Die Lage der öffentlichen Finanzen in Deutschland war in den vergangenen Jahren tatsächlich ungewöhnlich gut. Seit 2012 weist der Gesamtstaat in der Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) ununterbrochen einen Überschuss aus; seit 2014 auch der Bund. In der für den Bundeshaushalt unmittelbar relevanten finanzstatistischen Abgrenzung gelingt dem Bund seit 2014 permanent die Einhaltung der „schwarzen Null“, also ein Haushalt ohne Nettokreditaufnahme, wobei sich in der Haushaltsabrechnung zumeist noch unerwartete zusätzliche Überschüsse einstellten, die dann größtenteils in die regelmäßig wachsende sogenannte Flüchtlingsrücklage flossen, die Ende 2019 bereits mit 48,2 Mrd. Euro gefüllt war. Die Staatseinnahmenquote ist darüber hinaus im historischen Vergleich mit 46,7 % sehr hoch und liegt noch leicht über dem Niveau vom Ende der 1990er Jahre. Vor diesem Hintergrund werden Rufe nach zum Teil drastischen Steuersenkungen laut.1
Allerdings könnten sich solche Rufe als vorschnell erweisen. Die Notwendigkeit von Steuersenkungen folgt nicht gleichsam automatisch aus dem Erreichen bestimmter Schwellenwerte für Einnahmequoten oder Haushaltsüberschüsse. Vielmehr sollte der Entscheidung für oder gegen Steuersenkungen eine Gesamtabwägung anhand vieler Kriterien, unter anderem fiskalischer, allokativer, verteilungspolitischer und stabilisierungspolitischer Art vorangehen. In diesem Sinne argumentiert der vorliegende Beitrag, dass
- die fiskalischen Bedarfe wegen bestehender großer Ausgabenbedarfe hoch sind, was gegen kräftige Steuersenkungen spricht;
- bestehende Rücklagen aus Überschüssen der Vergangenheit nicht für laufende, sondern nur für vorübergehende Ausgabenerhöhungen/Steuersenkungen verwendet werden sollten;
- es sehr unsicher ist, ob die gegenwärtigen „strukturellen“ Überschüsse sich tatsächlich als dauerhaft erweisen werden;
- daher bei eventuellen Steuerreformen möglichst keine deutlichen Nettoentlastungen, aber eine progressive Ausgestaltung angestrebt werden sollte.
Ausgabenbedarfe hoch
Falls die Einnahmen so hoch bleiben sollten, dass dauerhaft Überschüsse im gesamtstaatlichen Haushalt generiert würden, spräche dies nicht automatisch für Steuersenkungen. Alternativ könnten auch die Staatsausgaben erhöht werden. In diesem Zusammenhang ist relevant, dass die Staatsausgaben in Relation zum BIP in den letzten Jahren zwischen 44 % und 45 % lagen. Das sind 2 bis 3 Prozentpunkte unterhalb der Werte von Ende der 1990er und der frühen 2000er Jahre. Infolge der Wirtschaftskrise von 2001 bis 2005 und der drastischen rot-grünen Steuersenkungen innerhalb dieses Zeitraums kam es von 2003 bis 2007 zu drastischen Ausgabenkürzungen, sodass die Ausgabenquote von gut 48 % auf nur noch gut 43 % regelrecht abstürzte.2 Würde die Staatsausgabenquote wieder leicht angehoben, wäre dies also im historischen Vergleich keineswegs ungewöhnlich.
Allerdings stellt eine solche leichte Ausweitung der Staatstätigkeit keinen Selbstzweck dar, sondern sollte durch entsprechende Bedarfe gerechtfertigt sein. Diesbezüglich scheint sich in letzter Zeit ein weitgehender Konsens abzuzeichnen, dass insbesondere bei den öffentlichen Investitionen ein erheblicher zusätzlicher Bedarf besteht. Dabei ist klar, dass sich solche Bedarfe nicht objektiv ermitteln lassen, sondern stark von den jeweiligen politischen und (unterstellten) gesellschaftlichen Präferenzen abhängen. Wie Bardt et al. gezeigt haben,3 lässt sich dennoch plausibel ein zusätzlicher Bedarf an öffentlichen Investitionen in den Bereichen kommunale und überregionale Infrastruktur, Klimaschutz sowie Bildung und Wohnungsbau von über 450 Mrd. Euro innerhalb der nächsten zehn Jahre begründen. Bei aller Unsicherheit und Unterschiedlichkeit der Präferenzen, ist ein jährlicher Bedarf im mittleren zweistelligen Milliarden-Bereich (1 % des BIP und mehr) als durchaus plausibel einzustufen.4 Hinzu kommen laufende Ausgaben in der öffentlichen Planung und Instandhaltung. Solange für zusätzliche Ausgaben in solcher Dimension eine Kreditfinanzierung entweder durch die Schuldenbremse oder andere Fiskalregeln verhindert wird oder politisch nicht erwünscht ist, bleibt nur die Möglichkeit der Finanzierung über die gegenwärtig hohe oder sogar eine steigende Einnahmenquote.
