Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Dieser Beitrag ist Teil von Welthandel unter Druck: Was tun gegen Protektionismus und Handelskriege?

Der internationale Handel galt lange Zeit als Lokomotive des Wohlstands. Freier Handel sollte nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung fördern, sondern auch zur Demokratisierung beitragen. Diese Idee war bereits im Bretton-Woods-System von 1944 verankert, dessen drei zentrale Institutionen – der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank und das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), später die Welthandelsorganisation (WTO) – als Pfeiler der internationalen Wirtschaftsordnung etabliert wurden. Die Einbindung von Ländern in den Welthandel sollte dabei helfen, westliche demokratische Werte zu verbreiten und Veränderung anzustoßen – Wandel durch Handel.

Die 1990er-Jahre können als goldene Ära dieses Denkens betrachtet werden: Mit der Gründung der WTO (1995), der Integration einst kommunistischer Staaten und der Einbindung Russlands (2012) sowie Chinas (2001) in die Welthandelsordnung blühte der globale Handel auf. Länder wie Polen und Ungarn verzeichneten durch ihre Integration in die europäische und globale Wirtschaft erhebliche Wachstumsraten (Ferenc & Ragnitz, 2024), und China erlebte ein außergewöhnliches Wirtschaftswachstum, das hunderte Millionen Menschen aus der Armut hob. Die weltweiten Wertschöpfungsketten erstarkten, und die Armut konnte zwischen 1990 und 2019 bis zum Beginn der COVID-19-Pandemie kontinuierlich reduziert werden.

Doch heute scheint der Glaube an den freien Handel verblasst zu sein. Auch der Wille des Westens, durch Handel politische Veränderungen hin zu demokratischeren Systemen zu erreichen, scheint schwächer geworden oder gar verloren gegangen zu sein. Hat die Überzeugung der Nachkriegsgeneration, Wandel durch Handel herbeizuführen, versagt? Faktoren wie das Erstarken autoritärer Regime, fehlende politische Unterstützung für Demokratien in der Entwicklung und die zunehmende Ungleichheit in einigen Ländern haben dazu beigetragen, dass der erhoffte Wandel in vielen Fällen ausblieb. Und wenn von einem Versagen des „Wandel durch Handel“ Paradigmas ausgegangen werden muss, was sind die Alternativen?

Diese Fragen stehen im Zentrum der aktuellen Debatte und zwingen uns dazu, neue Ansätze zu suchen, um wirtschaftliche und politische Transformationen in einer zunehmend fragmentierten Welt zu gestalten.

Ist eine Liberalisierung des grenzüberschreitenden Handels stets erstrebenswert?

Seit mehr als 200 Jahren befassen sich Wissenschaftler und auch Politiker mit der Frage, ob eine Nation sich einem freien Handel aussetzen soll. Diese Frage ist jedoch nicht eindimensional zu beantworten, da neben den wirtschaftlichen Auswirkungen auch institutionelle und politische Entwicklungen von Bedeutung sind. In wirtschaftlicher Hinsicht wurde die Frage ausgiebig analysiert. Eine Entfesselung des Handels führt in Summe grundsätzlich zu einer Erhöhung der Wirtschaftsleistung in teilnehmenden Nationen. Die Gründe für diese positiven Effekte können unterschiedlich sein. Länder mit technologischen Unterschieden können durch Spezialisierung und internationale Arbeitsteilung gemeinsam mehr erreichen, als wenn sie national in allen Wirtschaftsbereichen aktiv wären (Ricardo, 1817). Ebenso profitieren Länder in einer Welt unterschiedlicher Ressourcenverteilung von grenzüberschreitendem Handel, indem Kostenersparnisse durch eine Spezialisierung auf nationale Stärken erzielt werden können, die mit anderen Nationen geteilt werden (Heckscher & Ohlin, 1991). Dies bezieht sich nicht nur auf Energieressourcen, sondern auch auf technologisches Know-how, Investitionskapital und viele andere produktionsrelevante Aspekte.

