Als „versicherungsfremd“ werden üblicherweise Leistungen bezeichnet, die Sozialversicherungen unter Umständen gar nicht aufgabengerecht zugeordnet sind, die aber insbesondere zulasten der Versichertengemeinschaft fehlfinanziert werden. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, ein Prüfschema zu ihrer Identifikation zu entwickeln: Welche Aspekte liegen einer möglichen „Versicherungsfremdheit“ zugrunde, und was sind Konstellationen, in denen sich diese tatsächlich ergibt? Lassen sich so konkrete Fälle unangemessener Finanzierung identifizieren, sollten diese durch Systemanpassungen, zumindest aber durch adäquate Bundeszuschüsse korrigiert werden. Falsch wäre es indessen, betroffene Leistungen grundsätzlich infrage zu stellen.
Sozialversicherungen1 prägen den deutschen Sozialstaat und weisen eine Reihe von Strukturmerkmalen auf, die sich teils markant von den Prinzipien anderer sozialer Sicherungssysteme unterscheiden. Fähigkeiten dieser Institutionen, Leistungen auf gerechte Art und Weise zu erbringen, werden dadurch einerseits begründet und andererseits eingeschränkt. Für das zu diskutierende Problem „versicherungsfremder“, da unsystematisch finanzierter oder erbrachter Leistungen sind insbesondere folgende Strukturprinzipien in den drei Themenbereichen „Versichertenkreis“, „Leistungen“ und „Finanzquellen“ relevant (siehe auch Bäcker et al., 2020, S. 224–245):
Erstens bilden Sozialversicherungen Solidargemeinschaften, in denen Risiken gebündelt und Beiträge risikounabhängig erhoben werden. Versicherte gleichen untereinander also nicht nur Schadensfälle im Sinne eines einfachen Risikoausgleichs aus, der Merkmal sämtlicher, auch privater Versicherungen ist. Sie sind darüber hinaus Teil einer Gemeinschaft, in der ihr individuelles Risikoprofil auch bei der Finanzierung keinerlei Rolle spielt. Vielmehr werden Beiträge – über bloße Pauschalprämien noch hinausgehend – nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit erbracht, sodass strukturell auch ein sozialer Ausgleich durch Gutsituierte zugunsten jener mit wenigen Mitteln möglich wird. Soziale Versichertengemeinschaften sind im Wesentlichen2 nach dem Prinzip der Pflichtversicherung konstruiert, in der ein definierter Personenkreis zur ständigen Gewährleistung angemessenen Schutzes obligatorisch versichert ist und in diesem Sinne einer „vorgeschriebenen Solidarität“ unterliegt. Weil dadurch dem Grunde nach ein dauerhafter „Nachschub“ an Versicherten und Beiträgen geschaffen wird, ist ein per se ewiges System möglich, das per Umlagefinanzierung betrieben wird – Einnahmen werden stets für unmittelbare Ausgaben verwendet – und keiner aufwändigen und unflexiblen Kapitaldeckung bedarf.
Zweitens werden bei Verwirklichung eines Risikos bzw. Versicherungsfalls – z. B. Krankheit, Gebrechlichkeit oder Alter – Leistungen erbracht, bei denen sich Geld- und Sach- bzw. Dienstleistungen grundsätzlich voneinander unterscheiden (Schmähl, 1995, S. 604–605): Erfolgen Geldleistungen (z. B. Krankengeld) zur Sicherung, zumindest aber zur Unterstützung des Lebensunterhalts und knüpfen dabei in irgendeiner Weise an das zuvor versicherte Einkommen an, dienen Sach- und Dienstleistungen (z. B. medizinische Versorgung) vor allem der bedarfsweisen Behebung eingetretener Schäden – abgeschwächt auch deren Vorbeugung – ungeachtet der Höhe konkreter Vorleistung im Rahmen der bestehenden Versicherung. Während Renten- und Arbeitslosenversicherung (GRV und ALV) heute klar auf weitreichenden Einkommensersatz ausgerichtet sind, bieten Kranken- und Pflegeversicherung (GKV und SPV) vorwiegend Sach- und Dienstleistungen bzw. Geldleistungen zu deren Erwerb. Bei der Erfüllung ihrer Kernaufgaben erbringen Sozialversicherungen oft auch einen sozialpolitischen Ausgleich, um über individuell erreichte Ansprüche hinaus „Maßnahmen von gesellschaftspolitischem Interesse durchzusetzen“ (Heidel & Loose, 2004, S. 223). Dazu kann etwa der Ausgleich von Zeiten des Niedriglohnbezugs zählen, damit Renten im Einzelfall etwas höher ausfallen als zuvor durch die reine persönliche Beitragsleistung begründet.
