Die Diskussion über das Ob und Wie einer neuen Industriepolitik wird derzeit intensiv geführt. Das Bundeswirtschaftsministerium arbeitet an einer Strategie, mit der die transformativen Aufgaben der kommenden Jahrzehnte bewältigt und gleichzeitig die industrielle Struktur des Landes erhalten werden soll. Prinzipiell sind industriepolitische Debatten nichts Neues: Spätestens seit Anfang der 1980er Jahre werden diese regelmäßig nach oder während größerer wirtschaftlicher Krisen diskutiert (vgl. Abbildung 1). Neu ist die Vielschichtigkeit der Debatte: Dies liegt vor allem daran, dass mehrere Herausforderungen zeitgleich aufeinanderprallen. Die Energiewende erfordert einen erheblichen Umbau der Infrastruktur und eine Anpassung der Produktionstechnologie. Mit der Digitalisierung nimmt ein junger Technologiezyklus immer schneller Fahrt auf, bei dem Deutschland offenkundige Schwächen hat. Jüngst ist zudem die Erkenntnis gereift, dass strategische Unabhängigkeit und technologische Souveränität zumindest industriepolitisch flankiert werden sollten. Viel zu selten wird über den strukturellen Anpassungsdruck aufgrund der demografischen Entwicklung gesprochen – zumindest aber schwingt die Demografie in den kommenden Jahren die Produktivitätspeitsche.
Abbildung 1
Zahl der Bundestagsreden zu Industriepolitik
Ökonomische Krisenperioden grau schattiert.
Quelle: Deutscher Bundestag, eigene Berechnungen.
Bislang hat sich noch keine klare industriepolitische Richtung herauskristallisiert. Zuletzt rückten die Energiekosten und -sicherheit in den Fokus der Diskussion, um bislang erfolgreiche Branchen im Übergang in das dekarbonisierte Zeitalter marktfähig zu halten. Auch werden Antworten auf die politischen Weichenstellungen in den USA und in China gesucht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert z. B., das Investitions- und Zukunftspaket des „Inflation Reduction Act“ im Umfang von 374 Mrd. US-$ auf europäischer Ebene zu spiegeln, um den Wettbewerb um Zukunftsbranchen nicht zu verlieren. Gegenüber China werden vor allen Dingen die zu starken Abhängigkeiten bei wichtigen Waren und Rohstoffen betont. Hier wird der Aufbau heimischer Produktion und des Entwicklungs- und Produktions-Know-hows in den Vordergrund gerückt – zuletzt in der Diskussion um die milliardenschwer geförderte Ansiedlung einer Intel-Chipfabrik in Magdeburg. Zusammengefasst hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) seine bisherigen Maßnahmen in einem Bericht an den Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestags (2023). Kritiker sehen darin eine teure Strategie, um bestehende Strukturen zu konservieren, vor allem aber eine verpasste Chance für strukturellen Wandel hin zu innovativen industriellen Strukturen. Sie fordern eine Industriepolitik, die öffentliche und private Investitionen fördert, Innovationen anregt und die Skalierung erfolgversprechender industrieller Ansätze im Rahmen von „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI) unterstützt (Fratzscher et al., 2023).
Deindustrialisierung blieb in Deutschland bislang aus
In den vergangenen Monaten machte häufig das Gespenst der Deindustrialisierung die Runde. Vor allem die energieintensiven Branchen sehen sich durch die veränderten Rahmenbedingungen bedroht. Dabei haben sich diese schon in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert. Gleichwohl ist es in Deutschland anders als in den europäischen Nachbarländern bislang nicht zu einem substanziellen Verlust an industrieller Wertschöpfung gekommen. Während der Anteil hierzulande seit 1995 um lediglich rund 2 % nachgab, schrumpfte der Industrieanteil in den anderen großen europäischen Volkswirtschaften um ein Viertel (Italien) bzw. mehr als ein Drittel (Frankreich, Spanien, Vereinigtes Königreich, vgl. Abbildung 2). Das bedeutet nicht, dass hier alles beim Alten blieb und noch weniger, dass dies auch künftig so bleiben wird. Vielmehr kam es in den vergangenen Jahrzehnten zu Verschiebungen, weg von der Grundstoffherstellung, der Erzeugung elektronischer Ausrüstungen, aber auch chemischer Produkte hin zur Fertigung von Fahrzeugen, pharmazeutischer Produktion und zur Herstellung elektronischer Datenverarbeitungsgeräte. Die drei letztgenannten Wirtschaftszweige konnten kumuliert gut 1,4 Prozentpunkte an Wertschöpfungsanteilen zulegen, während in den übrigen Bereichen insgesamt rund 3,5 Prozentpunkte verloren gingen. Die Zugewinne fanden in den Branchen statt, in denen absolut betrachtet der größte Aufwand für Forschung und Entwicklung betrieben wird (Stifterverband, 2022) – die Branchen mit den größten Verlusten finden sich am unteren Ende der Innovationsaktivitäten wieder. Dass Wissensintensität und Innovationskraft ein wesentlicher Faktor für den wirtschaftlichen Erfolg ist, stellt aber keine Neuigkeit dar. Gleichwohl sollte dieses Kriterium in den industriepolitischen Überlegungen eine wichtige Rolle spielen.