Bestehende Rücklagen nur für vorübergehende Projekte nutzbar
In den zurückliegenden gesamtwirtschaftlich und fiskalisch guten Jahren hat der Bund erhebliche Rücklagen angehäuft: Die Asylbewerberrücklage beläuft sich mittlerweile auf 48,2 Mrd. Euro. Auch viele Länder haben aus den vergangenen Überschüssen Rücklagen gespeist. Schließlich hat auch die Bundesagentur für Arbeit Rücklagen in Höhe von knapp 25 Mrd. Euro gebildet. Offensichtlich kann man aber solche außerordentlichen Ressourcen nicht zur Finanzierung von dauerhaften Zwecken verwenden, seien es nun Steuersenkungen oder Ausgabenerhöhungen. Daher sollten sie nur für außerordentliche und zeitlich begrenzte Zwecke eingesetzt werden. Bei den Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit und den Konjunkturausgleichsrücklagen einiger Länder ist eine antizyklische Verwendung in konjunkturell schlechten Zeiten offensichtlich naheliegend. Auch die Kreditermächtigungen des Bundes aus der Asylbewerberrücklage könnten falls nötig für ein zeitlich begrenztes Konjunkturpaket verwendet werden. Der Bedarf für solche konjunkturstützenden Verwendungen nimmt in dem Maße zu, in dem die jeweiligen Vorschriften der Schuldenbremse auf Bundes- oder Länderebene keinen ausreichenden konjunkturellen Spielraum bieten. Temporäre Überschüsse und daraus gespeiste Fonds können alternativ auch als Investitionsfonds für besondere Zwecke, wie etwa im Fall der Kommunalinvestitionsfonds oder für eine zeitlich begrenzte Aufstockung der Investitionen im Bundeshaushalt, verwendet werden.
Strukturelle Überschüsse nicht dauerhaft gesichert
Die vorangegangenen Ausführungen unterstellten implizit, dass sich die gegenwärtig beobachtbaren Überschüsse in den öffentlichen Haushalten als dauerhaft erweisen werden. Eine solche Hoffnung mag durch die Aussage genährt werden, dass der gesamtstaatliche Haushalt bis 2019 auch strukturell, d. h. um konjunkturelle und Einmaleffekte bereinigt, erhebliche Überschüsse auswies. So wies der gesamtstaatliche Haushalt nach Schätzungen des Sachverständigenrates 2019 einen strukturellen Überschuss von 0,8 % des BIP aus. Aufgrund der einnahmen- wie ausgabenseitig expansiven Finanzpolitik ist jedoch schon in diesem Jahr mit einem Rückgang des strukturellen Überschusses auf nur noch 0,2 % des BIP zu rechnen.5 Nach der mittelfristigen Prognose des DIW Berlin dürfte der strukturelle Saldo in den kommenden Jahren dann sogar annähernd ausgeglichen sein. Neben einem spürbaren Anstieg der Staatsausgaben trägt dazu auch ein leichter Rückgang der Einnahmenquote bei, nicht zuletzt durch den für 2021 geplanten hälftigen Abbau des Solidaritätszuschlags.6 Damit wären aber die Spielräume für dauerhafte Nettoentlastungen im Rahmen von Steuerreformen bereits sehr weitgehend reduziert.
Abbildung 1
Revision des deutschen realen BIP, des „potenziellen“ BIP und der Produktionslücke

Quelle: BMWi; und eigene Berechnungen.