Drittens sind die deutschen Sozialversicherungen bis heute weitgehende Arbeitnehmer:innenversicherungen, die sich im Kern auf abhängig Beschäftigte (ohne Beamte) und ihre unmittelbaren Angehörigen beschränken. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Versicherten wird entsprechend an der jeweiligen Lohnhöhe bemessen, sodass sich die paritätisch von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen getragenen Sozialversicherungsbeiträge im Grundsatz prozentual aus dem Arbeitsentgelt ergeben. Der Prozentanteil, der in der sozialen Pflegeversicherung im Übrigen nach der Zahl der Kinder variiert, ist damit aber nur prinzipiell und nicht bei jeglicher Einkommenshöhe gleich. Es zeigt sich vielmehr eine Mittelschichtszentrierung des Sozialversicherungssystems, in dem lediglich Bruttomonatslöhne zwischen 2.000 und gut 5.500 Euro (Stand 2025) in voller Höhe beitragspflichtig sind.
Darunter liegende Einkommen erhalten einen Beitragssatzrabatt bei gleichwohl vollem Leistungsumfang, und sehr geringe Einkommen „geringfügig Beschäftigter“ erzeugen seitens der Arbeitnehmer:innen sogar gar keine echte Beitragspflicht und bestenfalls eingeschränkte Leistungsansprüche. Höhere und hohe Einkommen unterliegen wiederum wegen der Beitragsbemessungsgrenzen (2025 gut 5.500 Euro Monatsbrutto in GKV und SPV, gut 8.000 Euro in GRV und ALV) und/oder der Versicherungspflichtgrenze (gut 6.000 Euro, lediglich bei Kranken- und Pflegeversicherungen) nur einer bezüglich des Gesamteinkommens reduzierten bzw. gar keiner Sozialversicherungspflicht. Ergänzt werden die Beitragseinnahmen mitunter durch Bundeszuschüsse aus Steuermitteln – in der GRV noch nennenswert, in der GKV kaum, in der SPV aktuell nicht und in der ALV grundsätzlich nicht. Diese sollen vorrangig der finanziellen Kompensation tatsächlichen sozialpolitischen Ausgleichs dienen – also zur Kostendeckung von oft als „versicherungsfremd“ verstandenen Leistungen –, ergänzend der Systemstabilisierung.
„Versicherungsfremd“: ein geeigneter Begriff?
Der Begriff der „versicherungsfremden“ Leistungen ist in der wissenschaftlichen, politischen und öffentlichen Debatte zwar seit langem etabliert (Simon, 2024, S. 203–210), aber nach wie vor recht diffus: „Eine gesetzliche oder eine allgemein anerkannte Definition des Begriffs der versicherungsfremden Leistungen liegt nicht vor“ (WD, 2016, S. 4; vgl. auch Hans et al., 2022, S. 120). Entsprechend ist nicht nur die abstrakte Benennung „versicherungsfremder“ Leistungen schwierig, sondern erst recht ihre konkrete Quantifizierung. Wiederholt werden der Gesetzgeber und zuständige Ministerien zu eindeutigen Definitionen aufgefordert, auf die eine Lösung so überhaupt erst erfasster Probleme aufsetzen könnte (Bundesrechnungshof, 2023).
Selbst wenn dann aber „versicherungsfremde“ Leistungen erfolgreich identifiziert werden, bleibt der Begriff als solcher problematisch. Schließlich legt er in gewisser Weise nahe, die klassische, privatwirtschaftlich organisierte Versicherung mit risikobezogenen Beiträgen und reinem Risikoausgleich sei die auch einer Sozialversicherung zugrunde zu legende Norm und bestimmte Leistungen seien jener deshalb strukturell fremd (Simon, 2024). Dies ist bei einer Sozialversicherung, einer in vielerlei Hinsicht anders konstruierten Institution, aber grundsätzlich gerade nicht der Fall (WD, 2016, S. 8): Eine soziale Versicherung muss eben nicht nur Risikoausgleichspool oder „Sparschwein“ sein, sondern kann per se alles leisten, was ihrem generellen Aufgabenspektrum entspricht (Hans et al., 2022, S. 121–125).
