Seit 1960 hat die deutsche Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) drei große Sprünge nach oben gemacht. Der erste erfolgte nach der Ölkrise 1974, der zweite nach der deutschen Wiedervereinigung und der dritte nach der globalen Finanzkrise 2007 bis 2009. Was in dieser jüngsten Episode anders war, war die deutliche Haushaltskonsolidierung in der Folge.
Die Staatsverschuldung stieg zwischen 2008 und 2010 sprunghaft von 60 % auf 80 % des BIP. Im darauffolgenden Jahrzehnt ging sie allmählich wieder auf knapp unter 60 % im Jahr 2019 zurück – kurz bevor die Corona-Krise einsetzte. Diese Konsolidierung ist jedoch nicht hauptsächlich auf allzu vorsichtige oder sparsame öffentliche Ausgaben zurückzuführen. Viele neue Posten wurden in diesem Zeitraum bei den Sozialausgaben gelistet, wie z. B. Mütterrente oder Baukindergeld. Sie war auch nicht mit einer Rückzahlung der öffentlichen Schulden verbunden. In absoluten Zahlen stieg die öffentliche Gesamtverschuldung zwischen 2007 und 2009 um rund 500 Mrd. Euro an, nahm aber bis 2019 nur um rund 100 Mrd. Euro ab. Stattdessen wurde die Schuldenquote fast ausschließlich über den Nenner konsolidiert: durch das Wachstum des BIP und damit der Steuerbasis. Die deutsche Wirtschaft erlebte zwischen 2009 und 2019 eine beispiellose Boomphase. Der Arbeitsmarkt florierte mit einer Beschäftigungsquote, die mit 80 % ein Allzeithoch erreichte (vgl. Abbildung 1). Dies führte zu steigenden Steuereinnahmen, und rückläufige Zinszahlungen trugen ebenfalls zur Konsolidierung bei.
Abbildung 1
Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP und Beschäftigungsquote in Deutschland
Beschäftigungsquote in % der 20- bis 65-Jährigen
Quelle: Destatis.
Geringe Investitionen in die öffentliche Infrastruktur
Aber selbst wenn es in diesem Jahrzehnt keine signifikanten Kürzungen der öffentlichen Gesamtausgaben gab, sondern nur ein langsameres Wachstum im Verhältnis zum BIP, wurde ein Problem der Finanzpolitik erheblich gravierender: das niedrige Niveau der öffentlichen Investitionen. Abbildung 2 zeigt, dass Deutschland beim realen Wachstum des öffentlichen Kapitalstocks in der Liste der Länder ganz unten rangiert. Das Wachstum seit 2005 war sogar negativ, was bedeutet, dass die Substanz des öffentlichen Kapitals zwischen 2005 und 2015 erodiert ist.
Abbildung 2
Öffentlicher Nettokapitalstock im Jahr 2015
Quellen: IWF; IW Köln.
Die sich daraus ergebenden Lücken in der Quantität und Qualität der öffentlichen Dienstleistungen sind weithin festgestellt worden. Die deutsche Infrastruktur in digitalen Netzen, Schiene und Straße weist immense und offensichtliche Defizite auf, ebenso wie die oft maroden öffentlichen Gebäude und Schulen. Diese Lücken mindern nicht nur die Lebensqualität der Bevölkerung. Sie sind auch zu echten Hindernissen für private Unternehmen geworden, die zunehmend berichten, dass ihr Betrieb durch den schlechten Zustand der Straßen- und Kommunikationsinfrastruktur beeinträchtigt wird (vgl. Abbildung 3).
Abbildung 3
Mangelhafte Infrastruktur
1 Rest zu 100 %: keine Beeinträchtigung.
Quelle: Grömling und Puls (2018).
Die bei weitem größten Probleme sind auf der kommunalen Ebene zu finden. Während die Bruttoinvestitionen auf Bundes- und Landesebene im Lauf der Zeit sogar leicht gestiegen sind, wurden sie in den Gemeinden stark reduziert. Diese waren in den 1990er Jahren für mehr als die Hälfte aller öffentlichen Investitionen verantwortlich, aber dieser Anteil ging aufgrund der Kürzungen der kommunalen Investitionsbudgets stark zurück.
