhandlungsposition bestimmen. Sonst hätte man sich wohl längst geeinigt, wie vernünftige Parteien, die einen Kuchen fair unter sich aufteilen, wenn die Alternative lautet, ihn auf dem Tisch vergammeln zu lassen.3

Warum der Binnenmarkt keine Brexit-Option ist

Die umfassendste Form der Zusammenarbeit nach Beendigung der Vollmitgliedschaft in der EU wäre die Fortführung des Binnenmarkts, der den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital umfasst, gegebenenfalls in reduzierter Form. Auch dann aber würde der Binnenmarkt die regulatorischen europäischen Mindeststandards für Verbraucherschutz, Produktsicherheit, Umweltschutz, Arbeitsmarktstandards, Finanzregulierung, Menschenrechte und Tierwohl transponieren, diskriminierende Steuern und wettbewerbsverzerrende Beihilfen wären nicht zulässig. Das Prinzip gegenseitiger Anerkennung, das dem Binnenmarkt zugrunde liegt, lässt keine nationalen Alleingänge bei Produkt- oder Dienstleistungsstandards zu. Der Verbleib im Binnenmarkt nach dem Brexit ist aus mehreren Gründen keine Option für Großbritannien: Nicht nur könnte es nur in engen Grenzen eigene Handelsabkommen mit Drittstaaten abschließen, sondern es müsste auch weiter mit jenen Facetten des freien Personenverkehrs leben, die ein wesentliches Motiv dafür waren, die EU zu verlassen – vor allem aber wäre es weiter direkt oder indirekt an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) gebunden.

Das Phänomen des „polnischen Klempners“ existiert durchaus, die von ihm ausgehende Bedrohung des britischen Sozialgefüges wird jedoch auf der Insel stark überschätzt. Der EU-Beitritt ehemals kommunistischer Länder im Jahr 2004 führte zu einem enormen Zustrom von Arbeitskräften nach Großbritannien. Dies trug einerseits zum Wachstum der britischen Wirtschaft bei, belastete andererseits aber auch Institutionen des Sozialstaats. Auf die Löhne ungelernter oder geringqualifizierter Arbeitnehmer*innen wirkte sich der Zustrom negativ aus, nicht massiv, aber doch signifikant (Nickell und Saleheen, 2015). Im Gegensatz zu anderen Mitgliedstaaten (wie Deutschland) hatte Großbritannien von der Option, die Personenverkehrsfreiheiten im Verhältnis zu den neuen Mitgliedstaaten während einer Übergangszeit zu beschränken, keinen Gebrauch gemacht. Die frühere britische Regierung erkannte, dass die Einwanderung die EU-Gegner stärkte, holte sich bei der EU jedoch mit ihrer Bitte um (nachträgliche) Unterstützung für Beschränkungen der Freizügigkeit von Arbeitskräften eine Abfuhr. Erforderlich gewesen wäre dafür wahrscheinlich eine Änderung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), vor allem Art. 45, und damit die Zustimmung aller Regierungen zur Vertragsänderung und die Zustimmung aller mitgliedstaatlichen Parlamente zur Ratifikation. Hier zeigt sich eine strukturelle Inflexibilität des mit einem Bein noch immer im Völkerrecht verankerten EU-Rechts, aber auch Inflexibilität im Inhaltlichen: Stößt ein Mitgliedsland auf politische Probleme, die rasche Entscheidungen erfordern würden, können die AEUV-Regeln nicht einmal für einen begrenzten Zeitraum ausgesetzt werden. Auch aus diesem Grund ist der Binnenmarkt für viele Briten keine politische Option mehr. Es liegt ein gewisses Paradox darin, dass diejenigen, die ihn nun durch die prima facie flexibleren WTO-Regeln abgelöst wissen wollen, ganz auf die völkerrechtliche Karte setzen und dabei die inhaltliche wie verfahrensrechtliche Komplexität des Abschlusses völkerrechtlicher Freihandelsverträge beiseiteschieben.