Von der Verortung spezifischer Leistungen zu trennen ist wiederum die Frage, ob ein konkret vorgenommener Ausgleich angemessen finanziert ist. Dies ist der eigentliche Kern der Diskussionen über „versicherungsfremde“ Leistungen. Wenngleich sprachlich zweifellos ungelenk, wäre es deshalb in den meisten Fällen analytisch treffender, von „nicht durch bisherige Beiträge zu deckenden“ Leistungen (ähnlich Meinhardt, 2018, S. 2) zu sprechen.
Prüfung der Passung eines Systems zur konkreten Leistungserbringung
Zur Bestimmung „versicherungsfremder“ Leistungen bietet sich ein systematisches Verfahren an (vgl. auch Raffelhüschen et al., 2011, S. 7), das in einer ersten Hauptstufe die Passung eines Systems zur konkreten Leistungserbringung prüft: Ist eine Leistung überhaupt korrekt in einer bestimmten Sozialversicherung verortet? Oder ist sie tatsächlich im institutionellen Sinne „versicherungsfremd“, weil sie von einem strukturell eigentlich nicht zuständigen System angeboten wird?
- Dafür sind zunächst die Kernaufgaben einer Sozialversicherung zu definieren. Dazu zählen im Fall der gesetzlichen Rentenversicherung etwa die Zahlung maßgeblich vorleistungsbezogener Leibrenten im Alter (§ 23 SGB I in Verbindung mit § 63 SGB VI) und im Fall der gesetzlichen Krankenversicherung beispielsweise die ärztliche Behandlung im Krankheitsfall (§ 21 SGB I).
- Davon sind konkrete Aufgaben unterschiedlichen Detailgrads abzuleiten – aus der weiteren Kernaufgabe der GRV, Hinterbliebenenrenten zu leisten, etwa die Bereitstellung von Waisenrenten.
Beide Prüfschritte können im Grundsatz einmalig erfolgen und benötigen in der Folge lediglich sporadische Revisionen, um eine annähernd dauerhafte Grundlage für den dritten und nun auf die konkret interessierende Leistung bezogenen Schritt zu schaffen:
- Hier geht es darum zu prüfen, ob tatsächlich bearbeitete Probleme zu den identifizierten Kern- und Teilaufgaben passen, ob also ein „innerer Zusammenhang“ konkreter Aufgaben zum sachlichen Schutzbereich der Versicherung besteht (Hans et al., 2022, S. 123) und die jeweilige Leistung nicht eigentlich von anderer Stelle zu bearbeiten wäre.3
Eine in diesem Sinne festgestellte institutionelle „Versicherungsfremdheit“ wäre aus Versichertensicht noch nicht unbedingt problematisch, weil aus der unsystematischen Leistungserbringung nicht zwangsläufig eine ungerechte Finanzierung folgen muss. Gleichwohl würden damit – wie im Folgenden deutlich wird – Schieflagen geradezu provoziert, aufgrund derer Leistungen eben nicht wie gehabt durch Beiträge zu decken wären. Institutionelle „Versicherungsfremdheit“ ist insofern ein starkes Indiz für finanzielle „Versicherungsfremdheit“ und sollte zur Vermeidung letzterer zum Anlass genommen werden, eine entsprechende Leistung in ein eigentlich dafür zuständiges Sozialsystem zu übertragen.
Prüfung der korrekten Finanzierung einer Leistung
In der zweiten und in den meisten Fällen wohl wichtigeren Hauptstufe ist nun wie folgt zu prüfen, ob eine Leistung tatsächlich nicht korrekt finanziert ist und deswegen im allgemeinen Sprachgebrauch als „versicherungsfremd“ gelten muss.
- Relevant ist, ob die Empfänger:innen der Leistung Teil der Versichertengemeinschaft sind oder ohne eigene Beiträge von dieser unterstützt werden.
- Mit Blick auf adäquate Lastentragung ist festzustellen, ob versicherte Risiken versichertenimmanent sind (also in deren Person, Rolle oder menschlicher Natur liegen) oder derartige Schadensfälle maßgeblich extern verursacht werden.