Hinzu kommt, dass die Methode der Konjunkturbereinigung des Haushaltssaldos sehr problematisch ist, weil es nicht überzeugend gelingt, konjunkturelle von strukturellen Einflüssen zu trennen. Die üblichen Konjunkturbereinigungsmethoden unterschätzen das Ausmaß von Konjunkturschwankungen und führen zu einer prozyklischen Politik, wenn sie zum Maßstab der Fiskalpolitik gemacht werden. Insbesondere die Methode der EU-Kommission, die grundsätzlich im Rahmen der deutschen Schuldenbremse des Bundes und vieler Länder zur Anwendung kommt, hat sich diesbezüglich als anfällig erwiesen, weil das von ihr errechnete Produktionspotenzial stark von der aktuellen Konjunkturlage beeinflusst wird.7 So wird das Produktionspotenzial in Abschwungphasen schnell und stark nach unten revidiert, während es in Aufschwungphasen entsprechend schnell nach oben gezogen wird. Die Konjunkturanfälligkeit der Berechnung des Produktionspotenzials hat sehr konkrete und gravierende Folgen für die errechneten strukturellen Haushaltssalden: Die öffentlichen Haushalte und besonders die Steuereinnahmen reagieren auf die tatsächliche wirtschaftliche Situation, also im Falle einer Abschwächung auf den tatsächlichen Rückgang des BIP im Vergleich zur Planung. Die Konjunkturbereinigung stuft dann jedoch regelmäßig nur einen Teil dieser tatsächlichen Reaktion als konjunkturell ein.
Dies lässt sich am Beispiel der Revision der gesamtwirtschaftlichen Projektion der Bundesregierung vom Frühjahr 2019 gegenüber dem Frühjahr 2018 illustrieren (vgl. Abbildung 1). Obwohl die Projektion für das tatsächliche reale BIP etwa für das Jahr 2020 um 1,7 Prozentpunkte zurückgenommen wurde, fängt die Abwärtsrevision der Produktionslücke nur einen kleinen Teil von weniger als 0,3 Prozentpunkten davon auf. Dies liegt an der Abwärtsrevision des Produktionspotenzials um 1,4 Prozentpunkte. Dies würde bei Verwendung für die Haushaltsaufstellung dazu führen, dass ein erheblicher Teil von 0,7 % des BIP (Gesamtstaat) bzw. 0,25 % des BIP (Bund) einer hypothetischen Budgetverschlechterung als strukturell eingestuft würde (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2
Auswirkung der Potenzialrevision auf den strukturellen Saldo des Gesamtstaats und des Bundes

Quelle: BMWi und eigene Berechnungen.
In diesem Umfang könnten die automatischen Stabilisatoren nicht wirken.8 Dass dieser negative Effekt sich nicht in den öffentlichen Finanzen gezeigt hat, hängt mit der Sondersituation zusammen, dass aufgrund der anhaltenden konjunkturellen Zweiteilung der Abschwung bislang kaum auf die Beschäftigung durchgeschlagen hat. Sollte sich dies ändern, würden auch die öffentlichen Finanzen stark beeinträchtigt, und der strukturelle Saldo würde sich über das in den Prognosen bislang bereits angelegte Ausmaß hinaus weiter verschlechtern, ohne dass die Finanzpolitik überhaupt weitere diskretionäre Maßnahmen beschlossen hätte. Würden die öffentlichen Finanzen durch kräftige dauerhafte Steuersenkungen belastet, drohte die Finanzpolitik dann je nach Stärke des Abschwungs schnell in eine ähnlich prozyklische Kürzungspolitik getrieben zu werden wie zu Beginn des neuen Jahrtausends.9
Aufkommensneutrale progressive Steuerreformen als Leitbild
Die Finanzpolitik sollte nicht die Fehler der Vergangenheit begehen und in einer drohenden Konjunkturkrise bei zugleich massiven öffentlichen Investitionsbedarfen die öffentlichen Finanzen durch gravierende dauerhafte Steuersenkungen belasten. Auch im Rahmen einer (annähernd) aufkommensneutralen Strategie bestehen erhebliche Reformpotenziale. So ließen sich insbesondere die Verteilungswirkungen der Besteuerung deutlich verbessern, etwa indem bei der Einkommensteuer die Einkommen im unteren und mittleren Tarifbereich entlastet und diejenigen im sehr hohen Tarifbereich etwas stärker belastet würden. Dies könnte gleichzeitig mit einer Integration der nach 2021 weitergeführten Hälfte des Solidaritätszuschlags in die Einkommensteuer verbunden werden, um das Aufkommen zu sichern, ohne weiterhin verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt zu sein. Das dadurch für Länder und Kommunen entstehende Mehraufkommen könnte gleichzeitig die dringend notwendige Ausweitung der Investitionen der Länder und vor allem der Kommunen unterstützen.