Die Einschnitte waren in einigen Teilen des Landes dramatischer als in anderen. Abbildung 4 zeigt, dass sich die lokalen öffentlichen Investitionen in den einzelnen Gemeinden stark unterscheiden. Einige investieren mehr als 700 Euro pro Einwohner, während die Zahl in anderen Gemeinden weniger als 100 Euro beträgt. Die Abbildung zeigt auch einen klaren Zusammenhang mit der Höhe der kurzfristigen lokalen öffentlichen Verschuldung: hoch verschuldete Gemeinden investieren deutlich weniger, während die höchsten Investitionen in Gemeinden ohne jegliche Verschuldung zu finden sind.
Abbildung 4
Staatsverschuldung und Investitionen der Kommunen
Quelle: Statistisches Bundesamt.
Auch wenn der Zeitraum 2009 bis 2019 oft als ein außergewöhnliches „goldenes Jahrzehnt“ für die deutsche Wirtschaft bezeichnet wird – und das gilt sicherlich auch für die Arbeitsmarktentwicklung –, so sind doch viele seit langem bestehende Probleme, vor allem das dramatische Unterinvestitionsproblem und die damit zusammenhängende lokale Schuldenkrise, ungelöst geblieben. Diese Probleme hatten ihren Ursprung in den 1990er und frühen 2000er Jahren und wurden nach der globalen Finanzkrise bestenfalls teilweise gelöst.
Altes Paradigma: Schlanker Staat und öffentlicher Kapitalstock
Warum hat Deutschland eine solche Verschlechterung seines öffentlichen Kapitalstocks überhaupt zugelassen? Wir sehen drei wesentliche Erklärungen:
- Erstens, in einer langfristigen Perspektive: Die Bundesrepublik stand vor der Herausforderung, die ostdeutsche Wirtschaft umzugestalten. Damit stellte sich die Frage, wie der Staat seine fiskalische Handlungsfähigkeit sichern kann. Dahinter stand die Einsicht, dass auch in den alten Bundesländern (SVR, 1991) ein Umdenken im staatlichen Handeln notwendig war. „Schlanker Staat“, Privatisierung und Deregulierung – Stichworte und Konzepte aus den 1980er Jahren wurden zum führenden politischen Paradigma (SVR, 1989; Deregulierungskommission, 1990 und 1991). In engem Zusammenhang damit stand die unterschiedliche demografische Entwicklung in den Regionen, die zu der Schlussfolgerung führte, dass das Angebot an öffentlichen Dienstleistungen reduziert werden muss, da die Nachfrage nach diesen Leistungen irgendwann nachlassen wird. Eine Konsequenz war z. B. der Rückbau des Eisenbahnsystems in vielen ländlichen Gebieten des Landes, insbesondere in Ostdeutschland, für die eine rasche Entleerung prognostiziert wurde. Dies wurde auch durch den Versuch vorangetrieben, den öffentlichen Sektor insgesamt zu verkleinern – teilweise unter der damals vorherrschenden ideologischen Prämisse (schlanker Staat).