In einer Welt mit zunehmenden Großkonzernen, die Märkte dominieren und nicht zwingend mit intensivem Wettbewerb konfrontiert sind, könnte man meinen, dass das wirtschaftliche Argument für Freihandel an seine Grenzen stößt. Jedoch zeigen Krugman (1979) und Melitz (2003), dass auch in einer solchen Welt die Marktkräfte zu einer zunehmenden Produktivitäts- und Wertschöpfungssteigerung führen können.

Wie verhält es sich jedoch mit diesen vermeintlich nur positiven Wirtschaftseffekten auf nationaler Ebene, wenn essentielle Faktoren wie Risiko zusätzlich berücksichtigt werden? Insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren, begleitet von globalen Öl- und Militärkrisen, wurde diese Frage zu einem zunehmend wichtigen Thema in der akademischen und politischen Debatte.

Wirtschaftliche Risiken sind kein Argument gegen den Freihandel

Bei der Frage, wie Risiken einen internationalen Freihandel beeinflussen können, ist eine Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und politischen Risiken essentiell. Eine breite Literatur zeigt zunächst, dass Freihandel in einer wirtschaftlich unsicheren Welt nicht zwingend immer zu einer Erhöhung der Wirtschaftsleistung in allen beteiligten Nationen führen muss. Wirtschaftliche Risiken beziehen sich dabei beispielsweise auf die Unsicherheiten bei Entscheidungen in Produktionsprozessen (etwa welche Energieform gewählt werden soll oder welche Getreidesamen angesichts zunehmender Umweltvolatilität genutzt werden sollen). Diese Frage wurde aufgrund der enormen Tragweite für die Handelsbeziehungen zwischen Ländern intensiv analysiert. Die wissenschaftlichen Analysen haben die aufkommenden Argumente gegen einen freien Handel unter Unsicherheit jedoch eindeutig entkräften können. Im Kern wurde festgestellt, dass ein freier grenzüberschreitender Handel von Gütern und Dienstleistungen nicht zwingend wohlfahrtssteigernd sein muss, wenn es keine globalen Finanzintermediäre und -märkte gibt, die eine Absicherung möglicher realwirtschaftlicher Risiken ermöglichen. Anders formuliert, wurde gezeigt, dass in einer Welt mit wirtschaftlichen Risiken ein internationaler realer Handel mit globalen Finanzmärkten einhergehen muss, um wirtschaftliche Ausfallrisiken absichern zu können und somit die positiven Effekte des Freihandels nicht durch Fehlanreize konterkariert werden (Helpman & Razin, 1978). Es ist daher nicht überraschend, dass gerade in den 1980er und 1990er Jahren der Freihandel einhergehend mit der Liberalisierung der internationalen Finanzmärkte zu historisch großen Wirtschaftssprüngen in der Welt geführt hat.

Die Welt sieht sich nicht nur mit wirtschaftlichen Risiken konfrontiert

Ist ein internationaler Freihandel auch in einer Welt mit politischer Unsicherheit immer vorteilhaft für das Wachstum aller Handelspartner? Diese Frage erfordert eine gründliche Analyse, bei der politische Unsicherheit aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden sollte. Eine erste Form der politischen Unsicherheit ergibt sich aus der Handels-, Geld- und Industriepolitik einzelner Nationen. Häufig versuchen politische Akteure, nationale Wirtschaftsprobleme auf andere Staaten abzuwälzen, was oft zu einseitigen Maßnahmen und Spannungen führt. Ein Beispiel aus der Geschichte sind die Reaktionen vieler Länder auf die wirtschaftlichen Herausforderungen Ende der 1920er Jahre: Viele Länder setzten auf Protektionismus und eine expansive Geldpolitik. Der Smoot-Hawley Tariff Act von 1930 in den USA, der die Zölle auf Importgüter drastisch erhöhte, ist ein bekanntes Beispiel. Gleichzeitig versuchten viele Nationen, durch expansive Geldpolitik ihre Währungen abzuwerten, um Exporte zu fördern. Diese unkoordinierten Maßnahmen verschärften die globalen wirtschaftlichen Probleme und führten zu Vergeltungsmaßnahmen anderer Länder. Die rapide Zunahme von Handelsbarrieren in den 1930er Jahren, gepaart mit expansiver Geldpolitik, führte zu einem globalen Dominoeffekt, der ein stabiles internationales Wirtschaften nahezu unmöglich machte. Versorgungsengpässe, Massenarbeitslosigkeit und Preisinstabilität waren die Folge. Dieses politische Risiko, dass einzelne Länder aus einem koordinierten internationalen Wirtschaftssystem ausscherten, stellte eine massive Bedrohung dar, nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch politisch. Die internationale Gemeinschaft versuchte mit der Gründung globaler Institutionen sicherzustellen, dass ein derartiger Protektionismus, gepaart mit Abwertungsspiralen, nicht erneut die Weltwirtschaft destabilisiert. Das Bretton-Woods-System war bisher Teil dieses institutionellen Rahmens, der geschaffen wurde, um politische Risiken in der dargestellten Form zu verhindern bzw. geordnet in Kooperation zu reduzieren oder zu eliminieren.