Europäischer Gerichtshof und Großbritannien

Die gegenwärtige britische Regierung lehnt jede künftige Rolle des Europäischen Gerichtshofs, die sie mit ihrer Vorstellung von britischer Souveränität und Autonomie für unvereinbar erachtet, kategorisch ab (HM Government, 2020). Dies dürfte die wichtigste nicht genuin ökonomische Verhandlungsposition der Briten darstellen. In einer Regierungsbroschüre vom Februar 2020, die den britischen Verhandlungsansatz beschreibt, wird auf diese „rote Linie“ an gleich drei Stellen abgehoben:

  • Section 5: „(…) Whatever happens, the Government will not negotiate any arrangement in which the UK does not have control of its own laws and political life. That means that we will not agree to any obligations for our laws to be aligned with the EU‘s, or for the EU‘s institutions, including the Court of Justice, to have any jurisdiction in the UK.“
  • Section 6: „All these agreements should have their own appropriate and precedented governance arrangements, with no role for the Court of Justice.“
  • Ch. 32, 83 (1): „The arrangements will reflect the regulatory and judicial autonomy of the UK and accordingly there will be no role for the Court of Justice of the European Union in the dispute resolution mechanism.“

Darf diese „rote Linie“ nicht überschritten werden, dürfte für die – auch nur partielle – Fortführung eines Binnenmarktes zwischen der EU und Großbritannien kein Raum sein. Denn die EU wird die Auslegung der Freiheiten, soweit sie noch anwendbar sind, nicht aus den Händen des EuGH nehmen und einer Schiedsinstanz übertragen wollen, nur weil das Land, im Verhältnis zu dem sie Anwendung finden, ein Drittland ist – schon weil damit Ungleichgewichte bei der Auslegung vorprogrammiert sind. Dann aber wird Großbritannien auch nicht erlangen können, was ganz oben auf seiner Wunschliste steht: Zugang zu den Märkten für Finanzdienstleistungen. Denn aus Sicht des EU-Primärrechts besteht zwischen dem „polnischen Klempner“ und einem europäischen Finanzdienstleister kein signifikanter Unterschied.

Europäischer Gerichtshof als Motor der Integration

Nachvollziehbar ist der Wunsch, den EuGH gleichsam durch eine „chinesische Mauer“ fernzuhalten, angesichts der Machtfülle dieses Gerichts durchaus. Der EuGH hat das EU-Recht durch Auslegung und Fortentwicklung umfassend und auf der Basis des Dogmas von der vollen Wirkung (effet utile) in integrationsfreundlicher Weise mitgestaltet. Er legte den Vorrang des Europarechts vor nationalem Recht (Verfassungsrecht eingeschlossen) schon 1964 fest, also lange vor dem Beitritt Großbritanniens zur EG, und hat das Konzept seither weiter verfeinert. Den Bürger*innen hat der EuGH über den Wortlaut der Verträge hinaus Durchsetzungsinstrumente gegenüber den Mitgliedstaaten in die Hand gegeben, man denke an die unmittelbare Anwendung von (nach ihrer Konzeption eigentlich nicht unmittelbar anwendbaren) Richtlinien oder die Staatshaftung für EU-Rechtsverstöße. Dies liegt zugleich in der Konsequenz mehrerer Judikate aus den frühen 1960er Jahren, in denen der EuGH das Gemeinschaftsrecht gerade auch wegen der Einräumung von Rechten und Pflichten gegenüber Privatpersonen als eigenständige Rechtsordnung qualifizierte. Zu den extensiven Auslegungen des EU-Rechts durch den EuGH, die auf Missfallen Großbritanniens stießen, zählen auch dessen Billigung des „Auswirkungsprinzips“ im Wettbewerbsrecht oder die Zuweisung von Aufsichtsfunktionen an im Vertrag nicht explizit vorgesehene EU-Behörden unter Berufung auf Harmonisierungsbefugnisse der EU.