- Es ist zu überprüfen, ob Solidargemeinschaften und Risikobegründungen strukturell deckungsgleich und Versichertenkreise insofern angemessen zugeschnitten sind. Von Interesse ist dabei, ob immanente Risiken sich aus einer vergleichsweise spezifischen Eigenschaft – z. B. dem Arbeitnehmer:innenstatus – ergeben, ob sie einem weiter gefassten Merkmal – etwa Erwerbstätigkeit – entspringen, oder ob sie ganz allgemein in der reinen menschlichen Existenz begründet liegen und damit alle Wohnbürger:innen betreffen.
- Die Analyse hat zu beleuchten, ob Versicherte mit dem hinsichtlich des Abgrenzungskriteriums jeweils einschlägigen wirtschaftlichen Leistungsvolumen beitragen, und ob sie dies in voller Höhe oder nur anteilig tun. Ist also einerseits etwa für ein Risiko, das sich aus abhängiger Beschäftigung ergibt, ausschließlich der Lohn beitragspflichtig, und wird andererseits für ein allgemein „menschliches“ Risiko das Gesamteinkommen inklusive aller Vermögenserträge herangezogen?
Szenarien der Versicherungsfremdheit
Aus der Gesamtschau dieser Prüfschritte werden nun Rückschlüsse dahingehend möglich, ob eine Absicherungskonstellation von einer Gemeinschaft Sozialversicherter tatsächlich oder eben eigentlich nicht zu tragen ist. Als insofern „unfaire“ Szenarien (zum Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz siehe auch Ruland, 1995, S. 29; Raffelhüschen et al., 2011, S. 26; Hans et al., 2022, S. 124) können jedenfalls die folgenden gelten, wobei damit selbstverständlich nur über die bisherige Finanzierung und nicht über die Sinnhaftigkeit der betroffenen Leistungen an sich geurteilt wird:
Überwälzung: Maßgeblich extern verursachte Schadensfälle werden bearbeitet, die Verursacher:innen aber nicht angemessen oder überhaupt nicht an der Finanzierung des Schadensausgleichs beteiligt. Als Beispiel dafür kann das Risiko aufgeführt werden, wegen einer wirtschaftlichen „Billiglohnstrategie“ des/der Arbeitgeber:in im vorleistungsbezogenen System einen für angemessene Rentenanwartschaften unzureichenden Niedriglohn zu beziehen, sodass sich Beiträge kaum oder gar nicht „bezahlt machen“. Eine Schadensminderung nun vor allem von anderen Beschäftigten, aber nicht spezifisch von den eigentlich verantwortlichen Unternehmen finanzieren zu lassen, wäre für die Versichertengemeinschaft ungerecht. Eine systematische Gegenmaßnahme im Rentenversicherungssystem wäre hingegen eine Verpflichtung der Arbeitgeber:innen, unabhängig vom Stundenlohn strukturell adäquate Rentenversicherungsbeiträge zu zahlen, um jedenfalls diesbezüglich die entstandene Lücke zu schließen.
Überdehnung: Für Personen jenseits der Beitragszahler:innen – also der eigentlichen Versichertengemeinschaft Fremde4 – werden ebenfalls unangemessen finanzierte Leistungen erbracht, die (sofern überhaupt als sinnvoll eingestuft) eigentlich von einer anders zugeschnittenen Gemeinschaft oder gar der Gesellschaft insgesamt zu tragen wären (Meinhardt & Zwiener, 2005, S. 5; Bäcker et al., 2020, S. 240). Beispielhaft lässt sich eine Anrechnung zusätzlicher Kindererziehungszeiten für die gesetzliche Rente nennen, deren rentensteigernde Wirkung ausschließlich aus Beiträgen pflichtversicherter Beschäftigter finanziert wird und dabei auch ansonsten gar nicht gesetzlich Rentenversicherten zugutekommt. Eine geeignete Gegenmaßnahme wäre es, Beiträge tatsächlich aus allgemeinen Steuermitteln statt aus faktischen „Beitragssteuern“ einer kleineren Gruppe (SVR Wirtschaft, 2005, S. 345) zu finanzieren.5