Zusätzlich zu den großen internationalen Institutionen gab und gibt es auch kleinere Kooperationsinitiativen, die dazu beitragen können, politische Risiken zu verringern. Ein Beispiel dafür ist das Plaza-Abkommen zwischen den USA und anderen großen Industrieländern aus dem Jahr 1985, das darauf abzielte, die Wechselkurse koordiniert anzupassen, insbesondere den US-Dollar abzuwerten. Diese koordinierte Wechselkurspolitik sollte einseitige Handelsungleichgewichte reduzieren und das Vertrauen zwischen den Nationen stärken. Diese Art von kleineren, flexibleren Abkommen ermöglicht es, auf regionale oder sektorale Unsicherheiten gezielt zu reagieren und Vertrauen zwischen den beteiligten Nationen aufzubauen. Solche Kooperationen sind ebenfalls wichtige Elemente, um das Risiko eines Zerfalls der internationalen Ordnung zu mindern und wirtschaftliche Stabilität zu fördern.

Tabelle 1 veranschaulicht, dass internationale Institutionen wie die WTO und der IWF dazu beitragen können, politische Unsicherheiten zu minimieren und langfristig stabilen Nutzen für alle beteiligten Nationen zu gewährleisten. Kooperation ist dabei der Schlüssel, um das Risiko von einseitigen Maßnahmen und deren negativen Folgen für die globale Wirtschaft zu minimieren. In einer Welt, die nicht nur von wirtschaftlichen, sondern auch von politischen Risiken geprägt ist, bleibt die Bedeutung einer gut funktionierenden internationalen Ordnung somit entscheidend für das nachhaltige Wachstum und den Wohlstand aller beteiligten Nationen.

Tabelle 1
Internationale Institutionen reduzieren Risiko
  Land B: WTO/IWF (Kooperation) Land B: Zölle (Protektionismus)
Land A: WTO/IWF (Kooperation) Langfristiger stabiler Nutzen für beide Land B gewinnt kurzfristig, Land A erleidet Handelsverluste
Land A: Zölle (Protektionismus) Land A gewinnt kurzfristig, Land B erleidet Handelsverluste Beide haben Verluste, Handelshemmnisse verhindern Wachstum

Tabelle 1 zeigt die möglichen Ergebnisse unterschiedlicher Handelsstrategien. Wenn zwei Länder kooperieren und Institutionen wie die WTO und den IWF nutzen, profitieren beide langfristig von einem stabilen Wachstum. Wenn jedoch ein Land Zölle einführt, während das andere weiterhin kooperiert, ergeben sich kurzfristige Gewinne für das protektionistische Land und Verluste für das kooperative Land. Entscheiden sich beide für Zölle, führt dies zu gegenseitigen Verlusten und verhindert langfristiges Wachstum.

Quelle: eigene Darstellung.