Die gegenwärtige starke Rolle des EuGH lässt sich mit der ökonomischen Theorie der Macht oberster Gerichte erklären. Danach hängt die Macht eines obersten Gerichts bei der Entwicklung von Richterrecht (das in vielen Fällen nicht mit den politischen Zielen der Mehrheit im Parlament übereinstimmt) davon ab, wie leicht die Normgebung (Verfassungsgebung, Vertragsparteien, Gesetzgebung) richterliches Recht durch die Verabschiedung neuer Normen wieder außer Kraft setzen kann. Je mehr Vetopositionen die Entscheidungsfindung hierüber behindern oder verlangsamen können, desto eher können oberste Gerichte – so die Hypothese – darauf vertrauen, dass ihr Richterrecht Bestand hat. Gerichte, die eine Entwertung ihres Richterrechts durch neue Gesetzgebung kaum zu befürchten haben, werden ihre Rechtsfortbildung fortsetzen und noch intensivieren, während die obersten Gerichte in Ländern mit einem entscheidungsstarken Parlament dazu neigen, zurückhaltender zu sein.4

In Großbritannien ist die parlamentarische Gesetzgebung vergleichsweise einfach und die Zahl der Vetopositionen gering. Das Mehrheitswahlrecht führt in der Regel nicht zu Koalitionsregierungen, sondern weist die Macht einer einzigen Regierungspartei zu. Das Oberhaus hat zumeist keine Vetoposition, und Änderungen des Verfassungsrechts können ohne qualifizierte Mehrheit beschlossen werden. Dies prägt die Stellung des Parlaments gegenüber dem Obersten Gerichtshof. Für Großbritannien ist nicht nur ein quasi-legislativer, sondern auch ein aktiver Oberster Gerichtshof ein prinzipiell fremdes Konzept. Im Brexit-Prozess ist allerdings auch an dieser Gewissheit zeitweilig gerüttelt worden – man denke an das Urteil vom 24.9.2019, in dem die Prorogation des Parlaments durch den Premierminister für rechtswidrig erklärt wurde. Im Grundsatz aber gilt noch immer: Zwischen dem EuGH und dem britischen Obersten Gerichtshof bestehen Unterschiede, und die ökonomische Theorie der Macht oberster Gerichte kann sie erklären.

Um die Auslegung des AEUV in Bezug auf den EuGH zu änderen, ist eine Änderung des Vertrags notwendig, welche die Einstimmigkeit der (nunmehr 27) Regierungen und die Zustimmung aller nationalen Parlamente erfordert. Kurz gesagt kann der EuGH innerhalb der Grenzen von Auslegungsmethoden entscheiden, wie er will. Die Römischen Verträge haben den Boden dafür bereitet, dass der EuGH zu einem so starken Motor der Integration wurde, und das nicht ohne Absicht. Andernfalls hätten die Gründungsväter und -mütter der EG dem EuGH nur sehr begrenzte richterliche Befugnisse eingeräumt – und sie hätten die Travaux préparatoires der Vertragsverhandlungen zugänglich gehalten, anstatt sie wegzusperren. Da der wahre Wille der Mitgliedstaaten dem Gerichtshof nicht offenbart wurde, kann dieser die Auslegung der Verträge durch den Gerichtshof nicht einschränken, wie es das Völkerrecht vorsieht (Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK), Art. 31 Abs. 1, 2; Dörr, 2018). Etwas plakativ formuliert: Die Souveränität der Mitgliedstaaten tritt bei der Auslegung der Verträge hinter die Förderung der europäischen Integration zurück.