Überlastung: Eine Versichertengemeinschaft erbringt untereinander Leistungen, obwohl sie hinsichtlich des Problemauslösers strukturell kleiner und dabei auch ökonomisch nur unterdurchschnittlich stark ist (Schmähl, 2009, S. 391), aber ein mindestens durchschnittlich häufiges Risiko tragen muss (sodass die Schieflage tatsächlich ins Gewicht fällt). Die Leistungserbringung ist also in puncto Finanzierung nicht korrekt und letztlich ungerecht, weil ein umfassenderes und in der Gemeinschaft nicht unterdurchschnittlich ausgeprägtes Risiko von zu wenigen Versicherten mit zu geringen Mitteln abgesichert werden muss.6 Ein Beispiel dafür sind die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung im aktuellen Zuschnitt, weil sie die allgemeinen menschlichen Risiken der Krankheit und der Gebrechlichkeit recht umfassend absichern, während ihre Gemeinschaften auf mittlere und untere Einkommen (diese mit teilweiser Beitragsbefreiung) begrenzt sind. Anders formuliert: Eine im Wesentlichen nur aus heutigen und ehemaligen Arbeitnehmer:innen bestehende Gemeinschaft dazu anzuhalten, sich lediglich untereinander gegen das allgemeine menschliche Krankheitsrisiko abzusichern, ist im Wortsinne „schräg“. Systematische Maßnahmen dagegen wären Zuschüsse aus dem allgemeinen Steueraufkommen oder – noch besser – die Ausweitung des Versichertenkreises auf eine Wohnbürger:innenversicherung mit Beitragspflicht auf das volle wirtschaftliche Potenzial.
Wenn im Übrigen gefordert wird, eine eigentlich zu kleine Gemeinschaft solle dennoch „internen“ Ausgleich üben, weil andere Gruppen (noch) gar keinen äquivalenten Risikoschutz genießen und der Einsatz von Steuergeldern insofern eine Gruppe privilegieren würde (Klammer und Wagner (2020) zu den damaligen Plänen für eine „Grundrente“), würde der zu kleine, in aller Regel nicht von der Pflichtversichertengemeinschaft zu verantwortende Zuschnitt nochmals im spezifischen Fall gegen sie gewendet. Ist die konkrete Problematik keine immanente, sondern wie im Fall der „Grundrente“ nach langjährigem Niedriglohn maßgeblich extern verursacht, würde mit einem derartigen Zwang zur „exklusiven“ Selbstabsicherung sogar das Prinzip der Verursacherverantwortung ausgehebelt.
Quantifizierung des konkreten Ausmaßes der Leistungen
Hat man Leistungen nach einem derartigen Schema nun als „versicherungsfremd“ oder ähnliches eingestuft, ist in einem vierten wesentlichen Schritt noch ihr konkretes Ausmaß zu quantifizieren. Wegen der mitunter ausgesprochen aufwändigen, für diesen Zweck vorzunehmenden Modellierungen – oft liegen eben keine einschlägigen Statistiken vor, weil die jeweiligen Maßnahmen keine eigenständigen Posten in Haushalten von Sozialversicherungen bilden – kann dies sehr herausfordernd sein (Meinhardt & Zwiener, 2005, S. 6).
Maßnahmen zum Umgang mit „versicherungsfremden“ Leistungen
Je nach konkreter Problematik sind unterschiedliche Maßnahmen grundsätzlich geeignet, nachhaltig Abhilfe zu schaffen:
- Bei institutioneller „Versicherungsfremdheit“: nach Möglichkeit Ausgliederung und Einordnung in andere, institutionell angemessenere Systeme (Schmähl, 2009, S. 393).
- Bei Überwälzung: zielgenauer Schadensausgleich durch die eigentlichen Verursacher:innen.
- Bei Überdehnung/Überlastung: (1) Kompensation in der Versicherungsstruktur: systematische Anpassung des Versichertenkreises, der Bemessungsgrundlagen und -grenzen; (2) Kompensation jenseits der Versicherungsstruktur, sofern darin keine angemessene Lösung möglich: Zahlung adäquater Bundeszuschüsse aus maßgeblich nach Leistungsfähigkeit aufgebrachten Steuermitteln.
Maßnahmen für adäquate Sozialversicherungsfinanzierung hätten neben der Befreiung von unangemessenen Abgabenpflichten auch insofern positive Auswirkungen auf (potenziell) Beschäftigte, weil diese die Pflichtbeiträge wieder stärker mit einem konkreten Gegenwert assoziieren und zu ihrer Entrichtung bereit sein dürften (Schmähl, 2009, S. 392). Eine Stärkung der Systemstringenz würde also auch dessen Akzeptanz stärken.