Freihandel, internationale Finanzmärkte und Institutionen sind nicht genug

Wenn die letzten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg der Schaffung von Institutionen und der Integration von Finanzmärkten gewidmet waren, warum wird ein international liberalisierter Handel heute zunehmend als Problem gesehen? Eine einfache Antwort darauf könnte sein, dass die Weltgemeinschaft bei den Absicherungsinstrumenten (Institutionen und Finanzmärkten) nicht ausreichend vorangekommen ist oder sogar Rückschritte gemacht hat. Diese Hypothese enthält sicherlich ein Stück Wahrheit. Bereits seit den 2010er Jahren zeichnet sich eine Schwächung der internationalen Institutionen ab. Die WTO diente immer seltener als Streitschlichtungsplattform für große Konflikte. Die EU und die USA begannen zunehmend, Maßnahmen zu ergreifen, um handelspolitische Unstimmigkeiten mit unilateralen Mitteln wie Zöllen oder Subventionen zu kompensieren. Eine weitere Strategie war der Versuch, durch neue, kleine regionale Handelsabkommen wirtschaftspolitische Bündnisse zu schließen, um die Stagnationen in der WTO zumindest regional zu kompensieren. In diesem Kontext sind die angestrebten Freihandelsabkommen der letzten Dekade zwischen den USA und der EU (TTIP), den USA und asiatischen Staaten (TPP) oder auch die EU-Südamerika-Initiativen (MERCOSUR) zu sehen.

Doch die Ursachen für den zunehmenden Protektionismus liegen tiefer und haben eine Dimension wieder aufgegriffen, die nach den 1990er Jahren an Aufmerksamkeit verloren hatte. Die global verflochtene Wirtschaftsordnung sieht sich plötzlich wieder einem politischen Systemwettbewerb ausgesetzt. Dieser neue-alte Wettbewerb führt zu einer komplexeren Risikosituation, in der geopolitische Konflikte keine Tabus mehr darstellen.

Wandel durch Handel nicht ohne eine politische Doktrin?

Wie konnte es so weit kommen, dass die Welt erneut vor einer globalen Protektionismuswelle und geopolitischen Konflikten steht? Und gibt es die Möglichkeit, eine Eskalation des Protektionismus zu verhindern? Zum Ende des Zweiten Weltkriegs hatten die politischen Akteure erkannt, dass ein freier Welthandel wirtschaftliche Anreize schaffen kann, um Nationen zur Demokratie und internationalen Kooperation zu führen. Um wirtschaftliche und politische Risiken zu kompensieren, wurden internationale Institutionen wie der IWF, die Weltbank und das GATT ins Leben gerufen, um Stabilität und eine geordnete Zusammenarbeit zu fördern.

Entscheidend ist jedoch, dass es neben diesen beiden Erkenntnissen auch eine politische Doktrin im Westen gab, nach der Staaten im Einflussbereich autoritärer Regime durch die USA und westliche Verbündete sowohl finanziell als auch militärisch unterstützt wurden, um demokratische und marktwirtschaftliche Strukturen zu fördern. Die USA setzten diesen Ansatz mit der Truman-Doktrin von 1947 bis zum Ende des Kalten Krieges 1989 um, in Form der sogenannten Containment-Politik, die darauf abzielte, die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern und den Einfluss der Sowjetunion einzudämmen (Gaddis, 2005). So wurden Schwellenländer wie Südkorea oder die Türkei neben der wirtschaftlichen Anbindung über den Welthandel auch politisch und militärisch unterstützt, um eine Demokratisierung zu erreichen. Dieser Ansatz war manchmal, wie im Fall von Südkorea, sehr erfolgreich; in anderen Ländern blieb der Erfolg jedoch vorerst aus.

Wichtig dabei war, dass Wandel durch Handel immer in Verbindung mit dem politischen Willen stand, institutionell schwach entwickelte Länder ohne demokratische Strukturen an westliche Werte und Institutionen zu binden. Die westliche Doktrin sah nicht vor, dass undemokratische Länder gleichberechtigt neben offenen westlichen Gesellschaften durch bloßen Freihandel eingebunden werden. Vielmehr sollte die wirtschaftliche Integration über den Welthandel eine politische Transformation fördern und sogar erzwingen. Der Gedanke dahinter war, dass wirtschaftliche Vorteile und Anreize der internationalen Zusammenarbeit, gepaart mit aktiver politischer Intervention, langfristig auch die politischen Systeme dieser Länder beeinflussen und zur Etablierung demokratischer Strukturen führen würden.

