Grundsätzlich sind die neuen deutschen Verschuldungsmöglichkeiten für Verteidigung und Infrastruktur zu begrüßen. Spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vor über drei Jahren ist die Notwendigkeit höherer Verteidigungsausgaben offensichtlich. Zudem hat sich in den letzten Jahrzehnten ein erheblicher Investitionsstau in die öffentliche Infrastruktur, z. B. bei der Deutschen Bahn, aufgebaut. Äußerst unambitioniert ist allerdings die Grenze von 1 % der Verteidigungsausgaben, ab der diese nicht auf die Schuldenregel angerechnet werden. Diese Grenze hätte man konsequenterweise beim alten NATO-Ziel von 2 %, zumindest aber bei 1,5 % setzen müssen.
Durch die 1 %-Regel werden im Kernhaushalt genug Mittel frei, um in gewohnter Weise die eigene Klientel bedienen zu können. So hat etwa die Union durchgesetzt, die so genannte Mütterrente um sechs Monate anrechenbarer Erziehungszeit pro Kind zu verlängern. Dabei geht es aber kurioserweise nicht um aktuelle, sondern um vor 1992 geborene Kinder. Die Kosten dieser „Großmütterrente” werden auf etwa 50 Mrd. Euro in den nächsten zehn Jahren geschätzt. Die Grünen haben aufgrund der Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit glücklicherweise das Erfordernis der Zusätzlichkeit der Investitionen und die Verwendung eines Fünftels des Investitionsvolumens für das Ziel „Klimaneutralität 2045“ durchsetzen können.
Geld allein wird aber nicht reichen. In Europa und insbesondere in Deutschland werden Rüstungsgüter bisher in Manufakturarbeit produziert. Jetzt müssen rasch die Produktionskapazitäten hochgefahren werden. Hierauf ist Deutschland jedoch nicht gut vorbereitet. Die deutsche Bürokratie und auch das schwerfällige deutsche Beschaffungswesen zeichnen sich durch eine fast paranoide Fehlervermeidungskultur aus. Im Ergebnis führt dies bei der Bundeswehr zu der schon von Frank-Jürgen Weise, dem früheren Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit und ehemaligen Vorsitzenden der Bundeswehr-Strukturkommission beklagten „allgemeinen Verantwortungsdiffusion“, die eine stringente Steuerung unmöglich mache. Ein Grund hierfür ist die Überrepräsentanz von Juristinnen und Juristen in den Führungsebenen der öffentlichen Verwaltung. Juristisches Denken bringt per se eine gewisse Risikoaversion mit sich und begünstigt damit eine Verwaltungskultur, deren hauptsächliches Ziel das Vermeiden von Fehlern ist, was sich hemmend auf die Innovationsfähigkeit auswirkt. Es werden möglichst wenige Entscheidungen getroffen, um keine Fehler zu machen. Das Ergebnis ist eine organisierte Verantwortungslosigkeit. Um die teilweise kafkaeske Behördenstruktur zu transformieren, hat die Bundeswehr-Strukturkommission im Oktober 2010 eine umfassende Reformagenda vorgelegt, die politisch aber nicht umgesetzt wurde.
Eine solche Reform wäre aber dringend notwendig, denn leider gibt es mittlerweile eine ernstzunehmende sicherheitspolitische Bedrohungslage. Russlands Ökonomie ist nur etwas größer als die der Benelux-Staaten, gibt aber für seine Armee laut Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) kaufkraftbereinigt etwa drei Viertel des Betrages aus, den die 27 EU-Staaten und Großbritannien für ihre 28 Armeen aufwenden. Die Zersplitterung in 28 Armeen mit mehr als 150 verschiedenen Waffensystemen und 17 unterschiedlichen Kampfpanzern schwächt die Effizienz und damit die Kampfkraft Europas zudem erheblich. In den USA gibt es bei einem mehr als dreifach höheren Militärbudget nur 30 Waffensysteme und einen einzigen Kampfpanzer.
Die äußere Sicherheit ist ein gesamteuropäisches öffentliches Gut, das am effizientesten gemeinsam zu bewirtschaften ist. Die Ineffizienz der einzelnen Armeen sowie das zersplitterte Beschaffungswesen stellen gewichtige Argumente für eine Verlagerung auf die EU-Ebene dar. Seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 hat sich auf diesem Gebiet nichts Wesentliches mehr getan. Man hat sich in Europa auf die NATO und auf den amerikanischen Schutzschirm verlassen. Da dieser nun fragwürdig geworden ist, stellt sich dringender denn je die Frage nach einer belastbaren europäischen Antwort. Denn für Europa sind Frieden und Rechtsstaatlichkeit nicht (mehr) umsonst zu haben.
Nach Einführung des Euro vor mehr als 25 Jahren bedarf es nun weiterer mutiger Integrationsschritte, um den aktuellen Anforderungen gerecht zu werden. Wie bei der Währungsunion, die 1999 mit elf Staaten begann und mittlerweile 20 Mitglieder hat, müssen auch bei der Verteidigung zu Beginn nicht alle EU-Staaten mitmachen. Das Konzept eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten sollte hier so flexibel gehandhabt werden, dass auch Staaten teilnehmen können, die wie Großbritannien oder Norwegen nicht Mitglied der EU sind. Neben einer Europäischen Verteidigungsunion zählt die Schaffung einer Kapitalmarktunion und die Abschaffung des Einstimmigkeitserfordernisses durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen, um Blockaden einzelner Staaten zu verhindern, zu den vordringlichsten Integrationsschritten.