Abbildung 2
Anteil der Industrie an der Wertschöpfung eines Landes
Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen.
Verflechtungsstrukturen der Industrie finden in strategischen Überlegungen kaum Berücksichtigung
Verflechtungsstrukturen innerhalb der Industrie spielten in den bisherigen Diskussionen eine eher untergeordnete Rolle. Dies überrascht, da „Kaskadeneffekte“ in der Debatte über ein sofortiges Embargo russischer Energie als gewichtiges Abwärtsrisiko intensiv diskutiert wurden (Krebs, 2022) und die Input-Output-Beziehungen in der Modellierung der Folgen eine zentrale Rolle spielten (Bachmann et al., 2022). Debattiert wurde dabei intensiv über den katalytischen Effekt, der beschreibt, welche Auswirkungen der Ausfall der Produktion eines Wirtschaftsbereichs für den Vorleistungsbezug in nachgelagerten Wirtschaftsbereichen bedeutet. Langfristig dürfte dieser Effekt aber keine nennenswerte Rolle spielen, da anzunehmen ist, dass ein Großteil der Vorleistungen auch importiert werden kann. Instruktiver für die längerfristige Betrachtung sind die direkten und indirekten Effekte, die mit der Produktion verbunden sind. Der direkte Effekt ist der Beitrag einer Branche bei der Herstellung eines bestimmten Gutes. Dieser Wert dürfte bei einem Produktionsstopp langfristig entfallen. Der indirekte Effekt ist die Produktion, die in vorgelagerten Stufen angeregt wird: Dadurch, dass in der Regel Vorprodukte eingesetzt werden, entsteht Nachfrage in vorgelagerten Wirtschaftszweigen die wiederum Produkte bei ihren Lieferanten beziehen. Bei einem abrupten Produktionsstopp fielen diese angeregten Aktivitäten zumindest vorübergehend weg, sofern nicht die Lieferbeziehungen aufrechterhalten oder anderweitig ersetzt werden können. Neben den Effekten in der Wertschöpfung kann mit der Input-Output-Betrachtung auch die Verflechtung einer Branche in die Produktionsbereiche aufgezeigt werden: Jeder Wirtschaftszweig setzt sich aus fiktiven Produktionsbereichen zusammen – seinem Kernbereich und den Nebentätigkeiten. In der klassischen Input-Output-Betrachtung wird der Effekt der Nebentätigkeiten in der Regel ausgeklammert. Gleichwohl ist es eine relevante Dimension: Wenn z. B. Forschung und Entwicklung in beträchtlichem Ausmaß in einem Wirtschaftszweig selbst erstellt und nicht als Vorleistung bezogen werden, dann bleibt dies meist außen vor. Tatsächlich hat eine umfassende Betrachtung den Charme, dass die Bedeutung einzelner Wirtschaftszweige für die Wertschöpfung in anderen Bereichen der Wirtschaft vollständig wird. Es kann transparent gemacht werden, welche Anstoßwirkung ein Produktionsbereich für die Herstellung anderer Waren und Dienstleistungen entlang der Wertschöpfungskette entfaltet und wie weit eine Branche Tätigkeiten außerhalb ihres Kernbereichs anstößt. Ist damit nur wenig Wertschöpfung außerhalb des Kernbereichs verbunden, so ist ein Wegfall für andere Bereiche weitgehend folgenlos – andersherum kann eine stark verflochtene Branche im Strukturwandel eine zentrale Rolle spielen, wenn ihr Wachstum in viele andere Bereiche ausstrahlt. Dabei ist die Summe aus indirekten Effekten und Nebentätigkeiten relevant.