Beim Ausgleich unangemessener Verteilungswirkungen mithilfe steuerfinanzierter Bundeszuschüsse sind gleichwohl Vorsicht und Konsequenz geboten: Zum einen muss ein gewisses Steueraufkommen im Zuge politischer Verteilungskämpfe in der jeweils gewünschten Höhe und Wirkung erstritten und dann zuverlässig dem jeweiligen Sozialversicherungshaushalt zugewiesen werden. Gelingt dies im jeweiligen Einzelfall nicht angemessen und nachhaltig, ist die Finanzierung der betroffenen Sozialversicherung womöglich gefährdet oder die beabsichtigte Verteilung verfehlt.7 Durchaus wohlmeinende Eingriffe hätten dann dazu geführt, eine zuverlässig falsch finanzierte Sozialversicherung unzuverlässig und womöglich noch immer falsch oder gar noch unangemessener zu finanzieren. Ebenso ist darauf zu achten, nicht durch Umschichtungen von Steuermitteln zwar ein Problem in einer Sozialversicherung zu lösen, dadurch aber die Finanzierung und Erbringung anderer, womöglich gar für den gleichen Personenkreis besonders bedeutsamer öffentlicher Leistungen zu gefährden. Bei aller gebotenen Stringenz gilt es also, in puncto Sozialstaatsfinanzierung über den Tellerrand zu schauen und in der Gesamtwirkung, nicht nur im konkret behandelten Sozialversicherungssystem, einen echten Mehrwert für die von den Maßnahmen Betroffenen zu erzielen.
Maßnahmen gegen die Finanzierung von Leistungen aus „falschen“ Beiträgen sollten außerdem nicht über das Ziel hinausschießen, indem sie zur Beitragssatzsenkung letztlich sogar strukturell richtige Beiträge durch Steuermittel ersetzen. Schließlich würde so das bewährte Prinzip umfangreicher und verdienter Leistungen (SVR Wirtschaft, 2005, S. 344) unnötig untergraben und das soziale Schutzniveau in der Folge womöglich langfristig reduziert. In diesem Sinne sollte auch vermieden werden, grundsätzlich für richtig befundene und lediglich unangemessen administrierte oder finanzierte Leistungen einfach abzuschaffen: „Versicherungsfremdheit“ muss zum Anlass genommen werden, einen sinnvollen sozialen Schutz zukünftig besser organisiert anzubieten und darf keinesfalls als Vorwand dienen, ihn durch eine vermeintlich notwendige Bereinigung um Unangemessenes zu reduzieren.
- 1 Die folgenden Betrachtungen gehen von den vier großen Sozialversicherungen in Deutschland aus: Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Rentenversicherung. Die gesetzliche Unfallversicherung bleibt analytisch wegen ihrer deutlich abweichenden Strukturen (ausschließliche Arbeitgeberfinanzierung unter Berücksichtigung der konkreten Risikoklasse), aus denen sich das Problem „versicherungsfremder“ Leistungen nicht wie beschrieben ergibt, außer Acht.
- 2 In gewissen Grenzen bieten alle Sozialversicherungen in Deutschland auch Optionen zur freiwilligen Versicherung, die allerdings als erheblich systemfremdes Konstrukt grundsätzliche Probleme aufwirft und hier nicht weiter thematisiert wird (dazu etwa Brosig, 2019).
- 3 Beispielhaft für ein solches Problem kann die der Krankheitsbehandlung dienende „medizinische Behandlungspflege“ in vollstationären Pflegeeinrichtungen angeführt werden, deren Kosten eigentlich voll von der GKV übernommen werden müssten. Tatsächlich reichen deren entsprechende Zuwendungen an den SPV-Ausgleichsfonds dafür aber bei weitem nicht aus, sodass diese Leistungen systemwidrig formal weitgehend von der eigentlich unzuständigen SPV und wegen deren unzureichendem Niveau tatsächlich von den Pflegebedürftigen selbst getragen werden.
- 4 Durchaus umstritten ist, inwiefern Mitglieder der Kernfamilie von Beitragszahler:innen zur Gemeinschaft zu zählen sind. Jedenfalls – selbst wenn dies aus einer spezifischen systematischen Perspektive unangemessen erscheinen mag – sind diese seit langer Zeit in den gesetzlichen Krankenversicherungsschutz einbezogen (Familienversicherung) und haben Anspruch auf etwaige Hinterbliebenenrenten.