Für seine extensive Rechtsprechungspraxis ist dem EuGH nicht nur von den britischen Inseln zunehmend Kritik entgegengeschlagen. Als der Gerichtshof gegründet wurde, bestand die EWG aus sechs Mitgliedstaaten. Mit ihrer wachsenden Zahl, die zwischen 2013 und Januar 2020 ein Maximum von 28 erreichte, aber auch mit der zunehmenden Zahl der EU-Politikbereiche wuchs die Macht des EuGH an. Die obersten Gerichte und Verfassungsgerichte von Mitgliedstaaten bemühen sich, Kernelemente ihrer Verfassungen gegen Ingerenz (Einmischung) des EuGH zu verteidigen. Nicht nur das deutsche, sondern auch das polnische Verfassungsgericht und der französische Conseil constitutionnel haben die Parlamente bei der Übertragung nationaler Kompetenzen auf die EU gestärkt (Polish Constitutional Tribunal, auch Amtenbrink et al., 2016).5 Irland hat sich des Respekts vor einigen seiner zentralen Verfassungsbestimmungen, wie das Abtreibungsverbot (das allerdings 2018 aufgehoben wurde) oder die Neutralität, durch das Protokoll von 2012 über die Anliegen des irischen Volkes zum Vertrag von Lissabon versichern lassen.6 Das deutsche Bundesverfassungsgericht, das lange versucht hatte, ein (nicht spannungsfreies) „Kooperationsverhältnis“ mit dem EuGH zu wahren, lehnte 2020 nicht nur die jüngste Staatsanleihen-Ankaufpraxis der Europäischen Zentralbank, sondern gleich auch noch die Vorabentscheidung des EuGH, die ihr EU-Rechtskonformität bestätigte, als ultra vires ab (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), 2020). Oberste bzw. Verfassungsgerichte in Dänemark und Tschechien hatten Ähnliches bereits früher getan (Danish Supreme Court, 2013; dazu Krunke und Baumbach, 2019; Constitutional Court of the Czech Republic, 2007; dazu Komárek, 2012).

Dass die Konfliktlinien deutlicher werden, dürfte an der starken Stellung des EuGH vorerst wenig ändern; im Gegenteil: Die Kommission erwägt, Deutschland wegen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts mit einem Vertragsverletzungsverfahren zu disziplinieren. Ebenfalls hat sie angekündigt, gegen die jüngst vom Unterhaus beschlossene UK Internal Market Bill, das Rechtswirkungen des Übergangsübereinkommens mit der EU in Bezug auf Nordirland ändert, vor dem – nach diesem Übereinkommen ebenfalls zuständigen – EuGH vorzugehen.

Der Popularität des EuGH (der in manchen Belangen auch über die Übergangszeit hinaus aktiv bleiben könnte) in Großbritannien dürfte dies wenig zuträglich sein und die Briten eher darin bestärken, dass es keine wünschenswerte Option sein kann, Streitfälle weiterhin nach Luxemburg zu tragen.

Ist der harte Brexit die bessere Lösung?

Auf den ersten Blick scheint die WTO-Option die bequemste und am wenigsten umstrittene Möglichkeit zu sein, die künftigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien zu organisieren. Der internationale Warenhandel erfordert keine „gleichen Wettbewerbsbedingungen“ unter allen WTO-Mitgliedern, das WTO-Recht und die Entscheidungen seiner Streitentscheidungsinstanzen (Panels und Appellate Body) sind souveränitätsschonender als die europäischer Gerichte, vom WTO-Recht gar nicht zu reden, das anders als EU-Recht keine unmittelbare Wirkung entfalten kann. Das WTO-Recht, insbesondere das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) mit seinen allgemein gehaltenen Regeln und zahlreichen Ausnahmen, ein Abkommen, das bei Zöllen Mäßigung, aber nicht Verzicht fordert, scheint nach alledem der Präferenz Großbritanniens für mehr nationale Souveränität und Autonomie zu entsprechen.