Eine Wiedererhöhung des Progressionsgrades der Besteuerung erscheint nicht zuletzt angesichts der deutlichen Zunahme der Einkommensungleichheit seit Ende der 1990er Jahre und der Tatsache, dass die Steuerreformen seit 1998 zulasten der unteren 70 % der Bevölkerung gingen, während insbesondere die oberen 10 % massiv profitierten, angezeigt.10
- 1 Siehe als Beispiel FDP-Fraktion: Steuerpolitische Reformagenda 2020-2024. Fair. Modern. Ermöglichend, https://www.fdpbt.de/sites/ default/files/2019-11/FDP_Fraktion_steuerpolitische%20Reformagenda_0.pdf (10.3.2020), in der eine bis 2024 schrittweise auf 60 Mrd. Euro jährlich anwachsende Nettoentlastung gefordert wird.
- 2 Siehe dazu A. Truger: Ökonomische und soziale Kosten von Steuersenkungen, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 154. Jg. (2009), H. 1, S. 27-46.
- 3 H. Bardt, S. Dullien, M. Hüther, K. Rietzler: Für eine solide Finanzpolitik. Investitionen ermöglichen!, IMK Report, Nr. 152, Düsseldorf 2019.
- 4 I. Schnabel, A. Truger: Eine andere Meinung, in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Den Strukturwandel meistern, Jahresgutachten 2019/20, Wiesbaden 2019, Statistisches Bundesamt, Ziffer 576.
- 5 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, a. a. O., S. 64 ff.
- 6 M. Clemens: Öffentliche Finanzen: Haushaltsspielräume verflüchtigen sich nach und nach – Investitionsprogramm wäre sinnvoll, in: DIW Wochenbericht, Nr. 50, 2019, S. 952 ff.
- 7 Siehe dazu M. Ademmer, J. Boysen-Hogrefe, K. Carstensen, P. Hauber, N. Jannsen, S. Kooths, T. Rossian, U. Stolzenburg: Potenzialschätzung und Produktionslücken – Analyse von Revisionen und Zyklizität. Gutachten des IfW Kiel für das BMWi, Kieler Beiträge zur Wirtschaftspolitik, Nr. 19, Februar 2019; sowie A. Truger, H. Will: The German ‘debt brake’: A shining example for European fiscal policy?, Revue de l’OFCE Debates and Policies, The Euro Area In Crisis, Nr. 127, 2013, S. 155-188.
- 8 Seit der Herbstprojektion hat sich die negative Produktionslücke für 2020 betragsmäßig wieder vergrößert; die Niveauwerte für das Produktionspotenzial können jedoch wegen der Generalrevision der VGR nicht mehr mit früheren Projektionen verglichen werden, weshalb hier zu Illustrationszwecken auf die etwas älteren Projektionen zurückgegriffen wurde.
- 9 Siehe hierzu bereits die kräftigen Auswirkungen bei einem relativ moderaten Abschwung in den Simulationsrechnungen für den Bundeshaushalt in: K. Rietzler, D. Teichmann, A. Truger: IMK-Steuerschätzung 2018-2022: Hohe Einnahmen, viele Vorhaben, aber keine Strategie, IMK Report, Nr. 138, Düsseldorf 2018, S. 13 ff.
- 10 Siehe dazu M. Grabka, J. Goebel, S. Liebig: Wiederanstieg der Einkommensungleichheit – aber auch deutlich steigende Realeinkommen, DIW Wochenbericht, Nr. 86 (19), Berlin 2019, S. 343-353; und S. Bach, M. Beznoska, V. Steiner: Wer trägt die Steuerlast in Deutschland? – Verteilungswirkungen des deutschen Steuer- und Transfersystems, Politikberatung kompakt 114, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin 2016.