- Zweitens ist ein weiterer Grund für die staatliche Unterinvestition vor allem im letzten Jahrzehnt die unflexible Gestaltung der fiskalischen Regeln. Die Schuldenbremse wurde 2009 in das deutsche Grundgesetz eingeführt. Sie trat nach der globalen Finanzkrise in Kraft, war aber keine unmittelbare Reaktion auf die Krise. Sie war der Endpunkt einer langen Diskussion in den Jahren zuvor, die vor allem von dem erwähnten Paradigma inspiriert war (SVR, 2007). Die Schuldenbremse schließt öffentliche Haushaltsdefizite in normalen Zeiten fast vollständig aus, auch die Fremdfinanzierung öffentlicher Investitionen. Allein dadurch entsteht ein systematisches Unterinvestitionsproblem: Viele Projekte haben einen sehr langen Zeithorizont und kommen vor allem künftigen Generationen zugute. Durch den Ausschluss einer Kostenteilung über die Generationen hinweg durch die öffentliche Verschuldung bedeutet dies, dass die heutigen Generationen zwar die vollen Kosten über die laufenden Steuereinnahmen tragen müssen, aber nicht den vollen Nutzen der Projekte über ihre gesamte Lebensdauer genießen werden. Dies führt ganz natürlich dazu, dass die heutigen Generationen (und Politiker, die die Präferenzen der heutigen Wähler bedienen) gegenüber öffentlichen Investitionen zurückhaltend sind. Eine weitere Inflexibilität der Schuldenbremse besteht darin, dass sie völlig blind gegenüber dem vorherrschenden Zinssatz für öffentliche Schulden ist. Der Zinssatz für deutsche Staatsanleihen ist selbst bei langen Laufzeiten negativ, ein Befund, der bisher als Randphänomen eingestuft wurde. Der Zinssatz liegt seit mindestens einem Jahrzehnt deutlich unter der Wachstumsrate des nominalen BIP, sodass die Fremdfinanzierung der öffentlichen Ausgaben (insbesondere der Investitionen) der effiziente Finanzierungsmodus wäre (Blanchard, 2019). Die Schuldenbremse erlaubt jedoch nicht, dieses fiskalische „free lunch“ auszunutzen, und reduziert damit künstlich das Investitionsniveau, das sonst erheblich höher gewesen wäre.
- Drittens ist das drängende Unterinvestitionsproblem auf lokaler Ebene in den Besonderheiten des deutschen Steuerföderalismus begründet. Die Kommunen haben auf der Einnahmen- wie auch auf der Ausgabenseite wenig Ermessensspielraum über ihren öffentlichen Haushalt. Die meisten Einnahmen stammen aus gemeinsamen Steuern, die nach einem formelbasierten Ansatz, einschließlich verschiedener Finanzausgleichsschemata, auf die verschiedenen Regierungsebenen verteilt werden. Für eine einzelne Gemeinde sind die Steuereinnahmen meist gegeben, und es kann wenig getan werden, um sie zu ändern. Entsprechend diesen Einnahmen sind die Kommunen dafür verantwortlich, bestimmte Arten von obligatorischen Sozialausgaben zu tätigen, z. B. Wohnkosten für Sozialhilfeempfänger. Häufig werden die Entscheidungen über diese Ausgabenposten auf Bundes- oder Landesebene getroffen, aber dennoch müssen die Kommunen sie durchführen, ohne dabei viel Mitspracherecht zu haben. Andere Arten „freiwilliger“ kommunaler Ausgaben, darunter Investitionen in Schulen, Straßen, Kultur- und Sporteinrichtungen usw., können nur dann finanziert werden, wenn nach Finanzierung der obligatorischen Ausgabenposten genügend Steuereinnahmen übrig bleiben. Das bedeutet natürlich, dass die kommunalen Investitionen in der Praxis zu einer Restausgabenkategorie werden und dass die Bürgermeister keine andere Wahl haben, als zuerst die Investitionen zu kürzen, wenn die öffentlichen Finanzen knapp werden.
Nach 1990 sah sich die deutsche Wirtschaft mit massiven wirtschaftlichen Schocks (z. B. steigende Importdurchdringung nach der Globalisierung) konfrontiert und war einem starken industriellen Wandel und Strukturwandel unterworfen. Einige Regionen waren davon wesentlich stärker betroffen als andere (Dauth et al., 2014). Das Ruhrgebiet oder die Westpfalz z. B. erlitten die größten Verluste, da sie auf die Produktion von Gütern wie Textil, Kohle und Stahl spezialisiert waren, wo China und Osteuropa einen starken komparativen Vorteil entwickelten und viele Konkurrenten auf den Weltmärkten verdrängten. Die Arbeitslosigkeit stieg in diesen Regionen massiv an, ebenso die Sozialausgaben für die jeweiligen Kommunen. Andere Regionen litten ebenfalls unter den Steuerreformen Anfang der 2000er Jahre, die zu einem dramatischen Rückgang der lokalen Steuereinnahmen führten. Zwar erhielten die stark betroffenen Regionen eine gewisse Unterstützung durch Steuertransfers und die Regionalpolitik, doch reichte diese nicht aus, um die Verluste vollständig auszugleichen.