Nichtsdestotrotz wäre die WTO für die Briten nicht die beste aller Handelswelten. Zwar hat auch die EU WTO-Recht zu beachten, vertritt dazu aber nicht selten eine eigenwillige Dogmatik, die auf erhebliche Widerstandsfähigkeit des EU-Rechts gegenüber einem eher vor allem institutionell schwachen internationalen Handelsregime deutet. So vertritt die EU die Auffassung, dass auf der Basis des Vorsorgeprinzips Importbeschränkungen zum Gesundheits- oder Naturschutz (Art. XX GATT, der in Art. 36 AEUV eine Entsprechung findet) auch dann verhängt werden können, wenn wissenschaftliche Beweise (noch) nicht verfügbar sind. Dies hat einen Konflikt mit Kanada und den USA ausgelöst, als die EU ein Einfuhrverbot für Rindfleisch von Rindern verhängte, deren Wachstum mit Hormonen stimuliert worden war. Obwohl die EU vor der WTO unterlag, weigerte sie sich, das Importverbot aufzuheben, und akzeptierte eher Gegenmaßnahmen. Großbritannien dürfte auf einige Schwierigkeiten stoßen, wenn es der weitaus mächtigeren EU die Achtung des WTO-Rechts aufzwingen will, gerade weil WTO-Panels und der Appellate Body keine Gerichte im herkömmlichen Sinn sind und nicht, wie der EuGH, für die unterlegene Partei automatisch bindende Urteile erlassen können. Ihre Entscheidungen verdeutlichen lediglich Verpflichtungen, die sich aus dem GATT-Vertrag bereits ergeben. Die „obsiegende“ Partei hat nun grünes Licht für die Verhängung von Sanktionen (beschränkt auf die nach dem GATT zulässigen) gegen die andere Seite. Während der EuGH zumindest über einige Instrumente zur Durchsetzung seiner Urteile verfügt (wie z. B. Geldsanktionen), gibt es im WTO-Recht, wo Gegenmaßnahmen nach wie vor Sache der Staaten sind, keine solchen Hebel.

Das WTO-Regime verfügt auch über einen Rechtsrahmen für die Erbringung von Dienstleistungen – das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS). Das GATS ist insofern weit weniger substanziell als das GATT, als es keine allgemeine und sektorunabhängige Liberalisierung des Handels vorsieht. Das Maß der Liberalisierung hängt davon ab, wie weit sich die Parteien von sich aus dafür öffnen; sie selbst bestimmen (oft in langwierigen Sondierungsprozessen), ob und wie und in welchem Umfang eine bestimmte Dienstleistung international erbracht werden kann. Ganz offensichtlich könnte das GATS theoretisch einen Hebel für das bieten, was ganz oben auf der britischen Wunschliste steht, nämlich Zugang zu den Finanzmärkten der EU (Passporting) – was aber erfordern würde, dass die EU im Rahmen des GATS dazu Konzessionen macht.

Selbst wenn Großbritannien dies alles für wünschenswert hält, muss es doch bedenken, dass das WTO-System zunehmend dysfunktional wird. Es ist sogar fraglich, ob das WTO-Recht überhaupt eine Ausweichposition für Großbritannien im Falle eines harten Brexit bereithält, denn zwei der wichtigsten Akteure sind dabei, es zu demontieren. Die USA behindern die Ernennung von Richtern des Appellate Body (die im Konsens zu erfolgen hat), weshalb von sieben Stellen jetzt sechs vakant sind und nur noch ein Richter übrig bleibt. Somit ist dieses Gremium derzeit gelähmt und nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen, die erforderlich wären, um Panel-Entscheidungen Rechtskraft zu verleihen. Ohne Entscheidung des Appellate Body wäre Großbritannien aber nicht zu Gegenmaßnahmen gegenüber der EU, den USA oder seinen anderen Handelskontakten berechtigt. Ein anderes Problem ist die Missachtung materiellen WTO-Rechts. In China verkaufen staatliche oder staatlich kontrollierte und stark subventionierte Firmen ihre Produkte weltweit, ohne dass die WTO-Regeln für staatliche Beihilfen Beachtung finden, die im Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen (SCN) zu finden sind. So weicht das Recht in den internationalen Handelsbeziehungen allmählich der Gesetzlosigkeit. Eine Modernisierung des WTO-Systems, z. B. mit Blick auf digitalen Handel, ist nach der gescheiterten Doha-Runde auch nicht in Sicht. Die Staaten weichen auf bilaterale Handelsübereinkommen mit spezifischen Streitschlichtungsverfahren aus, die Bedeutung der WTO und insbesondere ihres Streitentscheidungsmechanismus verblasst dabei weiter (Felbermayr, 2020). Dem vergleichsweise kleinen und vor allem dienstleistungsorientierten Großbritannien wird das wirtschaftliche Gewicht fehlen, um die Entwicklung neuer und verbesserter Handelsregeln voranzutreiben, die seinem nationalen Interesse dienen würden, wenn die großen Wirtschaftsakteure wie die USA, die EU, China, Indien und Japan nicht mitspielen.