Große Unterschiede bei den Verflechtungen
Die Industrie in Deutschland ist hinsichtlich der genannten Dimensionen äußerst heterogen. Abbildung 3 stellt den gesamten ökonomischen Fußabdruck, bestehend aus der direkten und indirekten Produktionsleistung sowie ihre Wertschöpfung außerhalb ihres Kernbereichs dar. Dabei bildet die Größe der Kreise die Summe der gesamten direkten und indirekten Wertschöpfung des jeweiligen Wirtschaftszweigs ab. Auf der horizontalen Achse wird dargestellt, welche Wertschöpfung insgesamt aus den Nebentätigkeiten (direkt und indirekt) je Euro Wertschöpfung der Haupttätigkeit entsteht. Auf der vertikalen Achse wird die indirekte Wertschöpfung, d. h. der Vorleistungsbezug, aus der Haupttätigkeit in Relation zur direkten Wertschöpfung der Haupttätigkeit dargestellt. In der Summe bilden beide Effekte die durch die Haupttätigkeit angestoßene zusätzliche Wertschöpfung ab. Wenig überraschend ist der ökonomische Fußabdruck der Automobilindustrie mit Abstand am größten, gefolgt vom Maschinenbau und der Nahrungsmittelindustrie. Relativ klein sind die ökonomischen Fußabdrücke der Wirtschaftszweige 13 bis 19, also etwa der Bekleidungsindustrie, der Papierindustrie oder der Mineralölverarbeitung. Zu den Wirtschaftszweigen mittlerer Größe zählen Glas- und Keramikindustrie, die Metallverarbeitung oder die pharmazeutische Industrie. Im Durchschnitt beträgt die indirekte Wertschöpfung knapp ein Euro je Euro Wertschöpfung im Kernbereich der Produktion des jeweiligen Wirtschaftszweigs. Die indirekten Effekte sind in der Nahrungsmittelindustrie besonders hoch – hier werden umfangreiche Vorleistungen aus der Landwirtschaft oder bei Verpackungen bezogen. Auch in der Grundstoffindustrie ist der Vorleistungsbezug überdurchschnittlich, wegen der hohen Energieintensität. Die geringsten indirekten Effekte sind in der pharmazeutischen Industrie und der Herstellung von Metallerzeugnissen festzustellen. Allerdings ist die Pharmaindustrie außerhalb ihres Kernbereichs sehr aktiv. Etwa 1,6 Euro zusätzliche Wertschöpfung je Euro Wertschöpfung der Kerntätigkeit entsteht in diesem Wirtschaftsbereich, maßgeblich wegen ihrer umfangreichen Forschungs- und Entwicklungstätigkeit. Zusammengenommen entstehen in diesem Fall aus einem Euro Produktionswert etwa zwei Euro zusätzlicher Wertschöpfung aus Vorleistungen und Nebentätigkeiten. Kaum zusätzliche Aktivitäten neben ihrem Kerngeschäft entfalten die Herstellung von Druckerzeugnissen und Tonträgern oder die Holzverarbeitung.
Abbildung 3
Direkte und indirekte Wertschöpfung der Wirtschaftszweige des Verarbeitenden Gewerbes
Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen.
Industriepolitische Debatte differenzierter führen
Eine Industriepolitik sollte nicht anhand einzelner Kriterien isoliert entwickelt werden. Was es braucht, ist ein Mix aus Politiken, der es ermöglicht, bestehende Strukturen in neue, betriebswirtschaftlich rentable Modelle zu überführen und gleichzeitig die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass Technologien mit Potenzial für zusätzliche Wertschöpfung erfolgreich in die industrielle Anwendung kommen. Dabei zeigt die Literatur, dass ein Laissez-faire in der Wirtschaftspolitik zu ineffizienten Ergebnissen führen kann (Acemoglu, 2023). Die Krise um russische Energie hat zudem offenbart, dass gesamtwirtschaftliche Risiken und Abhängigkeiten bislang nicht adäquat in Produktions- und Zuliefererstrukturen berücksichtigt wurden. Es gibt also gute Gründe, die anstehenden Veränderungen industriepolitisch zu begleiten. In die Entscheidungen sollten dabei auch die Erkenntnisse über die Verflechtungen in der Wertschöpfung einbezogen werden, allein, um Ausstrahleffekte richtig abzuschätzen. Auch können Input-Output-Beziehungen Auskunft darüber geben, in welchen Bereichen beispielsweise besonders starke Verbindungen in die Hochtechnologie oder die Spitzenforschung bestehen. All das sind nützliche Informationen für die Ausrichtung einer Industriepolitik.
Literatur
Acemoglu, D. (2023), Distorted Innovation: Does the Market Get the Direction of Technology Right?, NBER Working Paper, w30922.
Bachmann, R. et al. (2022), What if? The economic effects for Germany of a stop of energy imports from Russia, EconPol Policy Report, 36.
Deutscher Bundestag (2023), Schriftbericht des BMWK zu seiner Industriepolitik und zur Umsetzung der Maßnahmen in diesem Bereich, insbesondere auch einer sicheren und wettbewerbsfähigen Energieversorgung durch einen Industriestrompreis, Ausschussdrucksache 20(9)226.
Fratzscher, M., A. Wambach und G. Wolff (2023), Das sollte Europas Antwort auf die USA und China sein, Süddeutsche Zeitung, 26. Februar.
Krebs, T. (2022), Wie man die Auswirkungen eines Gasembargos berechnen könnte, Wirtschaftsdienst, 102(4), 256-258.
Stifterverband (2022), Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft, a:r en’di: Analysen 2022.