Daher standen den Bürgermeistern in diesen Gebieten meist nur zwei Hebel zur Verfügung, um ihre Haushalte auszugleichen: Kürzungen der freiwilligen Ausgaben (d. h. der Investitionen sowie des Verwaltungspersonals im öffentlichen Sektor) und, wo möglich, eine Erhöhung der lokalen Staatsverschuldung. Dies führte zu der in Abbildung 4 dargestellten Situation: eine recht komfortable finanzielle Situation florierender lokaler Gemeinschaften, die von der Globalisierung profitierten, da sie über den richtigen, exportorientierten Branchenmix verfügten. Diese „Gewinner“ haben ein akzeptables Investitionsniveau und überhaupt keine lokale Staatsverschuldung. Auf der anderen Seite des Spektrums kämpften viele Kommunen mit einer hohen lokalen Staatsverschuldung, schweren Kürzungen der Investitionsbudgets und damit erheblichen Lücken in der Quantität und Qualität der lokalen öffentlichen Güter.
Neue fiskalpolitische Argumente
Zwar blieb das Leitparadigma der deutschen Finanzpolitik bis zur Corona-Krise weitgehend intakt und wurde in der goldenen Dekade nach der globalen Finanzkrise allenfalls moderat verfeinert. Die Projektion einer alternden deutschen Bevölkerung, die gegenwärtig enge Grenzen für die öffentlichen Finanzen erfordert, war weiterhin die wichtigste Triebkraft für politische Entscheidungen. Andere Argumente, warum Deutschland eine massive öffentliche Investitionsagenda brauchte, gewannen in der akademischen und politischen Diskussion langsam an Boden. So wurde z. B. immer deutlicher, dass massive öffentliche Investitionen aus mindestens drei miteinander zusammenhängenden Gründen notwendig waren:
- Die Transformation mehrerer führender Industriesektoren im Zuge der Digitalisierung und des Klimawandels,
- die Verlangsamung des Produktivitätswachstums, die die Aussichten für die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in einer alternden Gesellschaft verschlechtert,
- die erforderlichen gemeinsamen Anstrengungen in der Europäischen Union, um im Großmachtwettbewerb mit den USA und China durch Innovation, Technologieführerschaft und Wettbewerbsfähigkeit überleben zu können.
Diese Argumente führten bisher jedoch nicht zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der Fiskalpolitik. Deutschland genoss die Verdienste des goldenen Jahrzehnts und erhöhte die Sozialausgaben. Aber die Gesellschaft war nach wie vor nicht willens oder zu selbstgefällig, eine Wende in der Fiskalpolitik zu orchestrieren. Was Deutschland während des goldenen Jahrzehnts von 2009 bis 2019 tatsächlich tat, war „zu wenig und zu spät“, um die dringendsten Probleme tatsächlich anzugehen. Dann, Anfang 2020, kam die Corona-Krise.
Finanzpolitischer Paradigmenwechsel
Es lassen sich folgende Erkenntnisse ableiten:
- Die Konsolidierungserfolge des letzten Jahrzehnts beruhen auf beschäftigungsintensivem Wachstum, niedrigen Zinsen und begrenzter Haushaltsdisziplin mit Hilfe der Schuldenbremse. Öffentliche Investitionen sind die Verlierer des Jahrzehnts.
- Die Schuldenbremse war Ausdruck eines seit den 1980er Jahren politisch und gesellschaftlich dominierenden Paradigmas des „kleinen Staates“ und der „schlanken Regierung“. Tatsächlich basierte der Entschluss der Föderalismuskommission zur Schuldenbremse 2009 auf einem breiten politischen Konsens und spiegelt somit sehr unterschiedliche wirtschaftliche Narrative wider.