Viele Beobachtende auf dem Kontinent hatten anfangs geglaubt, dass Großbritannien mit einem Bein im Binnenmarkt bleiben und lediglich die Personenfreizügigkeit einschränken wolle, was dem alten (und nicht ganz weit hergeholten) Vorwurf gegenüber den Briten, nur wieder „Rosinen picken“ zu wollen, neue Nahrung gab. Bald stellte sich heraus, dass dies eine Fehleinschätzung der britischen Position oder zumindest dessen war, wozu sie sich entwickelte. Wer EU-Rosinen pickt, bekommt auch die Stiele und Zweige hinzu, an denen die Weinbeeren wuchsen, namentlich die Rechtsprechung des EuGH und gemeinsame Standards in Fragen wie Umwelt, Arbeit, Sozialpolitik, Sicherheit am Arbeitsplatz, Tierschutz etc.

Der Brexit, mehr Autonomie und wirtschaftliche Verluste für Großbritannien

Über die Zukunft ihrer Handelsbeziehungen haben sich die EU und Großbritannien nach dreieinhalb Jahren des Verhandelns nicht einigen können, nicht einmal auf einen gemeinsamen Nenner konnten sie sich verständigen. Die Wahrscheinlichkeit, dass 2020 kein Handelsabkommen mehr zustande kommt und der (formal schon im Januar 2020 vollzogene) Brexit zunächst „hart“ ausfällt, ist daher hoch. Eine spätere Aufweichung der Härten dieses Brexit ist jedoch nicht jenseits aller Wahrscheinlichkeit. Denn „Wiedererlangung der Kontrolle“, wie die Brexiteers proklamieren, kann nicht bedeuten, dass die Wirtschaftsbeziehungen zur EU zum Erliegen kommen. Vor allem Finanzdienstleistungen möchte Großbritannien unbedingt weiterhin anbieten, wobei Passporting (d. h. der ungehinderte Zugang zu den Finanzmärkten aller Mitgliedstaaten) das vorrangige Ziel ist. Dieses Ziel konterkariert bereits das eigene Mantra, sich von der europäischen Integration und dem Binnenmarkt fernzuhalten – ist doch der Pass nichts anderes als eine Umsetzungsform der Dienstleistungsfreiheit. Wie die erwünschte Teilnahme am Binnenmarkt für Finanzdienstleistungen ohne Akzeptanz des EU-Rechts und ohne Beteiligung des EuGH funktionieren soll, ist eine offene Frage.