Heute jedoch ist dieser Ansatz ins Stocken geraten. Die globale Öffnung und wirtschaftliche Einbindung haben nicht immer die erwarteten politischen Veränderungen bewirkt. Stattdessen sehen wir, dass autoritäre Regime sogar wirtschaftlich gestärkt aus der internationalen wirtschaftlichen Integration hervorgegangen sind, ohne dass sich eine entsprechende politische Liberalisierung eingestellt hätte. Daraus resultiert die Frage, ob der Wandel durch Handel ohne politische Unterstützung, wie sie zur Zeit der Truman-Doktrin praktiziert wurde, eine zielführende Strategie ist, um eine stabile und friedliche Weltordnung zu sichern.

Die Neudefinierung des Wandels durch Handel

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Auslaufen der Truman-Doktrin entstanden im Westen neue politische Ansätze. Die Vorstellung, dass das „Ende der Geschichte“ erreicht sei (Fukuyama, 1992), gewann an Bedeutung. Es wurde davon ausgegangen, dass Staaten weltweit durch Freihandel und die Integration in internationale Finanzmärkte und Institutionen zu politischen Konvergenzprozessen gelangen würden, mit dem Ziel einer globalen Ausbreitung der Demokratie. Doch der Wegfall der gezielten politischen Intervention in nicht-demokratischen Staaten hatte einen hohen Preis und führte zu einer anderen Entwicklung als erhofft.

Länder wie Russland, China oder die Türkei erlebten ab den 2000er Jahren durch die Einbindung in das internationale Handels- und Finanzsystem historisch bedeutsame wirtschaftliche Aufschwünge. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg um über 5 %, und auch die Infrastruktur sowie Bildungsstrukturen verbesserten sich erheblich (UNCTAD, 2024). Allerdings etablierten sich parallel politische und institutionelle Strukturen, die nicht den westlichen demokratischen Vorstellungen entsprachen. Während der Freihandel die Wirtschaftsleistung in diesen Ländern verbesserte, nutzten viele autoritäre Regime die wirtschaftlichen Vorteile, um ihre Macht zu festigen und autoritäre Strukturen auszubauen.

Eine erste Reaktion des Westens auf diese Entwicklungen waren naive rein vertragliche Anforderungen (wie Menschenrechte, Zivilgesellschaft und Rechtsstaatlichkeit), wie es beispielsweise bei der EU-Osterweiterung der Fall war. Hier sollten Länder in den EU-Binnenmarkt integriert werden, um gleichzeitig die Demokratisierung voranzutreiben. Die Erwartung der EU war die Einhaltung von Menschenrechten und demokratischen Prinzipien. Doch was kann die EU oder der Westen tun, wenn politische Akteure nach der Liberalisierung der Wirtschaftsbeziehungen nicht an die vereinbarten politischen Ziele gebunden bleiben (siehe Beispiel Ungarn)?

Handel durch Wandel

Mit dem Wegfall der Truman-Doktrin wird immer deutlicher, dass ein politischer Wandel allein durch internationalen Handel eine naive Vorstellung der demokratischen Welt war. Insbesondere in zentralistisch organisierten, nicht-demokratischen Staaten wie Russland und China entstehen nun neue Konfrontationen, weil diese Länder ihrerseits internationale Handelsbeziehungen nutzen, um ihr bevorzugtes politisches System in Drittstaaten zu etablieren. Die USA versuchten bis zum Ende der Obama-Administration, diese Entwicklung durch eine neue Containment-Politik zugunsten des Westens zu beeinflussen. Mit dem Scheitern von TTIP und TPP begann jedoch eine neue Vorgehensweise: die direkte wirtschaftliche Konfrontation mit aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie China und Russland. Die zunehmende Nutzung von tarifären und nicht-tarifären Handelshemmnissen (Kinzius et al., 2019) sowie die drastische Zunahme von Sanktionen gegen Staaten verdeutlichen das Scheitern der naiven internationalen Handelspolitik nach 1990 (Yalcin, 2023).