- Der Pandemieschock wurde schnell beantwortet und beruhte auf einem breiten Konsens durch die Aussetzung der verfassungsmäßigen Schuldenregel. Die „schwarze Null“ scheint politisch obsolet geworden zu sein. Die Prüfung, ob sie längerfristig Bestand hat, steht noch aus. Eine Normalisierung der wirtschaftlichen Lage wird zeigen, ob sich die politischen und gesellschaftlichen Prioritäten im Sinne eines Paradigmenwechsels wirklich geändert haben.
- Wenn es einen solchen Paradigmenwechsel gibt, wird er auf zwei wesentlichen Triebkräften beruhen: erstens auf der großen Lücke bei den öffentlichen Investitionen, die vor der Pandemie zunehmend wahrgenommen und öffentlich diskutiert wurde. Angesichts des schärfsten wirtschaftlichen Strukturwandels (Dekarbonisierung, digitale Transformation, demografische Alterung, globale Desintegration) seit Jahrzehnten werden diese Defizite immer gravierender. Zweitens hat sich das Zinsumfeld grundlegend verändert, was sich wiederum auf die Durchführung der Fiskalpolitik und das fiskalische Paradigma im weiteren Sinne auswirken muss. Die Schuldenbremse wurde zu einer Zeit eingeführt, als der Zinssatz r größer als die Wachstumsrate g als „normaler“ Fall betrachtet wurde, und die umgekehrte Situation war ein unwahrscheinlicher Grenzfall. Wenn jedoch r < g aufgrund seiner Glaubwürdigkeit in Bezug auf Stabilität und als „sicherer Hafen“ als der neue Normalfall für die Deutschland angenommen werden kann, dann hat dies das Potenzial, eine grundlegende Änderung der Schuldenregulierung und der fiskalischen Regeln auszulösen.
- Verbunden mit diesem neuen Zinsumfeld ist die äußerst unkonventionelle und expansive geldpolitische Reaktion zur Beruhigung der Finanzmärkte (Pandemie-Notkaufprogramm) und die Bereitschaft, neue gemeinsame Lösungen auf europäischer Ebene zu finden (Next Generation EU). Auch das kann als Vorbote oder Treiber eines Paradigmenwechsels interpretiert werden. Die lockere Geldpolitik dürfte jedoch nicht die Haupttriebfeder für niedrige Zinsen sein, sondern eher eine Reaktion auf strukturelle Veränderungen der Spar- und Investitionsbilanz, die wiederum nur allgemeinen Druck auf die Zinssätze – und damit auf das Marktumfeld, in dem Zentralbanken operieren – ausüben.
- Ein spezifisches Problem der Fiskalpolitik in Deutschland betrifft den Fiskalföderalismus. Es bestehen grundlegende Ungleichgewichte, wie das Schuldenerbe der Kommunen zeigt. Bei der Schuldenbremse kann dies nur über fragwürdige Umwege (Schattenhaushalte) gelöst werden. Ein neues Fiskalparadigma müsste daher auch diese Ungleichgewichte in den kommunalen Finanzen angehen.
Förderung von transformativem Wachstum und Beschäftigung
Die Aussicht, aus der extremen Überlastung der Fiskalpolitik durch Innovation und Produktivitätssteigerung sowie durch die Schaffung von Arbeitsplätzen über einen längeren Zeitraum herauszuwachsen, sollte auf keinen Fall aufgegeben werden. Aber es ist offensichtlich, dass diese Strategie keineswegs eine sichere Wette ist. Ganz im Gegenteil, ihre Durchführbarkeit ist höchst ungewiss. Dazu bedarf es eines verlässlichen finanzpolitischen Rahmens, der die drängenden strukturellen Herausforderungen für die deutsche Wirtschaft begleitet.
Die notwendige Transformation in den Bereichen Dekarbonisierung, Digitialisierung, Forschung und Entwicklung, um dem Produktivitätsrückgang etc. entgegenzuwirken, kann nur gelingen, wenn der private Sektor (über private Investitionen) und die öffentliche Hand kooperieren. Daher muss die Fiskalpolitik diesen Herausforderungen gerecht werden.