- 5 Diesem Argument wird zwar häufig entgegengehalten, der für eine umlagefinanzierte Versicherung bedeutsame Reproduktionsaspekt werde hier außer Acht gelassen, sodass eine wie auch immer begrenzte Versichertengemeinschaft den Ausgleich für das Aufziehen möglicher (!) zukünftiger Beitragszahler:innen durchaus selbst finanzieren könne und eigentlich auch solle. Finanzielle Verantwortungsübernahme für Reproduktion ist sicher begründet, erstreckt sich aber auf das ganze Gemeinwesen und ist deshalb auch von diesem zu finanzieren: „Bestandssichernd sind Kinder eben nicht nur für die Rentenversicherung, sondern für Staat und Gesellschaft insgesamt.“ (Ruland, 1995, S. 34).
- 6 Insofern wird hier ein strengerer Maßstab angelegt als in Sachverständigenrat Wirtschaft (2005, S. 346), wo jeglicher Ausgleich zwischen hohen und niedrigeren Risiken als versicherungskonform betrachtet wird, ohne das strukturelle Verhältnis dieser Risiken und die Fähigkeit zur Problemlösung mit der Situation unter Nichtversicherten zu vergleichen. „Externen“ Ausgleich zugunsten Nichtversicherter zwar abzulehnen, „internen“ ungeachtet der Versichertenstruktur aber grundsätzlich nicht zu problematisieren (Bäcker et al., 2020, S. 241), greift zu kurz.
- 7 Dies wäre etwa der Fall, wenn ein Finanzierungseffekt in der Sozialversicherung zulasten unterer und mittlerer Einkommen korrigiert werden soll und dafür eine Erhöhung der Umsatzsteuer herangezogen wird, die aber gerade von diesen Gruppen überproportional stark getragen werden muss.
Literatur
Bäcker, G., Naegele, G. & Bispinck, R. (2020). Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Ein Handbuch. Springer VS.
Brosig, M. (2019). Sozialversicherung mit Wahlfreiheit? Gefahr für Solidarität und Stabilität!
Bundesrechnungshof. (2023). Bemerkungen 2023 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes.
Hans, G., Sesselmeier, W. & Hans, J. P. (2022). Versicherungsfremde Leistungen und Kosten in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Wege zur Sozialversicherung, 76(5), 119–127.
Heidel, S. & Loose, B. (2004). Das „Soziale“ in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Angestelltenversicherung, 51(5/6), 221–226.
Klammer, U. & Wagner, G. G. (2020). Grundrentenplan der großen Koalition. Welche Risiken soll die gesetzliche Rentenversicherung versichern? Wirtschaftsdienst, 100(1), 29–34.
Meinhardt, V. & Zwiener, R. (2005). Gesamtwirtschaftliche Wirkungen einer Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen in der Sozialversicherung. DIW Berlin Politikberatung Kompakt, 7.
Meinhardt, V. (2018). Versicherungsfremde Leistungen der Sozialversicherung. IMK Study, 60.
Raffelhüschen, B., Moog, S. & Vatter, J. (2011). Fehlfinanzierung in der deutschen Sozialversicherung. Studie des Forschungszentrums Generationenverträge im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft.
Ruland, F. (1995). Versicherungsfremde Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung. Deutsche Rentenversicherung, 50(1), 28–38.
SVR Wirtschaft – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2005). Die Chance nutzen – Reformen mutig voranbringen. Jahresgutachten 2005/06.
Schmähl, W. (1995). Funktionsgerechte Finanzierung der Sozialversicherung: ein zentrales Element einer Entwicklungsstrategie für den deutschen Sozialstaat – Begründungen und quantitative Dimensionen. Deutsche Rentenversicherung, 50(10/11), 601–618.
Schmähl, W. (2009). Sachgerechte Finanzierung der Sozialversicherung als politische Aufgabe. WSI-Mitteilungen, 7/2009, 390–397.
Simon, M. (2024). ‚Versicherungsfremde Leistungen‘ in der gesetzlichen Krankenversicherung: Kritik eines gesundheitspolitischen Leitbegriffs. Zeitschrift für Sozialreform, 70(2), 199–224.
WD – Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages. (2016). Versicherungsfremde Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung sowie in der Sozialen Pflegeversicherung.