Die westlichen Staaten hätten eine neue Form der Truman-Doktrin gebraucht, die Handel durch Wandel in nicht-demokratischen Staaten politisch unterstützt. Gerade in Schwellenländern zeigt sich, wie sehr der Wegfall einer politischen Unterstützung ein fataler Fehler war. Die Ukraine und die Türkei wurden weitgehend den Kräften des Marktes überlassen, was zur Bildung nationaler Oligarchien führte, die ohne politischen Wandel den Handel für sich nutzen konnten. Im Fall der Türkei war es ab 2006 nicht nur ein Wegfall der politischen Hinwendung zum Westen, sondern sogar eine aktive Ablehnung der politischen Zugehörigkeit – Zitat aus dem Europäischen Parlament: „Die Türkei gehört nicht zu Europa“ (Thumann, 2017).

Die Welt befindet sich wieder in einem politischen Systemwettbewerb. Es ist nicht das Ende der Geschichte, sondern der Beginn einer neuen Epoche, in der der internationale Handel Realität ist. Die Frage lautet, wie ein solcher politischer Systemwettbewerb ablaufen kann, ohne in eine globale Wirtschaftskrise und geopolitische Eskalation zu münden.

Literatur

Ferenc, G. & Ragnitz, J. (2024), „In Vielfalt vereint“ – Die wirtschaftliche Lage in den Beitrittsländern nach 20 Jahren in der EU, Wirtschaftsdienst, 104(6), 368–371.

Fukuyama, F. (1992). The End of History and the Last Man. Free Press.

Gaddis, J. L. (2005). Strategies of Containment: A Critical Appraisal of Postwar American National Security Policy. Oxford University Press.

Heckscher, E. F. & Ohlin, B. (1991). Heckscher-Ohlin Trade Theory (H. Flam & M. J. Flanders, Hrsg.). MIT Press.

Helpman, E. & Razin, A. (1978). A Theory of International Trade under Uncertainty. Academic Press.

Kinzius, L., Sandkamp, A. & Yalcin, E. (2019). Trade protection and the role of non-tariff barriers. Review of World Economics, 155(4), 603–643.

Krugman, P. R. (1979). Increasing Returns, Monopolistic Competition, and International Trade. Journal of International Economics, 9(4), 469–479.

Melitz, M. J. (2003). The Impact of Trade on Intra-Industry Reallocations and Aggregate Industry Productivity. Econometrica, 71(6), 1695–1725.

Ricardo, D. (1817). On the Principles of Political Economy and Taxation. John Murray.

Thumann, M. (2017, 7. September). Türkei: Abbruch hilft nicht. ZEIT ONLINE.

UNCTAD – United Nations Conference on Trade and Development. (2024). Online-Datenbank: UNCTADstat.

Yalcin, E. (2023). Die ökonomischen Effekte von Sanktionen – Schlagkraft, Zielerreichung, Nebeneffekte. Wirtschaftsdienst, 103(13), 15–22.

Title:Change Through Trade in the New Systems Competition – Time for a Truman Doctrine 2.0?

Abstract:This article analyses the development and challenges of international trade as a means of economic and political transformation. It examines the historical role of free trade in global integration and highlights the growing criticism of its effectiveness in the face of rising authoritarian regimes. The article underscores the necessity of political support for trade, as exemplified by the Truman Doctrine, and hypothesises that international trade, without accompanying political measures and institutional support, cannot achieve sustainable economic and political transformations.

Beitrag als PDF

© Der/die Autor:in 2024

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2024-0215

Fachinformationen über EconBiz

EconBiz unterstützt Sie bei der Recherche wirtschaftswissenschaftlicher Fachinformationen.