Im deutschen Konjunkturpaket vom Juni 2020 sind fast 45 Mrd. Euro für Investitionen in Zukunftstechnologien, digitale Transformation und nachhaltige Mobilität vorgesehen. Dies ist positiv zu bewerten, reicht aber bei weitem nicht aus. Wir brauchen solche Beiträge nicht einmalig, sondern über einen längeren Zeitraum von rund zehn Jahren. Nur so besteht die Chance, die schwache Produktivitätsentwicklung der letzten Jahrzehnte umzukehren und damit die Grundlage für eine dynamische Entwicklung der Steuereinnahmen zu schaffen.
Die Entwicklung der Realzinsen in den letzten Jahrzehnten spiegelt sich auch in der schwachen Produktivitätsentwicklung wider. Vereinfacht könnte man argumentieren, dass ein jährliches staatliches (Netto-)Investitionsbudget dann nachhaltig mit Krediten finanziert werden kann, wenn es nicht einmal von der erwarteten Rendite dieser Investitionen abhängt. In Artikel 109 des Grundgesetzes, der genau dies regelt, könnte ein neuer Absatz (4) eingefügt werden: „Ein Investitionshaushalt kann auch durch Kredite finanziert werden, wenn der durchschnittliche Zinssatz von Staatsanleihen aller Laufzeiten (alternativ: mit einer Laufzeit von mindestens zehn Jahren) unter der Wachstumsrate des nominalen Bruttoinlandsprodukts im Jahr der Verabschiedung liegt. Investitionen im Sinne dieser Vorschriften sind solche, die den Bruttoanlagekapitalstock des Staates erhöhen (Bruttoanlageinvestitionen abzüglich Abgänge).“ Das Potenzial dieses Finanzierungsmodus würde einen tatsächlichen strukturellen Wandel in der Durchführung der Fiskalpolitik markieren (d. h. einen echten Paradigmenwechsel). Ob es in der Praxis tatsächlich zu einem Wechsel in diese Richtung kommt, bleibt noch abzuwarten. Wir sind jedoch der Meinung, dass der grundlegende Wandel im Zinsumfeld die Schlüsselkomponente für einen solchen grundlegenden Wandel wäre, falls er eintritt.
Flexible Schuldenbremse und Vermögenshaushalt
Es ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die Schuldenbremse auch unter normalen Bedingungen – also unabhängig von Pandemie und Krise – den Handlungsspielraum des Staates unangemessen einschränkt. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Umgang mit besonderem Investitionsbedarf und bei der Bereinigung finanzieller Altlasten auf einigen Bundesebenen. Für öffentliche Investitionen kann neben der oben skizzierten Lösung in Abhängigkeit von der Beziehung zwischen Zins- und Wachstumsrate (r/g) auch die Auslagerung in einen bestimmten Bundeshaushalt ein Weg sein. Dieser Haushalt muss jedoch privatrechtlich oder öffentlichrechtlich unabhängig sein.
Der Vermögenshaushalt des Bundes hätte die Aufgabe, die notwendige öffentliche Infrastruktur durch Bund und Länder nachhaltig und nach den jeweiligen technischen Standards bereitzustellen: Grundlage hierfür könnte ein Infrastrukturplan des Bundes sein, der alle Infrastrukturnetze einschließlich der kommunalen Knotenpunkte und länderspezifischen Hubs erfasst.
Schwieriger ist die Frage, wie das Schuldenerbe der Kommunen gelöst werden kann. Denn die Übertragung der Schulden der Gemeinden auf die Länder oder den Bundeshaushalt ist mit den Regeln der Schuldenbremse nicht vereinbar, obwohl der Gesamtschuldenstand unverändert bleibt. Solche Transaktionen sollten jedoch möglich sein, wenn der Verantwortung der Länder für ihre Gemeinden Rechnung getragen werden soll. Der Fall, der zu einer Haushaltsnotlage eines Bundeslandes führt, wäre analog zu beurteilen. Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen für die Sanierung bei einer Haushaltsnotlage sind nicht mehr möglich. Zu erwägen wäre hier eine Ergänzung der Schuldenbremse durch eine Ausweichklausel, die eine reine Verschiebung zwischen den Bundesebenen ohne Veränderung der Schuldenhöhe als irrelevant erachtet.