Das britische Streben nach Pässen ohne jegliche Verpflichtung auf die Einhaltung europäischer Regeln löste verständlicherweise unfreundliche Äußerungen aus: Sollen Gewinne aus dem Bankgeschäft in London erwirtschaftet, aber in der nächsten Finanzkrise Verluste in Brüssel bezahlt werden? Vorerst dürfte Großbritannien mit dem Status eines Drittstaats vorliebnehmen müssen, dessen Rechtsunterworfene in den Mitgliedstaaten der EU-Finanzdienstleistungen nur auf der Basis attestierter Äquivalenz ihres heimischen Regulierungsrahmens erbringen dürfen. Da auch die EU von der Expertise des britischen Finanzsektors und der Finanzaufsicht profitiert hat, liegt es aber im Interesse beider Seiten, dass die britischen Finanzdienstleistungen nicht vom Kontinent zurückgedrängt werden und beide Seiten in nicht allzu ferner Zukunft aufeinander zugehen, um eine pragmatische Lösung zu finden.

Während man hinsichtlich des Erfolgs der Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU vor dem Ende des Verlängerungszeitraums im Dezember 2020 pessimistisch sein mag, sind die Aussichten für ein Abkommen längerfristig weniger düster. Die Gemeinsamkeiten, wie Demokratie und Marktwirtschaft, die Bedeutung der Privatautonomie, überwiegen noch immer das Trennende. Wirtschaftsforschende sind sich einig, dass die Geografie ein besonders wichtiger einigender Faktor ist. Großbritannien liegt geografisch so nah an Kontinentaleuropa, dass diese „geografische Schwerkraft“ eine enge und umfassende künftige wirtschaftliche Zusammenarbeit und Integration viel wahrscheinlicher macht als ein Auseinanderdriften. Früher oder später wird sie auch die Politik beider Seiten an den Verhandlungstisch zurückziehen.

  • 1 Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung steht die Bezeichnung „Großbritannien“ im Folgenden für das gesamte Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland.
  • 2 „(A) general gravity model would point to UK GDP falling by almost 6% compared to baseline.“ (Berthou et al., 2020, 1). Die Autoren stellen zudem die Ergebnisse der bisher vorliegenden empirischen Studien dar, die einen BIP Verlust von zwischen 4 % und 10 % prognostizieren (Berthou et al., 2020, 10).
  • 3 Dies gilt nicht für den Streit um Fischereirechte, der im Kern ein redistributives Nullsummenspiel ist. Die Proportionen dieses Streits sind allerdings im Verhältnis winzig und haben kaum das Potenzial, die Verhandlungen scheitern zu lassen (Langhammer, 2020).
  • 4 Die Theorie, wonach die Macht oberster Gerichte dadurch bestimmt wird, wie leicht und mit wie vielen Vetopositionen der Gesetzgebungsprozess ausgestattet ist, über den Richterrecht abgeändert werden kann, geht auf Cooter und Ginsburg (1996) zurück (Cooter, 2000; Cooter und Drexl, 1994). In Deutschland hat Grimm (2016) eine ähnliche Position für die Rolle des EuGH vertreten.
  • 5 Der französische Conseil constitutionnel bezog sich auf nationale Verfassungsregeln und Prinzipien, die von der Rechtsprechung des EuGH nicht außer Kraft gesetzt werden können „außer wenn die (nationale) konstitutionelle Macht dem zustimmt“ (Amtenbrink et al., 2016, 620).
  • 6 2013/106/EU: European Council Decision of 11 May 2012 on the examination by a conference of representatives of the governments of the Member States of the amendment to the Treaties proposed by the Irish Government in the form of a Protocol on the concerns of the Irish people on the Treaty of Lisbon, to be annexed to the Treaty on European Union and to the Treaty on the Functioning of the European Union, and not to convene a Convention, OJ L 60, 129-130.

Literatur

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Title:The Brexit between British Autonomy and Trade Gains

Abstract:The negotiations between the European Union and the United Kingdom about their future legal and economic relations are not only about economic gains, but also about the compatibility of legal cultures. The Brexiteers defend British law and British parliamentarism against progressing supranational integration driven not only by the European legislature but also by its jurisprudence. The British government rejects, for the future, any role of the European Court of Justice in shaping relations with the EU. This increases the chances of incurring economic losses from Brexit.

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© Der/die Autor(en) 2020

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DOI: 10.1007/s10273-020-2781-5

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