Reform der europäischen Fiskalregeln
Die Bedingungen der Europäischen Währungsunion bleiben für Deutschland als den anerkannten Stabilitätsanker wichtig. Allerdings wäre niemandem in der Eurozone geholfen, wenn alle Mitgliedstaaten nach der Pandemie überstürzt handeln und gleichzeitig mit der Konsolidierung ihrer Haushalte beginnen würden.
Dieses Problem kann zum einen dadurch gelöst werden, dass die Fristen für die Wiedererlangung der Maastricht-Konformität auf mindestens 15 bis 20 Jahre verlängert werden. Zum anderen sind lange Zeithorizonte für die obligatorische Schuldentilgung im Rahmen der deutschen Schuldenbremse erforderlich. Nach den geltenden Regeln muss die Rückzahlung „konjunkturgerecht“ erfolgen. Es gibt keinen historischen Präzedenzfall dafür, was genau dieser Begriff in der Praxis bedeutet. Aber angesichts der Tatsache, dass das Herauswachsen aus der Verschuldung nach der Corona-Krise höchstwahrscheinlich schwieriger sein wird als in der goldenen Dekade nach der globalen Finanzkrise, ist es dringend erforderlich, entsprechend lange Zeithorizonte einzuplanen. Andernfalls besteht die reale Gefahr, dass fiskalische Regeln fiskalische Sparmaßnahmen diktieren, was das Ziel der Schuldenkonsolidierung konterkarieren kann.
Auf der anderen Seite kann ein zusätzliches Investitionsbudget aufgestellt werden, möglicherweise auf der Grundlage der Beschlüsse zur EU der nächsten Generation (Next Generation EU). Dieser wird im Wesentlichen durch Anleihen der EU finanziert. Diese Anleihen sollten eine sehr lange Laufzeit haben und auf einer revolvierenden Basis finanziert werden. Systematischer: Gemeinsame Investitionsprojekte – Infrastrukturnetze, Forschung und Entwicklung (z. B. Pharmazeutika, künstliche Intelligenz) – sollen künftig in einem separaten, aber regulären zweiten EU-Haushalt über EU-Anleihen finanziert werden. Europa würde zu einer Investitionsunion.
Dieser Aufsatz basiert auf einer am 29. September 2020 auf der Tagung des Forum New Economy vorgestellten Studie „How to redesign German fiscal policy rules after the Covid19 pandemic“ im Auftrag der European Climate Foundation und des Forum New Economy.
Literatur
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Dauth, W., S. Findeisen und J. Suedekum (2014), The Rise of the East and the Far East: German Labor Markets and Trade Integration, Journal of European Economic Association, 12(6), 1643-1675, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/jeea.12092 (8. Oktober 2020).
DENA (2018), dena-Leitstudie Integrierte Energiewende: Impulse für die Gestaltung des Energiesystems bis 2050.
Deutscher Bundestag (1998), „Schlanker Staat“: Die nächsten Schritte, Bundestagsdrucksache 13/10145 vom 19. März.
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KfW Bankengruppe (2019), KfW-Kommunalpanel 2019.
Krebs, T. und M. Scheffel (2016), Lohnende Investitionen, ifo-Schnelldienst, 68(22), 12-14.
SVR (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung) (1989), Schlanker Staat, Abschlussbericht.
SVR (1991/1992), Jahresgutachten 1991/92, Ziffer 259: „Seit dem 3. Oktober 1990 ist die Bundesrepublik eine andere, als sie es vordem war; auch in den alten Bundesländern ist damit ein Umdenken gefordert.“
SVR (2007), Staatsverschuldung wirksam bekämpfen, https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/Expertisen/Staatsverschuldung_wirksam_begrenzen.pdf (8. Oktober 2020).